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Pflegekarenzgeld als Leistung bei Krankheit und als soziale Vergünstigung

HANNAHRUSSEGGER (SALZBURG)
§ 14c AVRAG; § 21c BPGG; Art 3, 4 VO (EG) 883/2004; Art 7 VO (EU) 492/2011; Art 45 AEUV
EuGH 11.4.2024 C-116/23Sozialministeriumservice
  1. Das Pflegekarenzgeld ist eine Geldleistung bei Krankheit iSd VO (EG) 883/2004.

  2. Dass das Pflegekarenzgeld (aus dem Titel der Pflegekarenz) vom Bezug österreichischen Pflegegeldes einer bestimmten Pflegestufe abhängt, ist gem Art 45 Abs 2 AEUV, Art 4 VO (EG) 883/2004 und Art 7 Abs 2 VO (EU) 492/2011 mittelbar diskriminierend und nur zulässig, wenn die Diskriminierung gerechtfertigt werden kann.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

[15] Der Kl des Ausgangsverfahrens, ein italienischer Staatsangehöriger, der seit 2013 in Österreich wohnt und arbeitet, hat gem § 14c Abs 1 AVRAG mit seinem AG für den Zeitraum vom 1.5.2022 bis zum 13.6.2022 eine Pflegekarenz vereinbart, um seinen Vater zu pflegen, der in Italien wohnhaft war.

[16] Am 10.5.2022 beantragte der Kl beim Sozialministeriumservice für den Zeitraum vom 10.5.2022 bis zum 13.6.2022 die Zuerkennung von Pflegekarenzgeld gem § 21c Abs 1 BPGG [...]. Der Vater, der nach italienischem Recht Pflegegeld bezog, hätte bei einem gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich aufgrund seines Gesundheitszustands gem § 3a BPGG Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 3 gehabt.

[...]

[18] Mit Bescheid vom 7.6.2022 wies das Sozialministeriumservice den Antrag des Kl des Ausgangsverfahrens mit der Begründung ab, dass dessen Vater kein Pflegegeld nach österreichischem Recht bezogen habe, der Bezug einer solchen Leistung an die pflegebedürftige Person gem dem maßgeblichen österreichischen Recht aber eine notwendige Voraussetzung für die Zuerkennung von Pflegekarenzgeld an die pflegende Person sei.

[19] Am 7.7.2022 erhob der Kl des Ausgangsverfahrens gegen diesen Bescheid Beschwerde an das BVwG (Österreich), das vorlegende Gericht. [...]

[26] Vor diesem Hintergrund hat das BVwG beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Handelt es sich bei Pflegekarenzgeld um eine Leistung bei Krankheit iSd Art 3 der VO 883/2004 oder allenfalls um eine andere Leistung des Art 3 der VO 883/2004?

  2. Wenn es sich um eine Leistung bei Krankheit handelt, handelt es sich bei Pflegekarenzgeld um eine Geldleistung iSd Art 21 der VO 883/2004?

  3. Handelt es sich bei Pflegekarenzgeld um eine Leistung für die pflegende Person oder die pflegebedürftige Person?

  4. Fällt daher ein Sachverhalt, in dem ein Antragsteller auf Pflegekarenzgeld, welcher italienischer Staatsangehöriger ist, in Österreich im Bundesland Oberösterreich seit 28.6.2013 dauerhaft wohnhaft ist, in Österreich im selben Bundesland seit 1.7.2013 durchgehend beim selben DG arbeitet – somit kein Hinweis auf eine Grenzgängereigenschaft beim Antragsteller gegeben ist – und eine Pflegekarenz zur Pflege des Vaters, welcher italienischer Staatsbürger ist und dauerhaft in Italien (Sassuolo) wohnt, für den verfahrensrelevanten Zeitraum 1.5.2022 bis 13.6.2022 mit dem DG vereinbart und von der belangten Behörde ein Pflegekarenzgeld begehrt, in den Anwendungsbereich der VO 883/2004?

  5. Steht Art 7 der VO 883/2004 bzw das Diskriminierungsverbot in den verschiedenen europarechtlichen Ausführungen [...] einer nationalen Regelung entgegen, welche die Leistung des Pflegekarenzgeldes davon abhängig macht, dass seitens der pflegebedürftigen Person österreichisches Pflegegeld ab der Stufe 3 bezogen wird? [...]

Zu den Vorlagefragen 1 bis 4

[27] Mit den Fragen 1 bis 4, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Begriff „Leistungen bei Krankheit“ iS von Art 3 Abs 1 lit a der VO 883/2004 dahin auszulegen ist, dass er ein Pflegekarenzgeld an einen AN umfasst, der gegen Entfall des Arbeitsentgelts zur Betreuung oder Pflege eines nahen Angehörigen, der in einem anderen Mitgliedstaat Pflegegeld bezieht, karenziert wird. Für den Fall der Bejahung dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine solche Leistung unter den Begriff der „Geldleistung“ iS dieser VO fällt. [...]

[33] Nach stRsp kann eine Leistung somit als Leistung der sozialen Sicherheit angesehen werden, wenn sie erstens den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit gewährt wird und sich zweitens auf eines der in Art 3 Abs 1 der VO 883/2004 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht. [...]

[35] Im vorliegenden Fall ist diese erste Voraussetzung offensichtlich erfüllt, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung gem § 21c Abs 1 letzter Satz BPGG automatisch gewährt wird, wenn sich der Antragsteller in Pflegekarenz befindet, ohne dass das Sozialministeriumservice andere persönliche Umstände des Antragstellers berücksichtigt.

[36] Hinsichtlich der zweiten oben in Rn 33 genannten Voraussetzung spricht Art 3 Abs 1 lit a 22 der VO 883/2004 ausdrücklich von „Leistungen bei Krankheit“ [...].

[37] In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof entschieden, dass durch die Pflegebedürftigkeit der Person entstandene Kosten, die die Behandlung der Person und/oder die Verbesserung ihres Alltags betreffen, [...] „Leistungen bei Krankheit“ iSd genannten Art 3 Abs 1 lit a gleichzustellen sind, sofern solche Kosten darauf abzielen, den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen der pflegebedürftigen Personen zu verbessern [...].

[38] Im vorliegenden Fall beruht die Zuerkennung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Pflegekarenzgeldes zwar auf der AN-Eigenschaft der pflegenden Person. Allerdings hängt sie zum einen davon ab, dass die pflegebedürftige Person nach österreichischem Recht Pflegegeld einer bestimmten Pflegestufe bezieht.

[39] Zum anderen zielt das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Pflegekarenzgeld [...] offensichtlich ebenfalls und hauptsächlich darauf ab, der pflegenden Person die Erbringung der Pflege zu ermöglichen, die aufgrund des Gesundheitszustands der pflegebedürftigen Person erforderlich ist, so dass es letztlich vor allem dieser Person zugutekommt.

[40] Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Pflegekarenzgeld unter den Begriff „Leistungen bei Krankheit“ [...] fällt.

[41] Hinsichtlich der weiteren Frage, ob diese Leistung als „Geldleistung“ iS dieser VO zu qualifizieren ist, ist klarzustellen, dass sie aus einem festen Geldbetrag besteht, der regelmäßig an die pflegende Person ausbezahlt wird, ohne dass der tatsächliche Pflegeaufwand berücksichtigt wird; sie soll den durch die Pflegekarenz entstehenden Gehaltsverlust ausgleichen und die sich aus dieser Karenz ergebenden Kosten abfedern.

[42] Hierzu ergibt sich aus der Rsp des Gerichtshofs, dass die Tragung der Versicherungsbeiträge eines Dritten [...] selbst als Geldleistung qualifiziert werden muss, da sie in dem Sinne zum eigentlichen Pflegegeld akzessorisch ist, als sie die Inanspruchnahme von Pflege erleichtern soll (vgl idS Urteil vom 8.7.2004, Gaumain-Cerri und Barth, C-502/01 und C-31/02, EU:C:2004:413, Rn 27).

[43] Folglich ist das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Pflegekarenzgeld, das zum eigentlichen Pflegegeld akzessorisch ist, ebenfalls als „Geldleistung“ [...] zu qualifizieren. [...]

Zur Vorlagefrage 5

[...]

[49] Unter Berücksichtigung aller vom vorlegenden Gericht ausgeführten Gesichtspunkte ist daher davon auszugehen, dass dieses mit Frage 5 im Wesentlichen wissen möchte, ob Art 45 Abs 2 AEUV, Art 4 der VO 883/2004 und Art 7 Abs 2 der VO 492/2011 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaates entgegenstehen, mit der die Zuerkennung von Pflegekarenzgeld davon abhängig gemacht wird, dass die pflegebedürftige Person nach dem Recht dieses Mitgliedstaates Pflegegeld einer bestimmten Stufe bezieht.

[50]Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art 4 der VO 883/2004 entsprechend Art 45 AEUV

die Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit ohne Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit dadurch sicherstellen soll, dass er alle Diskriminierungen beseitigt, die sich insoweit aus den nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben. Zum anderen stellt Art 7 Abs 2 der VO 492/2011 klar, dass ein AN, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießt wie die inländischen AN (vgl idS Urteil vom 16.6.2022, Kommission/Österreich [Indexierung von Familienleistungen], C-328/20, EU:C:2022:468, Rn 93 und 94 sowie die dort angeführte Rsp).

[51] Der durch Art 7 Abs 2 der VO 492/2011 auf AN, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, erstreckte Begriff der „sozialen Vergünstigung“ umfasst alle Vergünstigungen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen AN im Allgemeinen gewährt werden [...].

[52] Des Weiteren ergibt sich aus der Rsp des Gerichtshofs, dass bestimmte Leistungen sowohl Leistungen bei Krankheit iS von Art 3 Abs 1 lit a der VO 883/2004 als auch soziale Vergünstigungen iS von Art 7 Abs 2 der VO 492/2011 bilden können (vgl idS Urteil vom 16.6.2022, Kommission/Österreich [Indexierung von Familienleistungen], C-328/20, EU:C:2022:468, Rn 96 und die dort angeführte Rsp).

[53] Der Umstand, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Pflegekarenzgeld [...] vor allem der pflegebedürftigen Person zugutekommt, wirkt sich folglich nicht darauf aus, dass es auch als „soziale Vergünstigung“ iS von Art 7 Abs 2 der VO 492/2011 zu qualifizieren ist, da es den Lebensunterhalt eines AN sicherstellen soll, der während seiner Karenzierung keiner beruflichen Tätigkeit nachgeht und somit kein Entgelt erhält.

[54] Dies gilt umso mehr, als [...] sowohl Art 4 der VO 883/2004 als auch Art 7 Abs 2 der VO 492/2011 den in Art 45 AEUV verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit konkretisieren. Daher sind diese beiden Bestimmungen grundsätzlich in gleicher Weise und im Einklang mit Art 45 AEUV auszulegen (Urteil vom 16.6.2022, Kommission/Österreich [Indexierung von Familienleistungen], C-328/20, EU:C:2022:468, Rn 98).

[55] Vor diesem Hintergrund stellt eine auf dem Wohnsitz beruhende Unterscheidung, die sich stärker zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirken kann, da Gebietsfremde meist Ausländer sind, nach der Rsp des Gerichtshofs eine mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar, die nur dann zulässig wäre, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 16.6.2022, Kommission/Österreich [Indexierung von Familienleistungen], C-328/20, EU:C:2022:468, Rn 99 und die dort angeführte Rsp).

[56] Im vorliegenden Fall setzt die Zuerkennung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Pflegekarenzgeldes [...] voraus, dass die pflegebedürftige Person nach österreichischem Recht Pflegegeld ab der Stufe 3 bezieht. Das Pflegekarenzgeld 23 wird also nur zuerkannt, wenn die österreichischen Behörden für die Auszahlung des Pflegegeldes an die pflegebedürftige Person zuständig sind. Folglich ist die direkte Verbindung mit dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts der pflegebedürftigen Personen als erwiesen anzusehen.

[57] Daraus folgt, dass die Akzessorietät des Pflegekarenzgeldes zum nach Maßgabe des anwendbaren österreichischen Rechts gewährten Pflegegeld geeignet ist, Wander-AN wie den Kl des Ausgangsverfahrens, dessen Vater in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaft war, stärker zu beeinträchtigen als österreichische Staatsbürger, deren Familie, insb deren Eltern, idR ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich haben.

[58] Dieser akzessorische Charakter des Pflegekarenzgeldes führt somit zu einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, die nur zulässig ist, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist.

[59] Hierzu hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass eine solche mittelbare Diskriminierung dann gerechtfertigt ist, wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährUrteil vom 16.6.2022, Kommission/Österreich [Indexierung von Familienleistungen], C-328/20Urteil vom 16.6.2022, Kommission/Österreich [Indexierung von Familienleistungen], C-328/20, EU:C:2022:468, Rn 104 und die dort angeführte Rsp). [...]

[61] Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die VO 883/2004 kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit schafft, sondern unterschiedliche nationale Systeme bestehen lässt. Die Mitgliedstaaten sind weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig [...].

[62] Soweit [...] die Pflegestufe Aufschluss über den Pflegeaufwand geben kann, den die pflegebedürftige Person benötigt, was gegebenenfalls mit sich bringt, dass die pflegende Person nicht in der Lage ist, ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, erscheint das Ziel, die Zuerkennung von durch die öffentliche Hand finanzierte Leistungen auf Fälle ab der Pflegestufe 3 zu begrenzen, legitim.

[63] Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Voraussetzung für den Bezug von Pflegegeld ab der Stufe 3 auch dann als erfüllt gilt, wenn das Pflegegeld nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates bezogen wird. Insoweit ist hervorzuheben, dass Art 5 der VO 883/2004, gelesen im Licht des neunten Erwägungsgrundes dieser VO, den in der Rsp entwickelten Grundsatz der Gleichstellung von Leistungen, Einkünften und Sachverhalten verankert [...].

[64] Gleichwohl ist es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, [...] zu beurteilen, ob im Hinblick auf die oben in Rn 59 genannten, nach Unionsrecht zulässigen Rechtfertigungsgründe, [...] der akzessorische Charakter des in Rede stehenden Pflegekarenzgeldes im Verhältnis zum nach österreichischem Recht gewährten Pflegegeld ab der Stufe 3 gerechtfertigt sein kann. Die [...] in Rede stehende mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit kann nur gerechtfertigt sein, wenn sie dazu dient, das mit ihr verfolgte Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen [...], was ebenfalls vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist. [...]

ANMERKUNG

In der gegenständlichen E hat sich der EuGH mit der Einordnung des Pflegekarenzgeldes aus dem Titel der Pflegekarenz in das Gefüge des europäischen Sozialrechts beschäftigt. Diese Rechtsfrage ist insofern spannend, als sich zum einen auch die nationale Gerichtsbarkeit vor nicht allzu langer Zeit mit dem Pflegekarenzgeld (aber: aus dem Titel der Familienhospizkarenz) in einem europäischen Sachverhalt auseinandergesetzt hat (VwGH 20.12.2022, Ra 2021/08/0061). Zum anderen handelt es sich beim Pflegekarenzgeld um eine Leistung für pflegende Angehörige, von denen es in Österreich einige weitere Leistungen gibt und auf welche sich die Rechtsfrage ebenfalls auswirken könnte. Inwiefern das Urteil diesbezüglich tatsächlich Licht ins Dunkel bringt, soll den Schwerpunkt dieser Besprechung bilden.

Zum Zwecke des besseren Verständnisses des gegenständlichen Urteils werden dabei zunächst kurz die Grundlagen zum Pflegekarenzgeld in Erinnerung gerufen, bevor das Urteil in die Rechtsprechungslinie des EuGH eingeordnet wird und eine kritische Auseinandersetzung mit der Entscheidung und ihren Konsequenzen folgt.

1.
Pflegekarenzgeld in Österre

Das Pflegekarenzgeld (§ 21c BPGG) ist eine Sozialleistung mit Einkommensersatzfunktion (ErläutRV 2407 BlgNR 24. GP 1), die sich der Höhe nach am Arbeitslosengeld orientiert und auf die ein Rechtsanspruch besteht. Der Anspruch darauf kann sich dabei aus verschiedenen (arbeitsrechtlichen) Titeln mit jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen ergeben (Pflegekarenz gem § 14c AVRAG, Pflegeteilzeit gem § 14d AVRAG, Familienhospizkarenz gem §§ 14a, 14b AVRAG sowie Freistellung zur Begleitung von Kindern bei einem Rehabilitationsaufenthalt gem § 14e AVRAG). Im zu besprechenden Urteil war das Pflegekarenzgeld aus dem Titel der Pflegekarenz (§ 21c Abs 1 BPGG) verfahrensgegenständlich. Voraussetzung für das Pflegekarenzgeld aus diesem Titel ist das Vorliegen einer Pflegekarenz (näher dazu Rußegger, Welche Pflegeleistungen gibt es eigentlich? ÖZPR 2024/38, 79 [80]) und eine bereits für drei Monate ununterbrochen bestehende Vollversicherung in Österreich (§ 21c Abs 1 und 2 BPGG). Das Pflegekarenzgeld steht dem pflegenden AN bei Erfüllung dieser Voraussetzungen grundsätzlich für drei Monate zu und ist pro pflegebedürftiger Person mit sechs Monaten beschränkt, sodass pro pflegebedürftiger Person zwei AN eine Pflegekarenz mit Pflegekarenzgeld beanspruchen könnten. Die Zuständigkeit für das Pflegekarenzgeld liegt gem § 21d Abs 1 BPGG beim Sozialministeriumservice. 24 Dieses entscheidet zunächst mittels Mitteilung. Auf Verlangen der antragstellenden Person binnen vier Wochen ab Zustellung der Mitteilung hat das Sozialministeriumservice aber einen Bescheid zu erlassen, gegen welchen Beschwerde an das BVwG erhoben werden kann. Wie auch bei den anderen Pflegeleistungen in Österreich handelt es sich beim Pflegekarenzgeld um eine steuerfinanzierte Sozialleistung. Die Aufwendungen für das Pflegekarenzgeld aus dem Titel der Pflegekarenz werden vom Sozialministerium vorfinanziert und diesem anschließend durch das Finanzministerium ersetzt (§ 21c Abs 6 BPGG).

2.
Pflegekarenzgeld im Unionsrecht
2.1.
C-116/23 in der Rechtsprechungslinie des EuGH

Pflegeleistungen im Allgemeinen sind vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 (im Folgenden: Koordinierungs-VO) nicht explizit umfasst, wurden aber bereits im Jahre 1998 vom EuGH den (erfassten) Leistungen bei Krankheit gleichgestellt (EuGH 5.3.1998, C-160/96, Molenaar). Im Rahmen dieser Rsp hat der EuGH auch früh klargestellt, dass dies sowohl für Pflegeleistungen an die pflegebedürftige Person als auch für Leistungen an die pflegende Person gilt (EuGH 8.7.2004, C-502/01 und C-31/02, Gaumain-Cerri und Barth). In grenzüberschreitenden Sachverhalten ist daher auch bei Pflegeleistungen das Sozialrecht der Union zu beachten. Neben der Koordinierungs-VO spielen dabei auch im Bereich der Pflegeleistungen die Freizügigkeits-VO sowie die diesen beiden Verordnungen zugrundeliegenden primärrechtlichen Freizügigkeitsbestimmungen eine Rolle, was der EuGH auch im zu besprechenden Urteil in der Rs Sozialministeriumservice zum Ausdruck gebracht hat. Bei diesem Urteil handelt es sich insgesamt um das dritte Urteil des EuGH zu Leistungen für pflegende Personen (EuGH Rs Gaumain-Cerri und Barth; EuGH 18.10.2007, C-299/05, Kommission/Parlament und Rat), jedoch erst um das zweite Urteil, in dem sich der EuGH mit dieser Art Pflegeleistungen tatsächlich auch inhaltlich näher auseinandergesetzt hat. Das erste (inhaltliche) Urteil des EuGH in diesem Bereich erging in den verbundenen Rechtssachen Gaumain-Cerri und Barth. Im Zentrum dieser Rechtssachen stand damals die in der deutschen Pflegeversicherung vorgesehene Übernahme der Rentenversicherungsbeiträge eines Dritten, der eine pflegebedürftige Person pflegt.

Der erste Sachverhalt betraf eine Grenzgängerin, die in Deutschland arbeitete, in Frankreich wohnte und dort ihren pflegebedürftigen Sohn pflegte. Sie war in Deutschland pflegeversichert und der Sohn erhielt als Familienangehöriger deutsches Pflegegeld. Der zweite Sachverhalt war etwas anders gelagert: Er betraf eine Person mit Wohnsitz in Belgien, die eine pflegebedürftige Person an deren Wohnsitz in Deutschland pflegte. Die pflegebedürftige Person war dabei in Deutschland pflegeversichert und erhielt auch Leistungen dieser Versicherung. In beiden Fällen kam der EuGH zu dem Schluss, dass Deutschland für die Übernahme der Rentenversicherungsbeiträge zuständig sei und die Leistung weder verweigern darf, wenn die pflegende Person im Ausland wohnt, noch wenn die pflegebedürftige Person im Ausland wohnt. Diese Entscheidung des EuGH, die – soweit ersichtlich – im deutschsprachigen Raum (unverständlicherweise) nicht näher thematisiert oder gar kritisiert wurde, bildete daher für lange Zeit die einzige Grundlage für die Koordinierung von Leistungen für pflegende Angehörige und wurde großteils dahingehend verstanden, dass Leistungen für pflegende Angehörige einerseits in den Anwendungsbereich der Koordinierungs-VO fallen und sich andererseits die Zuständigkeit (auch) für diese Leistungen nach der pflegebedürftigen Person richtet. Auf nationaler Ebene ergibt sich dies aus einigen Urteilen des BVwG zum Pflegekarenzgeld, in welchen das Sozialministeriumservice den Anspruch mehrmals mit der Begründung abwies, dass Österreich mangels KV der pflegebedürftigen Person in Österreich nicht zuständig sei (BVwG 24.1.2019, W178 2211859-1/2E; BVwG 26.8.2020, W228 2232397-1/4E; BVwG 6.11.2020, W217 2235570-1/5E; BVwG 26.4.2021, W201 2213248-1/3E; BVwG 23.12.2022, W228 2260206- 1/12E; BVwG 8.3.2023, W201 2213248-1/10E). In zwei Urteilen ist das BVwG dieser Ansicht auch gefolgt (BVwG 24.1.2019, W178 2211859-1/2E; BVwG 26.4.2021, W201 2213248-1/3E). Aber auch auf europäischer Ebene wurde das Urteil in dieser Weise verstanden. Zu einigen der in einem europäischen Bericht zur Koordinierung von Pflegeleistungen beschriebenen Problemkonstellationen im Zusammenhang mit Leis tungen für pflegende Personen kann es nämlich nur kommen, wenn man davon ausgeht, dass sich die Zuständigkeit für diese Leistungen nach der pflegebedürftigen Person richtet (vgl Jorens/Spiegel [Hrsg], Coordination of Long-term Care Benefits – current situation and future prospects [Think Tank Report 2011] 37 ff). Wenngleich die Mehrheit folglich davon ausgeht, dass sich die Zuständigkeit nach der pflegebedürftigen Person richtet, finden sich auf nationaler Ebene vereinzelt Stimmen, die die Zuständigkeit für Leistungen für pflegende Angehörige an die pflegende Person knüpfen. Zu diesen gehören ua das BVwG in einer Rechtssache (BVwG 6.11.2020, W217 2235570-1/5E) sowie der Kl im Verfahren des hier gegenständlichen Urteils. Dessen Argumentation vor dem BVwG war wohl auch der Grund dafür, warum dieses dem EuGH die dritte Vorlagefrage („Handelt es sich bei Pflegekarenzgeld um eine Leistung für die pflegende Person oder die pflegebedürftige Person?“) gestellt hat. Und obwohl das BVwG in seiner Vorlage auch ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass es einen Unterschied macht, auf welche Person abgestellt wird, hat der EuGH die Frage des BVwG nicht explizit beantwortet. Damit ist nun fraglich, wie das Urteil in der Rs Sozialministerium zu verstehen ist und auf welche Person hinsichtlich der Koordinierung von Leistungen für pflegende Angehörige jetzt tatsächlich abzustellen ist. 25

2.2.
C-116/23 und seine Konsequenzen

Nachdem der EuGH die dritte Vorlagefrage nicht explizit beantwortet hat, sind zwei Auslegungen, die mit unterschiedlichen Konsequenzen verbunden sind, denkbar: Es kann hinsichtlich der Zuständigkeit für Leistungen für pflegende Angehörige entweder auf die pflegebedürftige Person (1) oder die pflegende Person (2) abgestellt werden:

(1) Für die Auslegung, wonach auf die pflegebedürftige Person abzustellen ist, spricht zunächst die bestehende Rsp des EuGH. Diese wird – wie gesagt – zumindest von der Mehrheit dahingehend verstanden, dass es dem EuGH um die pflegebedürftige Person gehen dürfte.

Darüber hinaus deutet auf diese Auslegung hin, dass der EuGH im Urteil das Vorliegen einer sozialen Vergünstigung und eine damit zusammenhängende Diskriminierung prüft, anstatt die Diskriminierungsprüfung rein nach der Koordinierungs-VO durchzuführen. Dies ist schlüssig, als nach der Koordinierungs-VO bei Auslegung nach der pflegebedürftigen Person nicht Österreich, sondern Italien zuständig gewesen wäre. Unstimmig ist in diesem Zusammenhang aber durchaus, dass sich der EuGH im Rahmen seiner Diskriminierungsprüfung auch auf Art 4 der Koordinierungs-VO stützt (vgl Rz 49) und in Folge auch noch auf eine weitere Bestimmung der Koordinierungs-VO verweist (vgl Rz 63), da diese Bestimmungen nur den zuständigen Staat binden (vgl ErwGr 11 Koordinierungs-VO; Spiegel in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [57. Lfg] Art 5 Rz 2; Schuler in Fuchs/Janda [Hrsg], Europäisches Sozialrecht8 Art 5 VO 883/2004 Rz 4). Was darüber hinaus gegen die Auslegung nach der pflegebedürftigen Person spricht, sind deren Konsequenzen. Richtet sich die Zuständigkeit nach der pflegebedürftigen Person, bedeutet dies, dass Österreich bei Zuständigkeit für die pflegebedürftige Person – aufgrund der Koordinierungs-VO – ein Pflegekarenzgeld dem Grunde nach auch an pflegende AN bezahlen muss, die möglicherweise nicht in Österreich arbeiten. Gleichzeitig ergibt sich aus dem Urteil in der Rs Sozialministeriumservice aber auch, dass das Pflegekarenzgeld eine soziale Vergünstigung ist und die Akzessorietät des Pflegekarenzgeldes Wander-AN mittelbar diskriminiert. Dies führt dazu, dass Österreich bei dieser Auslegung ein Pflegekarenzgeld zum einen grundsätzlich immer dann leisten müsste, wenn Österreich für eine pflegebedürftige Person nach der Koordinierungs-VO zuständig ist. Zum anderen müsste Österreich aber auch leisten, wenn Wander-AN, für deren pflegebedürftige Angehörige eigentlich ein anderer Staat zuständig wäre, in Österreich arbeiten und die Diskriminierung nicht gerechtfertigt werden kann. Dieses Ergebnis wäre natürlich durchaus denkbar, zumal es sich auch um zwei verschiedene Rechtsgrundlagen handelt. Nichtsdestotrotz würde dieses Ergebnis das österreichische Sozialsystem überaus stark belasten, sollte die Rechtfertigung – wie anzunehmen ist (dazu gleich noch) – nicht gelingen. Darüber hinaus würde dieses Ergebnis viele Folgefragen aufwerfen: Was wäre beispielsweise, wenn es auch in Italien eine vergleichbare Leistung gäbe? Welcher Staat wäre dann zuständig? Müssten eventuell beide Staaten die Leistung erbringen, da es sich um zwei verschiedene Rechtsgrundlagen handelt? Wie ist das Verhältnis zwischen Freizügigkeits-VO und Koordinierungs-VO?

(2) Für die Auslegung, wonach auf die pflegende Person abzustellen ist, spricht vor allem, dass diese weniger Folgefragen aufwerfen dürfte. Österreich würde Leistungen für pflegende Angehörige immer dann erbringen, wenn Österreich aufgrund der Koordinierungsregelungen für die pflegenden Angehörigen zuständig ist. Diese Auslegung würde auch bedeuten, dass ein Gleichklang zwischen Koordinierungs-VO und Freizügigkeits-VO herrschen würde, da für Wander-AN, die in Österreich arbeiten und wohnen, im Regelfall auch Österreich für Leistungen bei Krankheit nach der Koordinierungs- VO zuständig ist. Koordinierungs-VO und Freizügigkeits-VO würden daher zu dem gleichen Ergebnis führen, was auch in Einklang mit der Aussage des EuGH stehen würde, wonach Art 4 der Koordinierungs-VO und Art 7 der Freizügigkeits- VO in gleicher Weise auszulegen sind (vgl Rz 54). Bei der Auslegung nach der pflegenden Person ist es zudem schlüssig, dass sich der EuGH bei der Diskriminierungsprüfung auf Art 4 und Art 5 der Koordinierungs-VO bezieht. Ungewöhnlich ist von dieser Perspektive aus aber, dass er sich auch auf die Freizügigkeits-VO bezieht. Diese gilt als nachrangig (vgl Steinmeyer in Fuchs/Janda [Hrsg], Europäisches Sozialrecht8 Art 7 VO 492/2011 Rz 4 f) und wird vom EuGH üblicherweise nicht herangezogen, wenn die Koordinierungs-VO anwendbar ist. Gegen diese Auslegung spricht aber jedenfalls, dass der EuGH das Pflegekarenzgeld als Leistung bei Krankheit eingeordnet hat. Diese Einordnung mag aus Sicht der pflegebedürftigen Person nachvollziehbar sein, aus Sicht der pflegenden Person drängt sich diese Einordnung jedoch nicht ohne Weiteres auf und eine entsprechende Begründung, warum das Pflegekarenzgeld auch für die pflegende Person eine Leistung bei Krankheit darstellen soll, fehlt.

Betrachtet man die beiden Auslegungsvarianten, muss man im Ergebnis feststellen, dass beide Varianten über Unstimmigkeiten verfügen. Die Frage, auf welche Person hinsichtlich der Koordinierung von Leistungen für pflegende Angehörige abzustellen ist, kann daher nicht abschließend beantwortet werden. Dafür hätte der EuGH an einigen Stellen präziser auf die Vorlagefragen antworten müssen. Hält man sich diese Fragen genauer vor Augen, muss man tatsächlich zu dem Ergebnis gelangen, dass sich der EuGH wohl absichtlich nicht genau festlegen wollte. Berücksichtigt man die Konsequenzen der beiden Auslegungsmöglichkeiten, ist mE jedenfalls der zweiten Auslegungsvariante der Vorzug zu geben. Für eine abschließende Beurteilung sind aber weitere Konkretisierungen auf europäischer Ebene notwendig. Fest steht derweilen jedenfalls, dass es sich beim Pflegekarenzgeld unionsrechtlich um eine Geldleistung bei Krankheit handelt. In dieser Hinsicht kann sich das Urteil aber nur auf das Pflegekarenzgeld aus dem Titel der Pflegekarenz 26 bzw Pflegeteilzeit beziehen. Beim Pflegekarenzgeld aus dem Titel der Familienhospizkarenz oder der Freistellung zur Begleitung von Kindern bei einem Rehabilitationsaufenthalt kommt es weder auf eine Pflegebedürftigkeit noch den Bezug eines Pflegegeldes an, sodass sich die Begründung nicht auf diese Pflegekarenzgelder übertragen lässt – deren unionsrechtliche Einordnung ist folglich noch offen. Hinsichtlich des Pflegekarenzgeldes aus dem Titel der Familienhospizkarenz ist daher die Judikatur des VwGH (20.12.2022, Ra 2021/08/0061) weiterhin uneingeschränkt anwendbar.

Was sich letztlich – wie schon angeführt – jedenfalls aus der gegenständlichen E ergibt, ist, dass das Pflegekarenzgeld eine soziale Vergünstigung ist und die Akzessorietät des Pflegekarenzgeldes Wander-AN mittelbar diskriminiert. Es gilt daher – wie der EuGH richtig andeutet – zu prüfen, ob diese Diskriminierung gerechtfertigt ist. Die diesbezüglichen Ausführungen des EuGH sind aber wieder kritisch zu sehen: Wenn er ausführt, dass es legitim wäre, die Zuerkennung von durch die öffentliche Hand finanzierte Leistungen auf Fälle ab der Pflegestufe 3 zu begrenzen (Rz 62), könnte das dahingehend verstanden werden, dass die Diskriminierung gerechtfertigt ist. Einem solchen Verständnis kann nicht gefolgt werden: Denn wie der EuGH richtig ausführt, stellt die Akzessorietät des Pflegekarenzgeldes das diskriminierende Element dar. Einen gewissen Pflegebedarf (wiewohl ausgedrückt in einer österreichischen Pflegestufe) vorauszusetzen, ist hingegen nicht per se diskriminierend (der Pflegebedarf an sich ist jedenfalls unabhängig von einem Wohnort) und liegt darüber hinaus in der Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten (für die Gründe, warum Pflegestufe 3 vorausgesetzt wird, siehe Menkovic, Pflegekarenzgeld für die Pflege Angehöriger in einem anderen EU- bzw EWR-Staat? ÖZPR 2023, 132 [136]). Problematisch ist das Abstellen auf den Bezug eines österreichischen Pflegegeldes (einer bestimmten Pflegestufe) und dies kann mE nicht gerechtfertigt werden: Das finanzielle Argument, welches der EuGH ins Spiel bringt, wird daran scheitern müssen, dass faktisch keine Gefahr für das finanzielle Gleichgewicht des österreichischen Sozialsystems gegeben ist, wenn Pflegekarenzgeld an in Österreich beschäftigte AN, deren Angehörige ein ausländisches Pflegegeld beziehen, geleistet werden muss. Immerhin wohnen und arbeiten die tatsächlich Anspruchsberechtigten in Österreich und tragen durch die Zahlung von Steuern und Krankenversicherungsbeiträgen zum Erhalt des österreichischen Sozialsystems bei. Es bräuchte folglich einen anderen Rechtfertigungsgrund, wobei ein solcher prima facie nicht ersichtlich ist. Im Ergebnis ist dem EuGH daher wieder zuzustimmen: Das Pflegekarenzgeld ist auch Wander-AN zu gewähren, deren pflegebedürftige Angehörige ein ausländisches Pflegegeld beziehen, solange der Pflegebedarf der österreichischen Pflegestufe 3 (sohin einem Pflegebedarf von mehr als 120 Stunden pro Monat) entspricht. Dies gilt jedenfalls für das Pflegekarenzgeld aus dem Titel der Pflegekarenz bzw Pflegeteilzeit, wohl aber auch für die Pflegekarenzgelder aus den anderen Titeln. Hier scheint eine Übertragung der Argumentation des EuGH zur sozialen Vergünstigung unproblematisch zu sein.

Ausgehend von diesen Ergebnissen und Erwägungen wäre es inzwischen wohl auch problematisch, die koordinierungsrechtliche Zuständigkeit Österreichs für die pflegebedürftige Person als Voraussetzung für das Pflegekarenzgeld (aus allen Titeln) vorzusehen, wie der österreichische Gesetzgeber dies beim Pflegegeldanspruch normiert hat (vgl § 3a BPGG). Dies dürfte aufgrund der Freizügigkeits- VO unionsrechtswidrig sein. Vor dem gegenständlichen Urteil war dies richtigerweise noch anders zu sehen (Kain, DRdA 2023, 378 [382]).

3.
Fazit

Im Bereich der Pflegeleistungen hat der EuGH beginnend mit der Rs Molenaar basierend auf Einzelfällen ein Netz gesponnen, das – 26 Jahre später – über keine sinnvolle Systematik (mehr) verfügt. Gerade die gegenständliche E zeigt dies deutlich. Wenngleich die Ergebnisse auf den ersten Blick sehr klar erscheinen, wirft die E eine Unmenge an Fragen auf, schafft ein Auslegungsdilemma und bietet auch sonst reichlich Angriffsfläche, wobei es den Rahmen dieser Besprechung gesprengt hätte, jeden einzelnen Kritikpunkt zu beleuchten. Das Urteil zeigt auch, dass es dem EuGH nicht mehr gelingt, stimmige Lösungen aus dem Hut zu zaubern, was aber durchaus verständlich ist. Pflegeleistungen sind nun einmal anders als Leistungen bei Krankheit, was der EuGH auch selbst anerkennt (EuGH 30.6.2011, C-388/09, da Silva Martins, Rz 47 f), und Leistungen für pflegende Angehörige sind noch einmal spezieller. Pflegeleistungen nicht unter die Koordinierungs- VO zu subsumieren, hätte aber damals bedeutet, dass diese Leistungen nicht koordiniert werden, und wenn man sich den Sachverhalt aus der Rs Molenaar vor Augen hält (in Kürze: Versicherungsund Beitragspflicht ohne Leistungsanspruch), wird klar, warum das für den EuGH keine Option war. Was es heute folglich braucht, ist eine Bereitschaft auf europäischer Ebene, Pflegeleistungen inklusive der Leistungen für pflegende Angehörige zukünftig sinnvoll zu koordinieren. Dies könnte auch erfordern, Pflegeleistungen nicht mehr wie Leistungen bei Krankheit zu koordinieren, sondern eigene, auf Pflegeleistungen zugeschnittene Koordinierungsregelungen ins Leben zu rufen. Es wird jedenfalls mehr brauchen als im Reformentwurf (KOM [2016] 815 final; Allgemeine Ausrichtung des Rates vom 26.6.2018 [10295/18]) aktuell für Pflegeleistungen geplant ist. 27