7Gleitzeit: Kein Abzug von Zeitschulden bei Unmöglichkeit des Abbaus
Gleitzeit: Kein Abzug von Zeitschulden bei Unmöglichkeit des Abbaus
Resultieren bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses verbleibende Minusstunden aus einer Gleitzeitvereinbarung, so ist das Unterbleiben der Arbeitsleistung idR der Sphäre der AN zuzurechnen, da das Entstehen der Minusstunden auf seine eigenbestimmte Zeiteinteilung zurückzuführen ist. Damit erscheint ein entsprechender Gehaltsabzug prinzipiell gerechtfertigt.
Die Zurechnung von Zeitschulden zur Sphäre des AG führt hingegen dazu, dass der Anspruch auf Entgelt gem § 1155 ABGB aufrecht bleibt, obwohl keine Arbeitsleistung erbracht wurde. Das bedeutet auch, dass in diesen Fällen eine Rückforderung oder ein Abzug des Entgelts für Minusstunden bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht in Betracht kommt.
Machen es AG ihren AN unmöglich, allfällige Minusstunden im Rahmen der Gleitzeit abzuarbeiten, ist ein Ausschluss des § 1155 ABGB in diesem Umfang nach § 879 Abs 1 ABGB unwirksam.
[1] Der Kl war von 23.9.2019 bis 4.3.2022 bei der Bekl als Zusteller beschäftigt. [...] Im Arbeitsvertrag des Kl ist eine wöchentliche Normalarbeitszeit von 40 Stunden festgelegt. Weiters heißt es:
„Für Zusteller in einem Gleitzeitdurchrechnungsmodell gelten (...) die Bestimmungen der (...) „Betriebsvereinbarung gemäß § 4b AZG (...).
“ (im Folgenden: BV)
[2] Die BV lautet auszugsweise:
„A. Gleitende Arbeitszeit/ Arbeitszeitdurchrechnung(...)2. Beginn und Ende der täglichen ArbeitszeitDie Mitarbeiterinnen können den Beginn ihrer täglichen Arbeitszeit innerhalb des festgelegten Gleitzeitrahmens selbst bestimmen. Das Ende ihrer täglichen Arbeitszeit ergibt sich aus der Einhaltung der Kernzeit sowie der vollständigen Erfüllung der ihrem Arbeitsplatz zugeordneten Aufgaben. Das kann zu Übertragen in Form von Zeitguthaben (Gutstunden) und Zeitschulden (Minusstunden) in die nächste Gleitzeitperiode führen.Ungeachtet der den Mitarbeiterinnen eingeräumten Möglichkeit hat der Dienstgeber das Recht, in begründeten Einzelfällen bei betrieblichen Erfordernissen für eine ganze Organisationseinheit oder einzelne Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeitergruppen die dienstliche Anwesenheit anzuordnen, z.B. bei Schulungen oder Änderungen des Kurszuganges oder in anderen notwendigen Einzelfällen. Die Anordnung muss zumindest drei Arbeitstage im Vorhinein erfolgen.3. Gleitzeitrahmen/KernzeitDie Mitarbeiterinnen können innerhalb eines Rahmens von -10/+20 Minuten abweichend von dem für ihre Tätigkeit generell in der Zustellbasis festgelegten Dienstbeginn ihren tatsächlichen Dienstbeginn frei wählen.Die Kernzeit wird mit 4 Stunden beginnend mit dem tatsächlichen persönlichen Dienstbeginn jeder Zustellerin festgelegt.(...)Bis zum Ende der (persönlichen) Tagesarbeitszeit sind in jedem Fall die Kernzeit sowie die täglichen dienstlichen Aufgaben vollständig zu erfüllen. (...) 4. Dauer und Lage der fiktiven Normalarbeitszeit Die wöchentliche Normalarbeitszeit beträgt aufgrund der anzuwendenden Bestimmungen 40 Stunden, die auch im Durchschnitt erreicht werden soll. (...)6. Gleitzeitperiode/GleitzeitsaldenGleitzeitperiode ist der Kalendermonat.Zeitguthaben (außer jene unter Punkt A.7. genannten) und Zeitschulden sind im Rahmen der Gleitzeitperiode grundsätzlich 1:1 auszugleichen.Zeitguthaben/Zeitschulden bis zu einem Ausmaß von +/– 150 Stunden (Korridor) werden unter Berücksichtigung des zur Auszahlung gelangenden Mehrstunden-/Überstundenpauschales in die nächste Gleitzeitperiode übertragen.(...)Über den zuvor genannten Korridor hinausgehende noch offene Zeitschulden verfallen am Ende der Gleitzeitperiode.Eine Auszahlung/ein Verfall von Zeitguthaben/ Zeitschulden, die sich innerhalb des zuvor genannten Korridors bewegen, ist nicht vorgesehen (Ausnahmen siehe Punkt A.9. und A.10.)(...)9. Ausscheiden der MitarbeiterinBei Auflösung des Dienstverhältnisses sind Zeitschulden bzw. Zeitguthaben bis zum Ende des Dienstverhältnisses tunlichst auszugleichen.(...) Zeitschulden werden mit dem Normalstundensatz von auszuzahlenden Beträgen abgezogen.“
[3] Dem Kl wurde vor Dienstantritt bei seiner Einschulung vom Ausbildner gesagt, dass Zusteller vor Ende der 8-stündigen täglichen Arbeitszeit nach Hause gehen können, wenn sie ihre Zustellungen erledigt hätten. Deshalb sei das ein super Job. Der Kl führte seine Zustellungen immer sehr zügig und korrekt durch, sodass er meist eine Stunde früher fertig war. Er hatte daher fortlaufend Minusstunden auf seinem Zeitkonto. Diese Minusstunden wurden immer weiter übertragen.
[4] Der Kl übernahm zusätzlich Dienste für Kolleginnen und Kollegen, sogenannte „Mitbesorgung“. Diese Mehrstunden wurden jedoch nicht am Gleitzeitkonto erfasst, sondern als Überstunden ausbezahlt. Er wurde nie aufgefordert, länger zu bleiben, um die Arbeitszeit an der Zustellbasis „abzusitzen“, oder langsamer zuzustellen.
[5] Das Dienstverhältnis wurde einvernehmlich auf Wunsch des Kl aufgelöst. Bei Beendigung des Dienstverhältnisses wies das Zeitkonto des Kl 122,48 Minusstunden auf. In der schriftlichen Auflösungsvereinbarung werden Minusstunden nicht erwähnt. Im Vorfeld hatte die Leiterin der Zustellbasis dem Kl mitgeteilt, dass ihres Wissens bei der 54 Auflösung die Minusstunden üblicherweise nicht abgezogen werden. Im Rahmen der Lohnendabrechnung für März 2022 wurden dem Kl allerdings 1.166,01 € brutto aus dem Titel „Rückverrechnung Ist-Zeit“ in Abzug gebracht.
[6] Der Kl begehrt 1.166,01 € brutto sA, die ihm bei der Endabrechnung für Minusstunden abgezogen wurden. Der Abzug sei zu Unrecht erfolgt, da etwaige Minusstunden der Sphäre der Bekl zuzurechnen seien. Er habe weder den Beginn noch das Ende der täglichen Normalarbeitszeit frei wählen können und sei durchgehend arbeitsbereit und arbeitswillig gewesen, weshalb ihm nach § 1155 Abs 1 ABGB auch das Entgelt zustehe. Er habe die negativen Zeitsalden auch de facto nicht abbauen können. Zusatzdienste seien extra verrechnet und im Folgemonat als Überstunden ausbezahlt worden. In der Auflösungsvereinbarung werde ein möglicher Gehaltsabzug nicht erwähnt. Darin sei ein Verzicht der Bekl auf die Rückverrechnung von Minusstunden zu erblicken.
[7] Die Bekl bestreitet. Der Gehaltsabzug sei aufgrund von Zeitschulden des Kl zulässig erfolgt. Der Kl sei im Briefzustelldienst in einem Gleitzeitdurchrechnungsmodell beschäftigt gewesen. [...]
[8] Der Kl habe sich im Arbeitsvertrag zu einer Tätigkeit im Umfang von 40 Stunden pro Woche verpflichtet. Die Zustellrayons seien so bemessen, dass sie im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung, also im Durchschnitt in 40 Stunden pro Woche, „bedient“ werden könnten. Der Kl hätte daher das Arbeitstempo so zu wählen gehabt, dass im Schnitt die volle geschuldete Arbeitszeit aufgewendet werde. Wenn Zusteller:innen diese durchschnittliche Arbeitszeit dauerhaft und signifikant unterschritten, leide darunter entweder deren Gesundheit oder die Zustellqualität. Der Kl habe mit seinem Vorgehen weisungswidrig gehandelt, wodurch es zu den Minusstunden gekommen sei. Diese seien bei Beendigung des Dienstverhältnisses entsprechend der BV abgezogen worden.
[9] Das Erstgericht gab der Klage (mit Ausnahme eines Teils des Zinsenbegehrens) statt. [...]
[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl gegen den klagsstattgebenden Teil dieser Entscheidung nicht Folge. [...]
[14] Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig, aber nicht berechtigt.
[15] 1. Nach § 1155 Abs 1 Satz 1 ABGB gebührt dem DN auch für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen sind, das Entgelt, wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seite des DG liegen, daran verhindert worden ist.
[16] 2. Maßgeblich ist, wessen Sphäre der Grund für das Unterbleiben der Arbeitsleistung zuzurechnen ist. Zur Sphäre des AG gehören generell alle die Dienstverhinderung auslösenden Ereignisse und Umstände, welche die Person des AG, sein Unternehmen, Organisation und Ablauf des Betriebes, die Zufuhr von Rohstoffen, Energien und sonstigen Betriebsmitteln, die erforderlichen Arbeitskräfte, die Auftragslage und Absatzlage sowie die rechtliche Zulässigkeit der betrieblichen und unternehmerischen Tätigkeit betreffen (RIS-Justiz RS0021631).
[17] 3. In der Literatur werden „Zeitschulden“ bspw dann der AG-Sphäre zugerechnet, wenn das Unterbleiben der Arbeitsleistung auf eine im betrieblichen Interesse liegende Arbeitszeiteinteilung zurückgeht, etwa bei Ausgabe von Dienstplänen (Heilegger in Gasteiger/Heilegger/Klein, AZG7 § 19f Rz 2) oder wenn der AG den AN wegen schlechter Auslastung des Unternehmens aufgrund schwacher Auftragslage zu wenig oft zum Dienst einteilt (Posch/Haas, Endabrechnung – Auswirkung von Gehaltserhöhungen auf Zeitguthaben und Abrechnung von Zeitschulden [Stand August 2023, Lexis Briefings in lexis360.at]; Sabara, ARD 6012/7/2009; vgl auch Kronberger/Kraft, Kompaktes Wissen rund um die Rückzahlung von Arbeitslohn [Teil 2], PVP 2023/38, 140 [141]).
[18] 4. Die Zurechnung zur Sphäre des AG führt dazu, dass der Anspruch auf Entgelt aufrecht bleibt, obwohl keine Arbeitsleistung erbracht wurde. Das bedeutet auch, dass in diesen Fällen eine Rückforderung oder ein Abzug des Entgelts für Minusstunden bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht in Betracht kommt (vgl etwa Schindler in Gruber-Risak/Mazal [Hrsg], Arbeitsrecht: System- und Praxiskommentar [40. Lfg 2022] Kapitel XX Rz 26; Heilegger in Gasteiger/Heilegger/Klein, AZG7 § 19f Rz 2; Morgenstern, Gehaltsabzug für „Minusstunden“ zulässig? PV-Info 5/2009, 27).
[19] 5. Resultieren bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses verbleibende Minusstunden dagegen aus einer Gleitzeitvereinbarung, nach der der AN Beginn und Ende seiner täglichen Arbeitszeit während des Gleitzeitrahmens selbst bestimmen kann, wird das Unterbleiben der Arbeitsleistung idR der Sphäre des AN zuzurechnen sein, da das Entstehen der Minusstunden auf seine eigenbestimmte Zeiteinteilung zurückzuführen ist (vgl Heilegger in Gasteiger/Heilegger/Klein, AZG7 § 19f Rz 2; Posch/ Haas, aaO; Schindler in Gruber-Risak/Mazal, Arbeitsrecht Kap XX Rz 26; vgl auch Schrank, Arbeitszeit: Kommentar7 [2023] § 4b AZG Rz 89 zur grundsätzlichen Rückforderbarkeit von Zeitschulden). In diesem Sinne führt auch Jöst aus, dass, da die Zeiteinteilung bei der Gleitzeit vom AN selbst bestimmt werde, er eine Zeitschuld im Regelfall auch zu vertreten haben werde, sodass der Gehaltsabzug prinzipiell gerechtfertigt erscheine (Jöst in Gruber-Risak/Jöst/Patka [Hrsg], Praxishandbuch Gleitzeit3 [2021] 120). Eine Rückzahlungspflicht bzw Verrechnungsmöglichkeit wird allerdings dann verneint, wenn die Unmöglichkeit des Naturalausgleichs dem AG zuzurechnen ist, etwa bei berechtigtem vorzeitigem Austritt, unberechtigter Entlassung oder AG-Kündigung, sofern das Einarbeiten der Fehlstunden während der Kündigungsfrist unmöglich oder unzumutbar ist (Schindler in Gruber-Risak/Mazal, Arbeitsrecht Kap XX Rz 26; Sabara, ARD 6012/7/2009; Lindmayr in Schrank/Lindmayr, Handbuch Beendigung Kap 18 Rz 13).
[20] 6. Zu prüfen ist daher zunächst, wessen Sphäre es zuzurechnen ist, dass beim Kl die Zeitabrechnung am Ende des Arbeitsverhältnisses Minusstunden aufgewiesen hat. Grundsätzlich hatten die Parteien eine Normalarbeitszeit von 40 Stunden festgelegt. Zusätzlich wurde ein „Gleitzeitdurch 55 rechnungsmodell“ vereinbart. Die Dispositionsmöglichkeit des Kl aufgrund dieser Vereinbarung beschränkte sich allerdings darauf, innerhalb eines Rahmens von -10/+20 Minuten, um einen vorgegebenen Zeitpunkt seinen Arbeitsbeginn festzulegen. Sämtliche anderen Parameter waren von der Bekl vorgegeben, insb die Zuteilung der zu erledigenden Arbeit (ein bestimmtes Rayon) und das Ende der Arbeitszeit, nämlich die vollständige Erfüllung der zugeordneten Aufgaben. Damit war aber die Dauer der Arbeitsleistung an jedem Tag zwar nicht zeitlich, aber durch die Übertragung der konkreten Arbeitsaufgabe (Zustellung in einem bestimmten Rayon) von der Bekl vorgegeben und vom Kl grundsätzlich nicht beeinflussbar.
[21] 7. Die Ausführungen der Bekl dazu, dass dem Kl der Vorwurf zu machen sei, die ihm übertragenen Aufgaben „zu schnell“ erledigt zu haben, verkennen, dass der Kl in erster Linie das Bemühen um die ordnungsgemäße Erfüllung der ihm übertragenen Arbeiten schuldete. Dass er aufgrund seines Arbeitstempos seine Aufgaben unzureichend erfüllt hat oder seine Gesundheit konkret gefährdet hat, behauptet auch die Bekl nicht. Wenn er – wie die Revision moniert – schnell arbeitete, „um mehr Freizeit zu haben“, mag das richtig sein, ist aber hier nicht entscheidend. Im Übrigen wurde dem Kl ja schon bei der Einstellung angekündigt, dass es sich deshalb um einen „super Job“ handle. Ein vernünftiges Arbeitstempo soll auch nicht der Verhinderung von Minusstunden, sondern der Einhaltung von Qualitätsstandards dienen.
[22] Die Bekl selbst geht davon aus, bei der Einteilung der Zustellrayons die durchschnittliche Arbeitszeit eines durchschnittlichen Zustellers mit 40 Stunden zugrunde gelegt zu haben. Wie bei jedem Arbeitsprozess werden aber auch bei der Bekl manche AN Aufgaben schneller als andere erledigen. Der im Vorhinein errechnete Zeitrahmen ermöglicht einen effizienteren Einsatz der Arbeitskräfte, führt für sich allein aber nicht dazu, dass AN, die ein etwas anderes als das vom AG berücksichtigte Arbeitstempo einhalten, ihre Arbeitsleistung nicht ordnungsgemäß erbringen. Dass der Kl nicht langsamer war, kann ihm daher nicht zum Vorwurf gemacht werden.
[23] Da ihm aber von der Bekl neben dem Abarbeiten seines Rayons keine anderen Aufgaben übertragen wurden und ein „Absitzen“ der Zeit in der Zustellbasis nicht erwünscht war, wurde ihm seitens der Bekl keine Möglichkeit gegeben, allfällige aus seiner schnelleren Arbeitsweise resultierenden Minusstunden abzuarbeiten. Das Entstehen der Minusstunden ist daher nicht auf eine unzureichende Zeiteinteilung des Kl zurückzuführen. Vielmehr sind die bei Beendigung des Dienstverhältnisses vorliegenden Minusstunden der Sphäre der Bekl zuzurechnen, die dem Kl nur ein klar bestimmtes Arbeitskontingent zur Erledigung zuwies und die Arbeitszeit mit dieser Erledigung begrenzte.
[24] 8. Zwar verweist die Bekl zu Recht darauf, dass der Entgeltanspruch voraussetzt, dass der AN zur Leistung bereit war. Der Kl hat allerdings alle ihm übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß erledigt. Damit hat er seine Leistungsbereitschaft der Bekl gegenüber ausreichend zum Ausdruck gebracht. Die im Zusammenhang mit Arbeitsniederlegung verlangte ausdrückliche Erklärung der Arbeitsbereitschaft (8 ObA 23/05y) lässt sich auf den vorliegenden Fall nicht übertragen.
[25] 9. Richtig ist, wie die Revision ausführt, dass § 1155 ABGB dispositiv ist und daher von den Arbeitsvertragsparteien abbedungen werden kann (zuletzt etwa 9 ObA 52/23x mwN). Eine Änderung des § 1155 ABGB zu Lasten des AN ist jedoch an § 879 Abs 1 ABGB zu messen (Rebhahn in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 [2018] § 1155 ABGB Rz 6 mwN; Rebhahn/Ettmayer in Kletecka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 1155 Rz 4). Die Grenze der Abdingbarkeit stellt somit die Sittenwidrigkeit dar.
[26] Sittenwidrigkeit iSd § 879 ABGB kann jedenfalls nur dann angenommen werden, wenn die Interessenabwägung eine grobe Verletzung rechtlich geschützter Interessen oder bei Interessenkollision ein grobes Missverhältnis zwischen den durch die Handlung verletzten und den durch sie geförderten Interessen ergibt (RS0045886).
[27] In der Literatur wird bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit auf die Höhe des (zeitlichen) Einsatzes, der unvergütet bleiben soll, auf den Umfang, in dem der AN das Unterbleiben der Dienstleistung beeinflussen kann und auf die Höhe des Entgelts, das auch bei Unterbleiben der Arbeitsleistung zusteht, abgestellt (vgl Rebhahn/Ettmayer in Kletecka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 1155 Rz 4). Umgekehrt spricht es nach Rebhahn für die Zulässigkeit des Ausschlusses, wenn der Grund der Störung vom AG nicht oder nur schwer beeinflusst werden kann, wenn sie für Betrieb und Geschäftszweig nicht typisch und daher unvorhersehbar ist und wenn der Ausschluss erst nach einiger Zeit greift (Rebhahn in ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 7).
[28] 10. Im vorliegenden Fall kann letztlich dahingestellt bleiben, ob die in Pkt 9 der BV vorgesehene Abrechnung überhaupt als Abbedingen des § 1155 ABGB zu verstehen ist und ob die BV – unabhängig davon, ob sie dem AZG unterliegt – eine wirksame Gleitzeitvereinbarung darstellt.
[29] Da die Bekl es im zuvor aufgezeigten Sinn durch die Einteilung der Arbeit und die Vorgabe, dass mit der Erledigung der zugewiesenen Arbeit die Arbeitszeit endet, dem Kl im Rahmen der Vereinbarung unmöglich machte, allfällige Minusstunden abzuarbeiten und sie selbst trotz Festlegung einer 40-Stunden-Woche über die Besorgung des konkreten Zustellrayons hinaus kein Interesse an einer Arbeitsleistung des Kl hatte, wäre ein Ausschluss des § 1155 ABGB in diesem Umfang nach § 879 Abs 1 ABGB unwirksam. Dieser Fall ist letztlich nicht anders zu beurteilen, als die Einteilung des AN im Rahmen von vom DG vorgegebenen Dienstplänen, die es dem DN unmöglich machen, die vereinbarte Stundenzahl zu erreichen. Im vorliegenden Fall bestand zwar keine Zeitvorgabe, aber eine klare Vorgabe des zu erbringenden Arbeitsumfangs, mit dessen Erledigung die Arbeit begrenzt war. [...]
[31] Insgesamt haben die Vorinstanzen daher der Klage zu Recht stattgegeben. 56
Auch wenn sich die E auf den ersten Blick als eine die Gleitzeit betreffende darstellt, so ist sie das bei näherer Betrachtung jedoch nicht, sondern behandelt eigentlich Fragen der generellen Risikoverteilung im Arbeitsverhältnis. Erst gegen Ende der rechtlichen Begründung (Rz 28) stellt der OGH dies explizit klar und in Rz 29 findet sich dann sehr kompakt die rechtliche Lösung des aufgeworfenen Problems: Bei einem Arbeitszeitmodell wie dem vorliegenden trägt der AG das Risiko des Nichtabbaus von Zeitschulden (Minusstunden), da dieser wesentlich auf AG-Dispositionen zurückgeht und daher nicht dem AN zugerechnet werden kann. Damit kann das den Zeitschulden entsprechende Entgelt nicht zurückgefordert werden, da die Arbeitsleistung letztlich aus Gründen unterblieben ist, die dem AG zuzurechnen sind. Dass der Nichtabbau von Zeitschulden der AG-Sphäre zuzurechnen ist, ergibt sich im Anlassfall aus der konkreten und eigentlich atypischen Ausgestaltung der Gleitzeit, auf die in der Folge kurz einzugehen ist.
Nach § 4b Abs 1 AZG liegt gleitende Arbeitszeit vor, wenn AN innerhalb eines vereinbarten zeitlichen Rahmens Beginn und Ende ihrer täglichen Normal arbeitszeit selbst bestimmen können. Das ist im vorliegenden Fall gegeben, wenngleich die Zeitautonomie der AN doch vergleichsweise stark eingeschränkt ist: Betreffend den Beginn haben die AN einen Spielraum von 30 Minuten (-10/+20 Minuten), das Arbeitsende ergibt sich aus der vollständigen Erfüllung der täglichen dienstlichen Aufgaben (so Pkt 3 der BV). Das könnte bei einer Überschreitung der ansonsten geltenden Normalarbeitszeit im Lichte des § 4b Abs 5 AZG problematisch sein, da durch die Aufgabenzuteilung implizit auch ein bestimmtes Ausmaß an Arbeitsstunden angeordnet wird (dazu Risak, Überstunden bei Gleitzeit durch Ad-hoc-Eingriffe in die Zeitautonomie, in Liber Amicorum Mazal [2019] 141 [147]). Damit würden bei einer Überschreitung der ansonsten geltenden Normalarbeitszeit (idR acht Stunden) jedenfalls Überstundenzuschläge anfallen. Das würde selbst bei einem unverschuldeten langsameren Arbeitstempo gelten, da die typisierte, nicht auf das Leistungsvermögen der konkreten AN abstellende Zuteilung von Aufgaben als Anordnung von Arbeitsstunden iSd § 4b Abs 5 AZG zu qualifizieren ist. Dies ist freilich im Anlassfall nicht das Problem, sondern das Gegenteil: Der AN arbeitet „zu schnell“ und hat so die ihm zugewiesenen Aufgaben schneller erledigt als vom AG geplant. Damit haben es die AN bei einer solchen Ausgestaltung der Arbeitszeit in der Hand, durch Intensivierung ihrer Arbeitsleistungen das Arbeitsende zu beeinflussen. Da aber jeden Tag immer wieder alle an diesem anfallende Zustellungen vorgenommen werden müssen und diese auch nicht auf andere Tage verschoben werden können, gab es – abgesehen von einer nicht vom AG gewünschten längeren Anwesenheit am Arbeitsplatz ohne tatsächliche Arbeit („Absitzen“, Rz 23) – gar keine sinnvolle Möglichkeit, die so aufgelaufenen Zeitschulden abzubauen. Diese besondere Kombination von Arbeitszeiteinteilung und Arbeitsorganisation führte dann im Anlassfall zu dem hohen Ausmaß an Zeitschulden.
Die konkrete Ausgestaltung der Gleitzeit (maximal 30 Minuten Spielraum betreffend den täglichen Arbeitsbeginn und kein Einfluss der AN auf ihr tägliches Arbeitsvolumen) wirft auch die Frage auf, ob überhaupt Gleitzeit im Rechtssinne vorliegt. Der OGH hegt offensichtlich Zweifel und lässt sie explizit offen, wenn in Rz 28 festgehalten wird, dass es dahingestellt bleiben könne, ob die BV eine wirksame Gleitzeitvereinbarung darstelle. Dagegen könnte die Verpflichtung angeführt werden, dass jedenfalls die täglichen Arbeitsaufgaben zu erledigen sind (Pkt 3 der BV), wodurch die AN das Risiko tragen, dass diese mehr Zeit in Anspruch nehmen als die vereinbarte Normalarbeitszeit. Korrigiert man dies, wie oben ausgeführt, in dem Sinne, dass dann idR ab acht Stunden pro Tag Überstundenzuschläge anfallen, erscheint dies jedoch mE nicht problematisch.
Ein anderes Argument gegen das Vorliegen von Gleitzeit iSd § 4b AZG könnte das von Teilen der Lehre (insb Jöst in Gruber-Risak/Jöst/Patka [Hrsg], Praxishandbuch Gleitzeit3 [2021] 91; ihm folgend zB Niederfriniger, Rechtsprobleme der Gleitzeitarbeit [2019] Rz 427) für die Gleitzeit erforderliche Mindestmaß an zeitlicher Selbstbestimmung sein. Demnach soll es erforderlich sein, dass rund 25 % der Arbeitszeit autonom gestaltet werden müssen (so insb Jöst, Überstunden bei Gleitzeit, ZAS 2020, 137), das vorliegende Modell würde dieser Anforderung wohl klar nicht genügen. Mangels einer eindeutigen gesetzlichen Regelung ist diese Ansicht mE jedoch anzulehnen (Gruber-Risak, DRdA 2021, 169), da dem Missbrauch der Gleitzeit durch AG – wie bereits argumentiert – durch eine konsequente Anwendung des § 4b Abs 5 AZG begegnet werden kann und es deshalb nicht der Einführung weiterer einschränkender Voraussetzungen bedarf. Der OGH hat dazu freilich in der vorliegenden E nicht Position bezogen, womit die Frage weiterhin offen ist, ob die Gleitzeit ein Mindestmaß an zeitlicher Selbstbestimmung erfordert.
Grundsätzlich stellen Zeitschulden bei der Gleitzeit einen Entgeltvorschuss dar: AN arbeiten weniger als vereinbart, erhalten aber das volle Entgelt. Dieses steht freilich unter dem Vorbehalt der Rückzahlung sollte die bereits honorierte Arbeitszeit nicht später abgearbeitet werden (so Gruber-Risak in Gruber-Risak/Jöst/Patka [Hrsg], Praxishandbuch Gleitzeit3 78). Das anerkennt der OGH in der vorliegenden E unter Berufung auf die Literatur (Rz 19). In der Folge kommt es dann aber zu einer Einschränkung 57 und zwar dahin gehend, dass Zeitschulden nur dann zur Entgeltrückforderung berechtigen, wenn diese auf eine Disposition der AN zurückzuführen sind (Rz 20). Das betrifft nicht nur den Aufbau, sondern auch die Möglichkeit des Abbaus – und hierin liegt eine weitere Besonderheit des konkreten Sachverhaltes: Die Art der Aufgabenzuteilung ließ nur eine autonome Verkürzung der Arbeitszeit durch Arbeitsintensivierung an den einzelnen Tagen zu, nicht aber eine sinnvolle selbstbestimmte Verlängerung der täglichen Arbeitszeit an anderen Tagen. Dadurch liegt es in der Ingerenz des AG, dass die Zeitguthaben wegen der gewählten Form der Arbeitsorganisation nicht abgebaut werden können, weshalb dieser das Risiko des Nichtabbaus trägt.
Zutreffend löst der OGH somit die vorgelegte Rechtsfrage unter Berufung auf die Risikotragungsregel des § 1155 ABGB (Rz 15 ff), wobei die Atypizität des Gleitzeitmodells im Anlassfall augenscheinlich wird. In einem letzten Schritt wird dann noch festgehalten, dass eine Abdingung des § 1155 ABGB für den vorliegenden Fall sittenwidrig iSd § 879 ABGB wäre, da es am AG liegt, dass die vereinbarte Stundenanzahl nicht erreicht wurde. Es wurde nämlich zwar eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit ermöglicht, der Abbau der so aufgebauten Zeitguthaben jedoch nicht. Dies führte somit im Ergebnis dazu, dass die betreffenden AN durch eine Intensivierung der Arbeit autonom eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich vornehmen konnten. Dies ist freilich in der konkreten, durchaus als atypisch zu bezeichneten Gleitzeit-BV angelegt. Will man das nicht mehr, so müsste diese entweder entsprechend geändert oder die Aufgabenzuteilung stärker an die individuelle Leistungsfähigkeit angepasst werden. Ob der Arbeitsplatz als Zusteller dann noch ein „super Job“ (Rz 3) ist, das steht auf einem anderen Blatt.