Systemfragen der geminderten Arbeitsfähigkeit*

WALTERJ.PFEIL (SALZBURG)
Probleme der geminderten Arbeitsfähigkeit betreffen das Arbeitsrecht und im Grunde alle Bereiche des Sozialrechts. Bei der Erfassung dieser „Querschnittsmaterie“ sind jedoch erst in den letzten Jahren wirklich integrative Ansätze auszumachen. Das bietet Anlass für den Versuch, einige dieser Fragen aus einem gesamthaften Blickwinkel zu betrachten. Dabei muss naturgemäß auf die mit Anfang 2014 wirksam werdenden Neuerungen besonders eingegangen werden.Dieser Beitrag ist dem Andenken an Karl Spielbüchler gewidmet, der stets – und in seiner unnachahmlich direkten Art – die (oft unnötige) Kompliziertheit des Sozialversicherungsrechts kritisiert hat und über die hier diskutierten Neuregelungen gewiss heftig den Kopf geschüttelt hätte.
  1. Ausgangssituation

  2. Die Neuerungen der letzten Jahre im Überblick

    1. Das SRÄG 2012 macht ernst mit „Rehabilitation vor Pension“

    2. Das SRÄG 2012 bemüht sich um vereinheitlichte Begutachtung

    3. Sonstige einschlägige Änderungen

  3. Ausgewählte Strukturfragen der Erfassung geminderter Arbeitsfähigkeit

  4. Systemische Bewertung der einzelnen Grundtypen geminderter Arbeitsfähigkeit

    1. Grundtypus (1): Geminderte Arbeitsfähigkeit nur geringfügig und/oder kurzfristig

    2. Grundtypus (4): Dauerhafte, völlige Arbeitsunfähigkeit

    3. Grundtypus (2): Geminderte Arbeitsfähigkeit länger, aber medizinisch beeinflussbar

    4. Grundtypus (3): Geminderte Arbeitsfähigkeit dauerhaft und nicht reversibel

  5. (Vorläufige) Einschätzung und Perspektiven

1
Ausgangssituation

In einem erwerbszentrierten Sozialsystem stellen geminderte Arbeitsfähigkeit bzw Arbeitsunfähigkeit vorrangig zu erfassende Risiken dar. Das österreichische Sozialsystem enthält Vorkehrungen in allen Zweigen der SV, aber etwa auch in den für Menschen mit Behinderungen auf Bundes- wie auf Landesebene bestehenden Regelungen oder in der Mindestsicherung. Trotz Ähnlichkeit der Risikolagen und oft sogar mehrfachen Zuständigkeiten für ein und dieselbe Person gab es bisher wenig Abstimmung zwischen den einzelnen Bereichen. Das verursachte viel Unzufriedenheit bzw Unverständnis bei den Betroffenen und viele Probleme für die Rechtsanwendung. Insofern erscheint es durchaus gerechtfertigt, wenn zum dritten Mal innerhalb weniger Jahre bei einer „Zeller Tagung“ Fragen aus diesem Themenfeld näher beleuchtet werden sollen.*

Der Begriff „geminderte Arbeitsfähigkeit“ gilt in Österreich als Oberbegriff für die verschiedenen berufsspezifischen Ausprägungen von dem, was in der international gebräuchlichen Terminologie als „invalidity“ bezeichnet wird.* Der Begriff „Invalidität“ steht hierzulande dagegen nur für den Spezialfall der geminderten Arbeitsfähigkeit für ArbeiterInnen, der in der weiteren Folge in zumindest drei Untergruppen gegliedert ist.* Schon hier zeigt sich also, dass die Definitionen der verschiedenen Arten geminderter Arbeitsfähigkeit unterschiedlich und die Abgrenzungskriterien diffus sind. Grob gesprochen lässt sich aber geminderte Arbeitsfähigkeit und deren sozialrechtliche Erfassung auf vier Grundtypen reduzieren:363

(1) nur geringfügige/absehbar kurzfristige Einschränkungen;

(2) länger dauernde, aber (medizinisch) beeinflussbare Einschränkungen;

(3) dauerhafte, nicht reversible Einschränkungen und

(4) völlige Arbeitsunfähigkeit.

Entlang dieser übergreifenden Typologie sollen in der Folge einige grundsätzliche, insoweit also für das Sozialsystem insgesamt bedeutsame Fragen erörtert werden. Wenn dabei dennoch die gesetzliche PV im Vordergrund steht, hat das zunächst damit zu tun, dass die Grundtypen (2) bis (4) zumindest auch, wenn nicht sogar vorrangig in diesem Zweig der sozialen Sicherung erfasst werden. Daneben lässt sich dieser Vorrang auch daraus begründen, dass die Diskussionen und die konkret ergriffenen Maßnahmen in den letzten Jahren auf die PV konzentriert waren. Daher kann es nicht überraschen, dass die Probleme geminderter Arbeitsfähigkeit meist im Lichte der allgemeinen Herausforderungen gesehen wurden, der sich die PV insgesamt gegenübersieht: Stich-, mitunter sogar Reizworte wie demografische Entwicklung, steigender Zuschussbedarf aus dem Budget bzw steigender Anteil der Pensionsausgaben am BIP, und vor allem die Schere zwischen gesetzlichem und tatsächlichem Pensionsantrittsalter haben dazu geführt, dass Pensionen bei geminderter Arbeitsfähigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung meist negativ besetzt sind. Die auf diese Leistungen angewiesenen Versicherten finden sich dann allzu oft in einem gemeinsamen Topf „Frühpensionen“ wieder, wo es tatsächlich etliche (aber andere) Personen gibt, die als NutznießerInnen von „Pensionsprivilegien“ gesehen werden könnten.

Diese negative Wahrnehmung wird auf den ersten Blick auch durch Zahlen untermauert, welche die geminderte Arbeitsfähigkeit als jenen Faktor ausweisen, der das Pensionsantrittsalter am meisten drückt.* Dieser Effekt ist freilich zu relativieren, wenn berücksichtigt wird, dass die geminderten Arbeitsfähigkeitspensionen nur einen Bruchteil der gesamten Pensionen ausmachen.* Nun ist es aber nicht die schiere Zahl, sondern die Dynamik bei der geminderten Arbeitsfähigkeit, die besonderen Handlungsbedarf auslöst.* Diese Zahlen lassen aber auch noch ein anderes, nicht minder gravierendes Problem erkennen: Wenn die Zuerkennungsquote bei geminderter Arbeitsfähigkeit bei etwa 40 % liegt, werden 60 % der Versicherten wieder „weggeschickt“. Damit stellt sich – gerade aus systemischer Sicht – die Frage, welche Perspektiven diesen Personen eröffnet werden (können).

Damit wird aber deutlich, dass das vorrangige Ziel der Politik im Hinblick auf geminderte Arbeitsfähigkeit nicht nur darin bestehen kann, möglichst viel an Sozialversicherungsbeitrags- und Steuereinnahmen zu lukrieren statt Sozialleistungen ausschütten zu müssen. Vielmehr ist auch ein neuer Zugang der Sozialpolitik gefordert, die nicht mehr bloß reagiert, sondern pro-aktiv gestaltet. Prävention und Rehabilitation vor Pension muss aber mehr sein als ein allgemeiner Programmsatz, welcher schon seit dem Strukturanpassungsgesetz BGBl I 1996/201 verankert ist.* Das setzt freilich zusätzliche Maßnahmen außerhalb der PV und eine Reduzierung der Schnittstellenprobleme* voraus.

Vor diesem Hintergrund setzen die jüngsten Reformen nach dem Budgetbegleitgesetz 2011 (BBG 2011, BGBl I 2010/111) und dem Sozialrechtsänderungsgesetz 2012 (SRÄG 2012, BGBl I 2013/3, das im ASVG* die 78. Novelle bewirkt hat) also grundsätzlich richtig – weil breiter – an. Schon jetzt sei aber angemerkt, dass dadurch einige (andere) Grundprobleme der geminderten Arbeitsfähigkeit in den Hintergrund gedrängt werden und zudem neue Schnittstellenfragen auftauchen bzw bisherige Schwierigkeiten uU sogar verschärft werden. Darauf ist – schon aus Aktualitätsgründen – einzugehen, was aber voraussetzt, dass die wesentlichen Neuerungen der letzten Jahre kurz dargestellt werden (2.). Diese sollen dann unter systemischen Gesichtspunkten (3.) einer Bewertung unterzogen werden (4.), die dann in einigen perspektivischen Überlegungen münden soll (5.).

2
Die Neuerungen der letzten Jahre im Überblick
2.1
Das SRÄG 2012 macht ernst mit „Rehabilitation vor Pension“

Die für geminderte Arbeitsfähigkeit relevanten Neuerungen der letzten Jahre lassen sich inhaltlich in drei Blöcke zusammenfassen. Das erste Maßnahmenpaket betrifft die (durch das BBG 2011 erfolgte) Etablierung364 und die Weiterentwicklung (durch das SRÄG 2012) des Prinzips „Rehabilitation vor Pension“ als verbindliche Vorrangregel, verknüpft mit einem Rechtsanspruch auf (bestimmte) Rehabilitationsmaßnahmen. Im Einzelnen sind hier folgende Änderungen hervorzuheben:

  • Abschaffung der befristeten geminderten Arbeitsfähigkeitspensionen für Versicherte ab Jahrgang 1964: Für Versicherte, die spätestens im laufenden Kalenderjahr das 50. Lebensjahr vollenden, sind dagegen die Regelungen in der zu Ende 2013 geltenden Fassung weiter anzuwenden (§ 669 Abs 5 ASVG). Das bedeutet aber auch, dass die Neuregelung nur zu Beginn bloß für die Unter-50-Jährigen gilt, diese Altersgrenze in der Folge aber jährlich um ein Jahr ansteigt.

  • Statt befristeten geminderten Arbeitsfähigkeitspensionen gibt es für diese Personengruppe*ab 2014 dann zwei unterschiedliche Leistungsschienen, je nachdem, ob berufliche Rehabilitation möglich und zumutbar ist. Voraussetzung dafür ist freilich stets, dass die geminderte Arbeitsfähigkeit nicht dauernd,* sondern nur vorübergehend, aber (voraussichtlich) mindestens für sechs Monate vorliegt.

  • Ist dies zu bejahen, hat der Pensionsversicherungsträger das bescheidmäßig festzustellen (§ 367 Abs 4 ASVG), was einen Anspruch auf Umschulungsgeld beim Arbeitsmarktservice (AMS) nach § 39b AlVG* auslöst, welches auch Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation anbieten muss (§ 29 Abs 4 AMSG*). Deren Rahmen wird freilich bereits im Bescheid des Pensionsversicherungsträgers (durch die Festlegung des „Berufsfeldes“, dazu unten 4.4.E.) bestimmt, der auch die Kosten für diese Maßnahmen zu tragen hat (§ 307a Abs 4 ASVG, § 16 AMPFG*).

  • Verneint der Pensionsversicherungsträger dagegen die Möglichkeit und Zumutbarkeit beruflicher Rehabilitation bescheidmäßig, entsteht bei vorübergehender, aber zumindest sechsmonatiger geminderter Arbeitsfähigkeit ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld gegen den Träger der gesetzlichen KV nach § 143a ASVG, welcher die betreffenden Versicherten im Rahmen eines Case-Management (§ 143b ASVG) zu unterstützen hat. Der Pensionsversicherungsträger hat dem Krankenversicherungsträger allerdings diese Kosten zu ersetzen (§ 143c ASVG) und ist zudem zur Erbringung von Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation (§§ 253f, 270b ASVG) verpflichtet. Letztere sind ab 2014 nicht mehr bloß eine Pflichtaufgabe des Pensionsversicherungsträgers, sondern mit einem echten Rechtsanspruch ausgestattet.

  • Flankiert werden diese Regelungen zum einen dadurch, dass die Feststellung des Pensionsversicherungsträgers im obigen Sinn auch ohne Pensionsantrag zu erfolgen hat (§§ 255a, 273a ASVG), welcher ja ansonsten bereits seit dem BBG 2011 vorrangig als Antrag auf Rehabilitationsleistungen zu behandeln ist (§ 361 Abs 1 letzter Satz ASVG).

  • Zum anderen werden Wiederholungsanträge auf eine geminderte Arbeitsfähigkeitspension bzw eine entsprechende Rehabilitationsmaßnahme dann erleichtert zugelassen, wenn der Krankenversicherungsträger Arbeitsfähigkeit feststellt oder das AMS die berufliche Rehabilitation für nicht mehr realisierbar hält (§ 362 Abs 4 ASVG).

Trotz der zukünftigen starken (und – jedenfalls auf den ersten Blick – sachgerechten) Einbindung der Krankenversicherungsträger und des AMS bleibt der Pensionsversicherungsträger „Herr des Verfahrens“. Ihm allein obliegt die Prüfung und bescheidmäßige Feststellung, ob geminderte Arbeitsfähigkeit vorliegt, ob diese (voraussichtlich) dauerhaft oder nur vorübergehend ist, ob im letzteren Fall Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar sind, und wenn ja, für welches Berufsfeld diese Qualifizierung erfolgen soll; der Pensionsversicherungsträger ist auch zuständig für die Zuerkennung und Entziehung von Rehabilitationsgeld (§ 143a Abs 1 letzter Satz ASVG) sowie für die Gewährung von Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation und trägt schließlich auch die Kosten für diese Leistungen ebenso wie für die vom AMS organisierten Leistungen der beruflichen Rehabilitation.

2.2
Das SRÄG 2012 bemüht sich um vereinheitlichte Begutachtung

Die federführende Rolle der PV schlägt sich auch in der Konzeption der Begutachtung nieder, womit der zweite Neuerungsblock angesprochen ist. Schon die bisherige „Gesundheitsstraße“ ist eine Einrichtung der PV, die auf Grund entsprechender Verträge auch für andere Sozialleistungsträger insb die medizinische Begutachtung zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit durchführt, die dann vom AMS anzuerkennen ist (vgl § 351b Abs 3 ASVG iVm § 8 Abs 3 AlVG/bisherige Fassung). Dieser Ansatz wird nun weiterentwickelt zu einem „Kompetenzzentrum Begutachtung“, das nach § 307g ASVG für die Erstellung nicht nur von medizinischen, sondern auch von berufskundlichen und arbeitsmarktbezogenen Gutachten zuständig ist, wobei für letztere bei Bedarf auch sachkundige AMS-VertreterInnen beizuziehen sind (vgl Abs 1 dieser Bestimmung).

Auch diese Gutachten sind nach § 8 Abs 3 AlVG (idF ab 1.1.2014) vom AMS anzuerkennen und seiner weiteren Tätigkeit zu Grunde zu legen. Nach Abs 2 dieser Bestimmung kann das AMS aber dann nicht mehr über die Begutachtungsstelle befinden, sondern ist an die diesbezügliche Festlegung des Kompetenzzentrums gebunden. Sowohl für die Regelung der Grundsätze dieser Begutachtung als auch das Zusammenwirken mit dem AMS sind Richtlinien des Hauptverbandes vorgesehen (vgl § 31 Abs 5 Z 36 und 37 ASVG), die bisher noch nicht erlassen wurden.365

Dieses Kompetenzzentrum wird ebenfalls bei der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) eingerichtet, wobei das ASVG offenlässt, ob daraus eine rechtliche Eigenständigkeit resultiert. Dies wird im systematischen Kontext eher zu verneinen und das Kompetenzzentrum damit schlicht als Organisationseinheit innerhalb der PVA anzusehen sein.* Für die Selbständigen gibt es dagegen ein eigenes Kompetenzzentrum, das kraft gesetzlicher Anordnung in § 171a Abs 1 GSVG* bzw § 163a Abs 1 BSVG* als GmbH einzurichten und damit mit eigenständiger Rechtspersönlichkeit ausgestattet ist.

Für die öffentlich Bediensteten ist keine vergleichbare Einrichtung vorgesehen. Es soll allerdings eine „Akademie für ärztliche und pflegerische Begutachtung“ geschaffen werden, die für die (bessere und vor allem einheitliche) Ausbildung der GutachterInnen in Pflegegeld-Angelegenheiten oder solchen der geminderten Arbeitsfähigkeit sorgen soll. Für diese Akademie ist die Rechtsform des gemeinnützigen Vereins vorgesehen, der von allen Pensionsversicherungsträgern, egal ob nach ASVG, GSVG oder BSVG und der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter getragen werden soll.*

2.3
Sonstige einschlägige Änderungen

Einige für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsame Neuerungen gehen nicht auf das SRÄG 2012 zurück, sie betreffen aber durchwegs „Sonderfälle“ der geminderten Arbeitsfähigkeit. Dies gilt zunächst für die mit dem 2. StabilitätsG 2012 (BGBl I 2012/35) vorgenommene sukzessive Anhebung des Mindestalters für den „Tätigkeitsschutz“ nach §§ 255 Abs 4 bzw 273 Abs 3 ASVG* von 57 auf 58 (2013) und letztlich bis 2017 auf 60 Jahre (§ 666 Abs 4 ASVG). Diese besondere Spielart einer geminderten Arbeitsfähigkeit stellt funktional einen „Ersatz“ für die durch BGBl I 2000/43 abgeschaffte Möglichkeit einer vorzeitigen Alterspension bei geminderter Arbeitsfähigkeit nach dem früheren § 253d ASVG dar. Sie eröffnet Versicherten ohne Berufsschutz dennoch einen Anspruch auf eine geminderte Arbeitsfähigkeitspension, wenn sie nur lange genug eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt haben, aber diese (einschließlich zumutbarer Änderungen) nicht mehr ausüben können. Insofern kann nicht überraschen, dass diese Sonderform als „Einfallspforte“ für Pensionen bei geminderter Arbeitsfähigkeit gesehen und angesichts deren grundsätzlich negativer Besetzung besonders kritisch bewertet wurde.*

Bereits durch das BBG 2011 eingeführt wurde die Härtefallregelung für über 50-jährige unqualifizierte Versicherte in § 255 Abs 3a und 3b ASVG bzw § 133 Abs 2a und 2b GSVG, § 124 Abs 1a und 1b BSVG. Diese ist an fünf kumulative Voraussetzungen geknüpft und hat – auch deswegen – in der bisherigen Praxis nur einen sehr schmalen Anwendungsbereich gefunden. *

Noch wesentlich älter, nämlich bereits auf die 61. ASVG-Novelle (BGBl I 2003/145) zurückgehend ist die Anerkennung von Ansprüchen auf geminderte Arbeitsfähigkeitspensionen auch ohne Absinken der Arbeitsfähigkeit (§§ 255 Abs 7 bzw 273 Abs 3 ASVG; § 133 Abs 3 GSVG bzw § 124 Abs 4 BSVG), weil diese Personen von vornherein nicht arbeitsfähig waren. Dieser Sonderfall ist an das Vorliegen von mindestens 120 Beitragsmonaten in der Pflichtversicherung der PV geknüpft, was an sich großzügig erscheint. Bei näherer Betrachtung erweist sich allerdings auch diese Konstruktion als nicht unproblematisch (4.2.G.).

3
Ausgewählte Strukturfragen der Erfassung geminderter Arbeitsfähigkeit

Es wäre nun wenig zweckmäßig und würde den zur Verfügung stehenden Rahmen bei weitem sprengen, all diese Regelungen und deren hier noch gar nicht erörterten „Hintergrund“ in Gestalt der unterschiedlichen Ausprägungen geminderter Arbeitsfähigkeit für die einzelnen Berufsgruppen* näher zu beleuchten. Die angestrebte Diskussion von Systemfragen soll vielmehr pragmatisch in der Form erfolgen, dass einige Aspekte herausgegriffen werden, die für die Erfassung geminderter Arbeitsfähigkeit besonders wesentlich erscheinen. Diese sollen dann als Maßstab an die eingangs gebildeten Grundtypen geminderter Arbeitsfähigkeit und deren Erfassung angelegt werden, wobei natürlich den mit der geplanten Neuregelung verbundenen Fragen besonderes Augenmerk zu widmen ist. In diesem Sinn sollen als zentrale „Knackpunkte“ angesehen werden:

  1. Zuordnung im System: Welcher Bereich des Sozialsystems ist für den betreffenden Grundtypus geminderte Arbeitsfähigkeit (vorrangig) zuständig bzw sollte zuständig sein?

  2. Art und Voraussetzungen für die Leistungen: Wie soll geminderte Arbeitsfähigkeit wieder reduziert oder sogar kompensiert werden?

  3. Höhe der Leistungen: Wenn es sich um Geldleistungen handelt, gewährleisten diese einen rea366listischen Ersatz für das nicht mehr erzielbare Erwerbseinkommen?

  4. Eigenverantwortung der Versicherten: Was müssen die Versicherten einbringen, damit bzw bevor Leistungen beansprucht werden können, insb inwieweit wird von ihnen eine berufliche Umorientierung verlangt?

  5. Schnittstellen: Wie erfolgt die Abstimmung mit anderen Bereichen und wie ist diese gelungen?

  6. Rechtsdurchsetzung: Inwieweit gibt es bei den betreffenden Leistungen ein Problem beim Zugang zum Recht?

4
Systemische Bewertung der einzelnen Grundtypen geminderter Arbeitsfähigkeit
4.1
Grundtypus (1): Geminderte Arbeitsfähigkeit nur geringfügig und/oder kurzfristig

A. Zuordnung im System:

Der Grundtypus einer geringfügigen und/oder bloß kurzfristigen geminderten Arbeitsfähigkeit ist wohl im vorliegenden Zusammenhang der am wenigsten problematische und braucht daher nur kursorisch behandelt werden. Dessen vorrangige Erfassung über die Leistungen der KV sowie die Entgeltfortzahlungsansprüche im Arbeitsrecht erscheint adäquat. Dies gilt auch für die Grenzziehung, bis wann in diesen Systemen noch von einer bloß vorübergehenden geminderten Arbeitsfähigkeit/Arbeitsunfähigkeit auszugehen ist: Während sich die Entgeltfortzahlung nach der Dauer des Dienstverhältnisses richtet und zumindest 6 + 4 Wochen umfasst,* gebührt Krankengeld für ein und denselben Versicherungsfall für zumindest 26, nach Maßgabe der Satzung des jeweiligen Krankenversicherungsträgers sogar für bis zu 78 Wochen (§ 139 ASVG). Für die bei Krankheit in der KV gebührenden Sachleistungen besteht überhaupt keine zeitliche Begrenzung (§ 134 Abs 1 ASVG).

B. Art und Voraussetzungen für die Leistungen:

Die weitestmögliche Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zählt zu den vorrangigen Zielen des – grundsätzlich mit Sachleistungen zu deckenden – Anspruchs auf Krankenbehandlung (vgl § 133 Abs 2 ASVG). Im Anschluss an diese kommen allenfalls medizinische Maßnahmen der Rehabilitation in Betracht, die ebenso wie die Hilfen bei körperlichen Gebrechen (ua) eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit nach Möglichkeit vermindern (vgl § 154 Abs 1 ASVG) oder allgemeiner, aber auch die Arbeitsfähigkeit fraglos einschließend, die Einnahme eines angemessenen Platzes in der Gemeinschaft ermöglichen sollen (vgl § 154a Abs 1 ASVG).

Wenn die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zur vorübergehenden Unfähigkeit zur Erzielung von Erwerbseinkommen führt, sieht das Arbeitsrecht die schon erwähnten Entgeltfortzahlungsansprüche bei Krankheit oder Unglücksfall vor. Bestehen diese Ansprüche insb wegen Ausschöpfung der jeweiligen Fristen nicht mehr oder – wie insb bei freien DN nach § 4 Abs 4 ASVG – von vornherein nicht, wird der Einkommensausfall durch den Anspruch auf Krankengeldh nach §§ 138 ff ASVG aufgefangen. Ein solches gebührt mittlerweile bei Bestehen einer Zusatzversicherung auch im Bereich des GSVG (vgl dessen §§ 105 ff).

C. Höhe der Leistungen:

Diese Geldleistungen knüpfen mehr oder weniger pauschalierend am Einkommen vor Eintritt der geminderten Arbeitsfähigkeit an. Die arbeitsrechtliche Entgeltfortzahlung erfolgt zunächst sogar (fast) 1:1 und reduziert sich nach einer gewissen, von der Dauer des Dienstverhältnisses abhängigen Zeit auf die Hälfte. Damit kommunizieren aber die Ruhensbestimmungen beim Krankengeld (vgl nur § 143 Abs 1 Z 3 ASVG), das seinerseits zumindest 5  %, ab der siebenten Woche einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit 60 % der Bemessungsgrundlage, also im Grunde des vorherigen Arbeitsentgelts (§ 141 Abs 1 und 2 iVm § 125 ASVG) ausmacht. Dieses Ausmaß kann im Wege der Satzung unter Berücksichtigung der Familiensituation des/der betroffenen Versicherten auf bis zu 75 % der Bemessungsgrundlage erhöht werden (§ 141 Abs 3 und 4 ASVG).*

D. Eigenverantwortung der Versicherten:

Bei bloß geringfügiger und/oder kurzfristiger geminderter Arbeitsfähigkeit besteht nur geringer Bedarf für Vorkehrungen zur Wahrung der Eigenverantwortung der betreffenden Person. Durch die von der Judikatur entwickelten Sanktionen für „Fehlverhalten im Krankenstand“* und den Ruhenstatbestand beim Krankengeld nach § 143 Abs 6 ASVG ist diesem Aspekt aber durchaus Rechnung getragen. Dennoch soll nicht verschwiegen werden, dass die Reichweite der Arbeitsunfähigkeit, die einen arbeitsrechtlichen Entgeltfortzahlungsanspruch auslöst, (und zwar nicht nur rechtspolitisch) umstritten ist.*

E. Schnittstellen:

Die Abstimmung zwischen den Systemen Arbeits- bzw Krankenversicherungsrecht scheint grundsätzlich gut geglückt. Probleme könnten allerdings bei längerdauernder oder wiederkehrender geminderter Arbeitsfähigkeit auftreten, vor allem wenn es zur „Aussteuerung“ aus dem Krankengeldanspruch kommt. Die frühzeitige Erfassung von Problemlagen, wie sie etwa durch „Fit2work“ erfolgen soll,* könnte hier einige Verbesserungen bewirken.

F. Rechtsdurchsetzung:

Auch die Möglichkeiten zur Rechtsdurchsetzung im Hinblick auf Leistungen bei bloß vorübergehender geminderter Arbeitsfähigkeit scheinen weitgehend unproblematisch.367

4.2
Grundtypus (4): Dauerhafte, völlige Arbeitsunfähigkeit

A. Zuordnung im System:

Bei dauerhafter Arbeitsunfähigkeit stellen sich ebenfalls vergleichsweise wenige Systemprobleme. Wenn dieser Zustand unstrittig ist, ist dessen grundsätzliche Erfassung in der PV sachgerecht. Die Situation ist gut vergleichbar mit jener von Versicherten, bei denen auf Grund ihres Alters angenommen wird, dass sie nicht mehr arbeiten können, oder denen eine solche Aktivität auf Grund ihres Alters und langer Versicherungszeiten nicht mehr zumutbar ist.

B. Art und Voraussetzungen für die Leistungen:

Bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wegen völliger Arbeitsunfähigkeit werden freilich idR lange Versicherungszeiten fehlen. Dem tragen die Regelungen über die (kurze) Wartezeit in durchaus angemessener Weise Rechnung (vgl nur § 236 Abs 1 Z 1 und Abs 2 Z 1 ASVG), wobei für unter 27-Jährige sogar sechs Versicherungsmonate genügen (Abs 4 Z 3 leg cit) und bei Arbeitsunfähigkeit auf Grund eines Arbeitsunfalls etc die Wartezeit sogar entfallen kann (§ 235 Abs 3 ASVG).

C. Höhe der Leistungen:

Der dadurch erleichterte Zugang zu den Geldleistungen der PV bewirkt zwangsläufig Probleme bei der Gewährleistung eines akzeptablen Leistungsniveaus, hängt dies doch vor allem vom vorherigen Durchschnittseinkommen, abgebildet in der Bemessungsgrundlage (vgl nur § 238 ASVG), und der – als Prozentsatz derselben dargestellten – Höhe des Steigerungsbetrages, ab (vgl nur § 261 ASVG). Dies wird teilweise kompensiert, indem letzterer bei Pensionen bei geminderter Arbeitsfähigkeit durch Anrechnung fiktiver Versicherungszeiten bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres aufgestockt wird, was aber idR maximal zu einer Leistung iHv 60 % der Bemessungsgrundlage führen darf (§ 261 Abs 3 und 5 ASVG).

Das bringt durchschnittliche Nettoersatzraten zwischen 78,4 % bei den männlichen Angestellten und 69,3 % bei den Arbeiterinnen.* Die im Erwerbsleben bestehenden Einkommensunterschiede werden damit verschärft,* was aber – auf Grund der Anrechnung des (oft höheren) Ehegatten-Einkommens (vgl nur § 292 Abs 2 ASVG) – andererseits eine Erklärung dafür sein könnte, dass mehr Männer auf eine Ausgleichszulage zu ihrer geminderten Arbeitsfähigkeitspension angewiesen sind als Frauen.*

D. Eigenverantwortung der Versicherten:

Angesichts der vielfach doch sehr bescheidenen Leistungshöhe ist bei völliger Arbeitsunfähigkeit für (zusätzliche) Eigenverantwortung wenig Raum – und auch kein rechtspolitischer Bedarf. Dass dennoch Möglichkeiten für Anreize bestehen, zeigt das – gleichwohl offenbar wenig genutzte – Teilpensionsmodell nach § 254 Abs 6 ff ASVG, das Erwerbseinkommen von derzeit € 1.108,17 (Art 1 § 2 Z 43 VO BGBl 2012/441) völlig unberücksichtigt lässt und selbst bei hohen Einkünften zumindest einen Teilbetrag iHv 50 % der ermittelten Pension gewährleistet (§ 254 Abs 7 Z 4 ASVG).

E. Schnittstellen:

Bei völliger Arbeitsunfähigkeit gibt es wohl auch wenig spezifische Schnittstellenprobleme mit anderen Systemen. Die allfällige Ergänzung der Leistungen aus der PV, insb durch Versehrtenrenten aus der gesetzlichen UV, findet ungeschmälert statt. Für die subsidiären Systeme im Rahmen der Behindertenhilfe der Länder oder – insb im Falle der Notwendigkeit einer stationären Pflege – der Sozialhilfe gilt eine Pension bei geminderter Arbeitsfähigkeit ebenso als vorrangig (vgl auch § 324 Abs 3 ASVG) bzw sogar als Ausschlussgrund wie andere bundesgesetzliche Leistungen.

F. Rechtsdurchsetzung:

Auch besondere Probleme beim Zugang zum Recht sind für Pensionsversicherungsleistungen bei völliger Arbeitsunfähigkeit nicht ersichtlich.

G. Sonstiges:

Ein ganz spezifisches Problem in Zusammenhang mit geminderten Arbeitsfähigkeitspensionen bei völliger Arbeitsunfähigkeit soll aber noch angesprochen werden. Dieses betrifft die schon erwähnten Regelungen wie in § 255 Abs 7 ASVG, die zwar einen (erleichterten) Zugang zur PV für Menschen mit von vornherein fehlender oder sehr geringer Arbeitsfähigkeit schaffen sollten,* aber wohl eine – und zwar nicht nur rechtspolitisch – unzureichende Korrektur bewirkt haben.

Diese Bestimmungen wurden beschlossen, nachdem die Rsp in durchaus nachvollziehbarer Weise vertreten hat, dass das für die einschlägigen Pensionen konstitutive Herabsinken der Arbeitsfähigkeit hier nicht vorliege und Ansprüche wegen geminderter Arbeitsfähigkeit daher nicht in Betracht kämen.* Durch BGBl I 2003/145 wurde dies korrigiert und ein Anspruch bei „originärer Invalidität“ geschaffen, der allein davon abhängig ist, dass 120 Beitragsmonate zur Pflichtversicherung in der PV vorliegen.* Als solche Beitragsmonate sollen die Teilversicherungszeiten nach § 8 Abs 1 Z 2 ASVG allerdings nicht gelten.* Diese Auffassung hat Zustimmung im Schrifttum gefunden, weil sonst eine Benachteiligung der betreffenden Zeiten eingetreten wäre, wenn sie vor der „Pensionsharmonisierung“ zurückgelegt worden waren, die damals368 als bloße Ersatzzeiten qualifiziert wurden (vgl § 227 ASVG). Diese Ungleichbehandlung könnte aber nicht nur durch eine teleologische Reduktion der „Beitragsmonate der Pflichtversicherung“ vermieden werden, sondern evtl auch durch eine – analoge – Anerkennung früherer Ersatzzeiten, die nun in Zeiten des Pensionskontos als Teilversicherungszeiten gelten. Allein, das Problem scheint viel grundsätzlicher:

Auch nach der Rechtslage vor der 61. ASVG-Novelle mussten Personen, die trotz einer objektiv kaum oder gar nicht gegebenen Arbeitsfähigkeit – sei es auf Grund besonderer Anstrengungen, sei es auf Grund des Entgegenkommens eines DG – einer Erwerbstätigkeit nachgehen, für diese Sozialversicherungsbeiträge wie alle anderen Versicherten entrichten, ohne jedoch einen realistischen Anspruch auf eine Pensionsversicherungsleistung zu haben. Der VfGH räumt dem Gesetzgeber hier zwar einen großen Spielraum ein, weil die SV eben nicht vom Äquivalenzprinzip dominiert wird, erachtet es aber sehr wohl als problematisch, wenn einer Beitragspflicht nicht einmal theoretisch oder nur in Ausnahmefällen ein Leistungsanspruch gegenübersteht.* Nach der früheren Rechtslage war für von vornherein (de facto) Arbeitsunfähige ein Anspruch auf eine geminderte Arbeitsfähigkeitspension jedenfalls ausgeschlossen, und ein Anspruch auf eine Alterspension angesichts der dort geforderten 180 Versicherungsmonate in noch weiterer Ferne. Es mag dem Gesetzgeber freistehen, den Versicherungsfall „geminderte Arbeitsfähigkeit“ so zu definieren, dass solche Personen nicht erfasst sind, dann darf er sie aber nicht den gleichen Beitragspflichten unterwerfen wie andere Versicherte!

Die Korrektur durch BGBl I 2003/145 war daher als „Entgegenkommen“ des Gesetzgebers gedacht,* hat indes objektiv auch eine sonst kaum vermeidbare Verfassungswidrigkeit verhindert. Die diesbezüglichen Bedenken sind aber noch immer nicht ausgeräumt. Nach wie vor steht der herkömmlichen Beitragspflicht eine wesentlich schlechtere Chance auf Leistungen der PV gegenüber. Dies umso mehr, als vorliegend die angesprochenen Teilversicherungszeiten oder länger zurückliegende Ersatzzeiten nicht pensionswirksam sein sollen. Diese Differenzierung wird noch bedenklicher, wenn man sie den – an sich begrüßenswerten – Begünstigungen gegenüberstellt, die sonst bei der Wartezeit und bei der Leistungsbemessung bei geminderten Arbeitsfähigkeitspensionen gelten (siehe oben B. und C.). Auf den Punkt gebracht wird von Menschen, die trotz objektiv (weitgehend) fehlender Arbeitsfähigkeit einer Erwerbstätigkeit nachgehen, bei grundsätzlich gleicher Beitragspflicht zumindest das 20-fache an Beitragszeiten verlangt als von allen anderen Versicherten.

All diese Nachteile betreffen nun ausschließlich Menschen mit Behinderungen. Wie das mit dem besonderen Benachteiligungsverbot in Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG* vereinbar sein soll bzw worin eine Rechtfertigung für diese Differenzierung liegen sollte, ist nicht ersichtlich. Darüber hinaus sind Art 21 Abs 1 EGRC,* der ein vergleichbares ausdrückliches Diskriminierungsverbot enthält, sowie die völkerrechtliche Verpflichtung in Art 28 Abs 2 lit b des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BGBl III 2008/155) zu beachten, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, diesen Personen einen „gleichberechtigten Zugang zu Leistungen und Programmen der Altersversorgung zu sichern“. Auch wenn die innerstaatliche Relevanz der EGRC noch unklar ist* und die UN-Konvention nur unter Erfüllungsvorbehalt ratifiziert wurde, müssen diese Vorgaben zumindest bei der Prüfung berücksichtigt werden, ob die weitgehende konstruktionsbedingte Einschränkung der Pensionsansprüche von Personen, die trotz von vornherein (de facto) bestehender Arbeitsunfähigkeit erwerbstätig sind und Sozialversicherungsbeiträge entrichten, gerechtfertigt werden kann. Diese Rechtfertigung kann mE trotz Bestimmungen wie § 255 Abs 7 ASVG ebenso wenig gelingen wie die Qualifikation dieser Konstellationen als Ausnahmefälle, die bei einer generalisierenden Betrachtung eben vorkommen (dürften).

4.3
Grundtypus (2): Geminderte Arbeitsfähigkeit länger, aber medizinisch beeinflussbar

A. Zuordnung im System:

Trotz der durchaus auch systemischen Bedeutung des eben geschilderten Problems ist schon rein quantitativ die Dimension der Fragen im Hinblick auf den Grundtypus (2) eine wesentlich größere. Nicht bloß vorübergehende, aber durch medizinische Rehabilitation beeinflussbare geminderte Arbeitsfähigkeit war zwar bisher schon erfasst. Die Zuständigkeit für die Gewährung der entsprechenden Maßnahmen für erwerbstätige Versicherte und BezieherInnen von Pensionen bei geminderter Arbeitsfähigkeit lag vorrangig bei der PV.* Daran soll sich nach der Neuordnung durch das SRÄG 2012 grundsätzlich auch nichts ändern. Die Rahmenbedingungen für Versicherte der Jahrgänge 1964 und später werden sich aber ab 2014 doch deutlich verschieben.

Das betrifft freilich nur die mittlere der drei schon bestehenden, nach der (voraussichtlichen) Dauer der geminderten Arbeitsfähigkeit gestaffelten Gruppen. Wie bisher lösen weniger als sechs Monate dauernde Beeinträchtigungen keine Leistungsansprüche in der PV aus (vgl nur §§ 254 Abs 1 Z 2 bzw 271 Abs 1 Z 2 ASVG, jeweils idF seit dem BBG 2011). Das erscheint sachgerecht und mit der Erfassung des Grundtyps (1)369 gut abgestimmt. Auch bei Versicherten mit dauernd geminderter Arbeitsfähigkeit ändert sich nichts, sie dürfen wie bisher (vgl §§ 256 Abs 2 bzw 271 Abs 3 ASVG) mit einer unbefristeten Pension rechnen. Bei voraussichtlich für mehr als sechs Monate, aber nicht für immer bestehender geminderter Arbeitsfähigkeit wird dagegen statt einer befristet zuerkannten Pension künftig die KV ins Spiel gebracht.

Diese Verschiebung ist plausibel, vor allem, wenn sie von der Überlegung getragen ist, Versicherte möglichst lange von Pensionsversicherungsleistungen „fernzuhalten“ und ihnen dafür medizinische Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Bei genauerer Betrachtung findet freilich keine Verschiebung statt, sondern wird eine hybride Zuständigkeit begründet, die viele Fragen aufwirft. Die KV ist nämlich für keine der für Versicherte des Typus (2) vorgesehenen drei inhaltlichen Neuerungen wirklich verantwortlich: Für den Rechtsanspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation ist die PV zuständig;* für den Anspruch auf Rehabilitationsgeld fungiert der Krankenversicherungsträger im Grunde nur als Auszahlungsstelle; und auch für das dem Krankenversicherungsträger obliegende Case-Management spielt der Pensionsversicherungsträger eine wichtige Rolle.

B. Art und Voraussetzungen für die Leistungen:

a) Mit der ersten dieser Änderungen wird zwar nicht inhaltlich, aber doch vom rechtlichen Rahmen Neuland beschritten. Ein gesetzlicher Anspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation war bisher weder in der KV noch der PV vorgesehen. Nach §§ 253f Abs 1 bzw 270b Abs 1 ASVG wird dies nun der Fall sein, wenn die Maßnahmen „zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit notwendig und infolge des Gesundheitszustands zweckmäßig“ sind. Der Begriff Arbeitsfähigkeit wird eher relativ als absolut zu verstehen,* dh stets mit Blick auf den jeweiligen Berufsschutz zu beurteilen, sein. MaW: Medizinische Rehabilitation ist dann notwendig, wenn damit ein Maß an Arbeitsfähigkeit erreicht werden kann, dass keine geminderte Arbeitsfähigkeit iSd §§ 255 bzw 273 ASVG vorliegt.

Die Maßnahmen müssen aber auch zweckmäßig und ausreichend, dürfen aber nicht mehr als notwendig sein. Dieser Maßstab in §§ 253f Abs 2 bzw 270b Abs 2 ASVG ist erkennbar an die Prinzipien der Krankenbehandlung angelehnt (§ 133 Abs 2 Satz 1 ASVG) und wird daher wie dort zu verstehen sein.* Auch inhaltlich gibt es viele Parallelen zum Leistungsrecht der KV, der Leistungskatalog entspricht dem schon bisher Bekannten und umfasst stationäre wie ambulante Maßnahmen, aber auch Körperersatzstücke und andere Hilfsmittel.*

Einige dieser Leistungen können auch während beruflicher Rehabilitation in Betracht kommen. Sofern also der Zweck letzterer nicht vereitelt wird (etwa durch einen längeren stationären Aufenthalt), kann ein Anspruch auf medizinische Maßnahmen auch neben solchen auf berufliche Rehabilitation bestehen. Das ist gesetzlich nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern e-contrario aus § 143a Abs 1 ASVG abzuleiten.

b) Die zuletzt genannte Bestimmung betrifft den Anspruch auf Rehabilitationsgeld. Dieser setzt die negative bescheidmäßige Feststellung voraus, dass zwar vorübergehende, aber voraussichtlich länger als sechs Monate dauernde geminderte Arbeitsfähigkeit vorliegt, dass jedoch berufliche Maßnahmen (objektiv) nicht zweckmäßig oder (subjektiv) nicht zumutbar sind. Ein ausdrücklicher Antrag ist nicht erforderlich, der Antrag auf eine Pension bei geminderter Arbeitsfähigkeit gilt vielmehr nach § 361 Abs 1 letzter Satz ASVG – und zwar vorrangig – als Antrag auf Rehabilitationsleistungen, wozu seit dem SRÄG dezidiert auch das Rehabilitationsgeld zählt.

Auch eine spezielle zeitliche Begrenzung dieses Anspruchs ist nicht vorgesehen; die Leistung gebührt vielmehr „ab Vorliegen“ der geminderten Arbeitsfähigkeit und „für deren Dauer“. Die erste Formulierung legt eine gegebenenfalls auch rückwirkende Zuerkennung nahe. Und eine solche ist in der Tat geboten, unabhängig davon, ob es sich hier um eine Leistung der KV oder doch der PV handelt (dazu unten F.): In § 117 Z 3 ASVG ist eine Gleichsetzung des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit mit jenem der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit im Rahmen der KV vorgesehen, eine Festlegung des Eintritts des Versicherungsfalls wie bei letzterem gibt es dagegen nicht. Das ist wohl planwidrig, so dass eine analoge Anwendung des § 120 Z 2 ASVG naheliegt, was zum Beginn des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld bereits mit dem (freilich zu objektivierenden) Eintritt der geminderten Arbeitsfähigkeit führt.* Dies deckt sich auch mit der allgemeinen Regelung in § 85 Abs 1 ASVG, nach der Leistungsansprüche grundsätzlich mit der Erfüllung der jeweiligen Voraussetzungen entstehen und die Leis tungen – in Ermangelung einer Sonderregelung – mit dem Entstehen des Anspruchs anfallen (§ 86 Abs 2 ASVG).

Das Rehabilitationsgeld gebührt solange, als die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen.* Eine Begrenzung ergibt sich daher nur durch den Entfall von Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit oder Zumutbarkeit der Maßnahmen, was idR entweder mit dem Wegfall der geminderten Arbeitsfähigkeit oder mit deren Entwicklung zu einem dauerhaften Zustand zusammenhängen wird. Ob das der Fall ist, hat der Krankenversicherungsträger bei Bedarf, aber zumindest nach (jeweils) einem Jahr im Rahmen des Case-Managements zu überprüfen (dazu unten E.).370 Ansonsten endet der Anspruch durch Entziehung, insb wegen Verweigerung der zumutbaren Mitwirkung an den Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation (§ 143a Abs 4 ASVG).* Diese Entscheidung obliegt ebenso wie die Zuerkennung der Leistung dem Pensionsversicherungsträger (Abs 1 letzter Satz leg cit, siehe auch unten F.).*

C. Höhe der Leistungen:

Das Rehabilitationsgeld gebührt grundsätzlich in gleicher Höhe wie das Krankengeld, also zunächst mit 50 % und ab dem 43. Tag mit 60 %, wobei nicht von der Bemessungsgrundlage bei Eintritt des Versicherungsfalls, sondern jener, die sich aus der letzten Erwerbstätigkeit ergibt, auszugehen ist (§ 143a Abs 2 Satz 1 ASVG).* Liegen vor dem Anspruch auf Rehabilitationsgeld Zeiten eines Krankengeld- oder Arbeitslosengeld- bzw Notstandshilfebezuges, sind diese also auszublenden.*

Anders als beim Krankengeld (vgl § 141 Abs 3 ASVG) ist hier keine Erhöhung(smöglichkeit) vorgesehen, wenn die anspruchsberechtigte Person für Angehörige zu sorgen hat. Das wird auch durch den nach § 143a Abs 2 Satz 2 ASVG zu gewährleistenden Mindestbetrag in Höhe des Alleinstehenden-Ausgleichszulagenrichtsatzes nicht kompensiert. Auch dort ist eine Erhöhung für Kinder vorgesehen (vgl nur § 293 Abs 1 letzter Satz ASVG), zudem besteht bei (auch befristeten) Pensionen ein Anspruch auf Kinderzuschuss (§ 262 ASVG). Dass solche Vorkehrungen beim Rehabilitationsgeld fehlen, erscheint planwidrig, umso mehr, als diese Leistung an die Stelle der befristeten geminderten Arbeitsfähigkeitspensionen treten soll. Sollte diese Lücke nicht durch analoge Anwendung zumindest der sonst in der PV vorgesehenen Erhöhungsansprüche im Hinblick auf zu versorgende Angehörige geschlossen werden können, müssten erhebliche Bedenken gegen die sachliche Rechtfertigung (und damit die Verfassungsmäßigkeit) der insoweit undifferenzierten Bemessung des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld erhoben werden.

Solche Bedenken drängen sich auch angesichts der Bindung der Aufstockung dieser Leistung auf den Ausgleichszulagenrichtsatz an den rechtmäßigen Aufenthalt im letzten Satz des § 143 Abs 2 ASVG auf. Dieser Zusatz mag im Hinblick auf das in § 292 Abs 1 ASVG gleichermaßen vorgesehene Kriterium nur „routinemäßig“ erfolgt sein. Anders als dort scheinen aber die Vorbehalte gegenüber einer allenfalls unerwünschten Inanspruchnahme österreichischer Sozialversicherungsleistungen durch ausländische Staatsangehörige* nicht angebracht.

Die Höhe des Rehabilitationsgeldes kann schließlich durch die Anrechnungs- bzw Ruhensbestimmungen in § 143a Abs 3 ASVG beeinflusst werden. Dass Erwerbseinkommen über der Geringfügigkeitsgrenze (wie bei der Teilpension nach § 254 Abs 7 ASVG) angerechnet werden, erscheint ebenso sachgerecht wie der Vorrang der neuen Leistung gegenüber einem Anspruch auf Kranken-* oder Übergangsgeld (vgl § 306 Abs 1 ASVG). Ob es dagegen für das durch den Verweis auf § 143 Abs 1 Z 3 ASVG angeordnete Ruhen des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld bei arbeitsrechtlicher Entgeltfortzahlung ein Anwendungsfeld geben wird, ist angesichts der Zielgruppe dieser Leistung mehr als fraglich. Der damit unterstrichene Zugang zu dieser Leistung bei noch aufrechtem Arbeitsverhältnis ist gleichwohl begrüßenswert.

D. Eigenverantwortung der Versicherten:

Auf den ersten Blick wird die erstmalige Einräumung eines Rechtsanspruchs auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation als Fortschritt erscheinen. Abgesehen von den Unwägbarkeiten der Anspruchsvoraussetzungen Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit ist dagegen aber vor allem einzuwenden, dass es gar keinen eigenständigen Anspruch auf diese Maßnahmen gibt. Nach dem Gesetz ist kein gesonderter Antrag vorgesehen, sondern muss entweder ein Antrag auf Feststellung der geminderten Arbeitsfähigkeit (§§ 255a bzw 273a ASVG) oder aber auf eine entsprechende Pension gestellt werden (§ 361 Abs 1 letzter Satz ASVG). In beiden Fällen ist eine negative Entscheidung (Ablehnung der dauernden geminderten Arbeitsfähigkeit bzw Ablehnung der Pension, siehe auch unten F.) vorausgesetzt und der/die Versicherte bekommt etwas anderes als eigentlich angestrebt war! So gesehen erweist sich der Rechtsanspruch eher als „Zwangsbeglückung“, die noch dazu mit der schon erwähnten Sanktion der (zumindest temporären) Entziehung des Rehabilitationsgeldes nach § 143a Abs 4 ASVG durchgesetzt werden kann. Es wird daher entscheidend darauf ankommen, wie (behutsam!) die Praxis und vor allem die Rsp die Frage der Zumutbarkeit von medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen handhabt.

E. Schnittstellen:

Auch Schnittstellenprobleme sind zu erwarten, von denen hier nur einige angedeutet werden können. Das beginnt mit der Abgrenzung der medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation in der PV zum Anspruch auf Krankenbehandlung* bzw zu den Hilfen bei Gebrechen oder den Maßnahmen zur Festigung der Gesundheit in der KV. Zu nennen ist in weiterer Folge die Frage des – in Hinkunft mehr denn je erforderlichen – Datenaustausches zwischen den einzelnen Trägern, der weit über die bloße Bescheidübermittlung hinausgehen muss, wie sie nun in § 368a ASVG vor371gesehen ist. Die hier auftauchenden Fragen* wurden mittlerweile durch die mit dem SVÄG 2013 eingefügten Bestimmungen über das „Zusammenwirken“ in §§ 459h und 459i ASVG wenn nicht gelöst, aber jedenfalls nachhaltig angegangen.

Eine andere Schnittstelle betrifft das Case-Management, das eigentlich die Hauptaufgabe der Krankenversicherungsträger im neuen Rehabilitationskonzept darstellt. Das hier zu bestellende Aufgabenfeld ist bereits nach § 143b ASVG weit gefasst und wird noch anspruchsvoller, wenn man die Konkretisierung in den Gesetzesmaterialien ernst nimmt.* Das soll nun aber alles von einer Stelle besorgt werden, die eigentlich für die Sache kaum zuständig ist: Um es noch einmal zu unterstreichen, die Entscheidung über den Anspruch auf Rehabilitationsgeld und dessen Entziehung, die Vorsorge für und die Finanzierung der medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation sowie die Organisation und Durchführung der Begutachtung im Kompetenzzentrum obliegt dem Pensionsversicherungsträger, der folgerichtig dann auch für die Tragung der Kosten zuständig ist, die dem jeweiligen Krankenversicherungsträger erwachsen.* Dass letztere von ihrem Selbstverständnis und ihrer Sachkompetenz ein gutes Case-Management besorgen könnten, soll nicht bezweifelt werden. Dass der Krankenversicherungsträger aber gesetzlich damit betraut wird, die Kernagenden anderer Träger zu koordinieren, darüber zu informieren und sich um Personen zu kümmern, die von der KV gar nichts wollen, ergibt – und zwar nicht nur aus (verwaltungs)ökonomischen Überlegungen – keinen Sinn.

F. Rechtsdurchsetzung:

Ein ganz besonderes Schnittstellenproblem im neuen Recht betrifft den Rechtsschutz. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der Zugang sowohl zu den medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation als auch zum Rehabilitationsgeld nur über einen (zumindest teilweise) negativen Bescheid des Pensionsversicherungsträgers führt. Der/die Versicherte muss also etwas anderes beantragen als er/sie eigentlich will oder bekommt etwas anders als beantragt. Dagegen besteht natürlich ein Klagerecht an das Arbeits- und Sozialgericht. Bekämpft kann nun sowohl die Ablehnung der dauernden geminderten Arbeitsfähigkeit und damit des Pensionsanspruchs als solches als auch der Zuspruch einer bestimmten (aber möglicherweise unzweckmäßigen oder unzumutbaren) Rehabilitationsmaßnahme werden. Geklagt werden könnte aber auch gegen die Höhe des zuerkannten Rehabilitationsgeldes oder dessen Entziehung wegen Verweigerung der zumutbaren Mitwirkung.

Während es sich bei ersteren eindeutig um Leistungen der PV handelt, für die nach § 67 Abs 2 ASGG* eine dreimonatige Klagsfrist gilt, ist zweifelhaft, ob Klagen, die das Rehabilitationsgeld betreffen, nach dieser Bestimmung nicht innerhalb von vier Wochen ab Bescheidzustellung erhoben werden müssen. * Das Rehabilitationsgeld gilt nämlich, wie schon festgehalten, nach § 117 Z 3 ASVG als Leistung der KV aus dem dort neuen Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit. Das ist aber genau genommen der einzige Anknüpfungspunkt, alle anderen Bezüge bestehen viel stärker zur PV (Antragstellung, Zuständigkeit zur Bescheiderlassung, Untersuchung, Finanzierung, inhaltliche Verknüpfung mit den Rehabilitationsmaßnahmen etc), so dass der Krankenversicherungsträger als bloße Auszahlungsstelle gesehen werden kann. Insofern schiene es vertretbar, die Wendung „Leistungen der Pensionsversicherung“ in § 67 Abs 2 ASGG materiell (und nicht iSd Aufzählungen in §§ 117 bzw 222 ASVG) zu verstehen und somit für alle Fragen, die aus einer Entscheidung über einen Antrag nach §§ 255a, 273a oder 361 Abs 1 ASVG resultieren, dieselben Verfahrensvoraussetzungen anzuwenden.

Auf diese Weise könnten unterschiedliche Verfahrensläufe und inhaltliche Diskrepanzen vermieden werden, die sonst sachlich kaum gerechtfertigt werden können. Besonders grotesk erscheint die Konstellation, dass Bescheide über Leistungen der KV binnen zwei Wochen nach Einbringung des Antrags zu erlassen sind, während für solche aus der PV sechs Monate Zeit ist (§ 368 Abs 1 ASVG). Wäre das Rehabilitationsgeld auch in prozeduraler Hinsicht als Krankenversicherungsleistung zu sehen, müsste also darüber wesentlich früher entschieden werden als über den eigentlichen Antragsgegenstand nach § 361 Abs 1 ASVG. Der gleiche Unterschied besteht bei der Zulässigkeit einer Säumnisklage nach § 67 Abs 1 Z 2 ASGG.* Der Ausweg, die Verfahren klarer zu trennen und etwa die Feststellung der Höhe des Rehabilitationsgeldes durch den Krankenversicherungsträger zwar innerhalb von zwei Wochen, aber erst ab Übermittlung des grundsätzlichen Zuerkennungsbescheides des Pensionsversicherungsträgers zu verlangen, bietet sich wohl nur rechtspolitisch an. Solange diese Lösung aus dem Gesetz aber nicht ableitbar ist, liegt es näher, das Rehabilitationsgeld – gleichsam sicherheitshalber – als Pensionsversicherungsleistung zu qualifizieren.

4.4
Grundtypus (3): Geminderte Arbeitsfähigkeit dauerhaft und nicht reversibel

A. Zuordnung im System:

Länger dauernde, (medizinisch) nicht reversible Einschränkungen bilden fraglos den rechts- und sozi372alpolitisch heikelsten Grundtypus „geminderte Arbeitsfähigkeit“. Im Gegensatz zu den anderen Konstellationen geht es hier (fast) ausschließlich um die Frage, ab wann geminderte Arbeitsfähigkeit anzuerkennen ist bzw welche berufliche Umorientierung von dem/der Versicherten verlangt wird. Das jede sozialstaatliche Regelung prägende Thema der Balance zwischen Eigenverantwortung und Solidarität* erfährt hier eine ganz konkrete Ausprägung, insb in Form des Berufsschutzes. Dieser besteht aus einem historisch erklärbaren, aber letztlich recht zufälligen Mix* aus Kriterien wie Qualifikation, sozialer Status, Dauer der Ausübung einer bestimmten Tätigkeit, in gewisser Weise auch Einkommen, die zum Teil jeweils durch das Alter noch überlagert werden. Dieser Berufsschutz bleibt durch das SRÄG 2012 als solcher unangetastet.

Damit bringt die Reform keine unmittelbare Lösung für Probleme, wie die abstrakte Verweisung von Versicherten unter Ausblendung der tatsächlichen Beschäftigungsmöglichkeiten oder die notorisch unrealistischen Verweisungsberufe bei ungelernten ArbeiterInnen. Der unzureichende Bezug zum Arbeitsmarkt wird aber insofern überwunden, als – endlich – eine Verschränkung mit dem AMS erfolgt, die über die wechselseitige Anerkennung der Bescheide und einen grundsätzlich identen Begriff der Arbeitsunfähigkeit (vgl schon bisher § 8 AlVG)* hinausgeht. Dennoch wird auch hier die zentrale Rolle der PV fortgeschrieben.

B. Art und Voraussetzungen für die Leistungen:

Wie schon mehrfach erwähnt, ist es nämlich der Pensionsversicherungsträger, der zuerst – mittels Bescheid – entscheiden muss, und zwar nicht nur ob bzw voraussichtlich für wie lange geminderte Arbeitsfähigkeit vorliegt, sondern auch ob berufliche Maßnahmen der Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar sind, sowie welches Berufsfeld dafür in Betracht kommt (§ 367 Abs 4 ASVG). Erst bei Vorliegen dieser Entscheidung besteht beim AMS Anspruch auf Umschulungsgeld nach § 39b AlVG.

Dieses gebührt nach Abs 1 leg cit für die Dauer der Bereitschaft zur aktiven Teilnahme an den betreffenden beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation, die vom AMS zu organisieren (vgl insb § 29 Abs 4 AMSG), deren Kosten aber vom Pensionsversicherungsträger zu tragen sind (§ 307a ASVG bzw § 16 AMPFG).* Der Anspruch auf Umschulungsgeld setzt nicht voraus, dass die betreffende Person arbeitslos ist oder die Arbeitslosigkeit bereits eine bestimmte Zeit gedauert hat, auch die Anwartschaft muss nicht erfüllt sein, ja selbst ein Studium steht dem Anspruch nicht entgegen.* Der/die Versicherte muss lediglich im Ausmaß von 20 (bei Betreuungspflichten gegenüber bis zu zehnjährigen Kindern oder solchen mit Behinderung: 16) Wochenstunden für die Rehabilitationsmaßnahmen zur Verfügung stehen (§ 39b Abs 5 Satz 3 AlVG).

Der Beginn des Anspruchs auf Umschulungsgeld ist grundsätzlich mit seiner Geltendmachung, also mit der Antragstellung nach § 46 AlVG, festzumachen. Nach § 39b Abs 1 Satz 2 entsteht der Anspruch aber uU schon früher, nämlich mit der Feststellung des Pensionsversicherungsträgers, sofern die Geltendmachung innerhalb von vier Wochen nach dieser erfolgt. Hier ist nicht klar, was unter „Feststellung“ zu verstehen ist, das in der Praxis nun offenbar angestrebte Abstellen auf das Datum des Pensionsversicherungsbescheides ist die wohl nächstliegende Lösung.*

Für das Ende des Anspruchs ist die Beendigung der Maßnahme, genauer das Ende des Monats, in dem diese Beendigung erfolgt, maßgebend (§ 39b Abs 1 Satz 1 aE). Nach Satz 3 dieser Bestimmung besteht der Anspruch dagegen weiter, wenn das AMS zur Auffassung gelangt, dass berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht (mehr) möglich sind, und zwar solange, bis der Pensionsversicherungsträger neuerlich entschieden hat. Diese Entscheidung kann nur darin bestehen, dass nun doch dauerhafte geminderte Arbeitsfähigkeit anzunehmen ist oder aber dass zuerst medizinische Maßnahmen der Rehabilitation erforderlich sind. Wer diese Entscheidung herbeiführen soll und warum der/die Versicherte – angesichts des weiterlaufenden Bezuges – das tun soll, ist nicht ersichtlich.* Praktisch wird eine allfällige Mitteilung des AMS wohl eine amtswegige Wiederaufnahme des Verfahrens bei der PV zur Folge haben.*

Sehr wohl Vorsorge getroffen ist dagegen für den Fall, dass die berufliche Rehabilitation zwar abgeschlossen ist, der/die Versicherte aber dennoch keine Beschäftigung findet. Bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen besteht hier ein herkömmlicher Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe; die Zeiten der Rehabilitation sind auf die Anwartschaft anzurechnen bzw bewirken zumindest eine Rahmenfristerstreckung (vgl §§ 14 Abs 4 lit g bzw 15 Abs 1 Z 4 AlVG).

C. Höhe der Leistungen:

Das Umschulungsgeld orientiert sich am (fiktiven) Arbeitslosengeld (§ 39b Abs 4 Satz 1 AlVG). In der Phase der Auswahl und Planung der Maßnahme (dazu auch unten E.) gebührt das Umschulungsgeld genau in dieser Höhe. Während der aktiven Mitwirkung an den Maßnahmen (dazu sogleich D.) ist der Grundbetrag des Arbeitslosengeldes (§ 21) um 22 %373 zu erhöhen und um allfällige Familienzuschläge (§ 20 Abs 2 ff AlVG) zu ergänzen. Dabei ist ein Mindestbetrag in Höhe des Alleinstehenden-Ausgleichszulagenrichtsatzes einschließlich anteiliger Sonderzahlungen zu gewährleisten, womit der Familienbezug stärker gegeben ist als beim Rehabilitationsgeld. Im Vergleich zum bisher für Zeiten einer Rehabilitation gebührenden Übergangsgeld wird die neue Leistung aber idR geringer ausfallen, sind doch nach § 306 Abs 2 und Abs 3 ASVG Erhöhungen der Berechnungsgrundlage für jede/n Angehörige/n vorgesehen und als Mindestsatz der jeweilige – also familienbezogene – Ausgleichszulagenrichtsatz zugrunde zu legen. Damit ist der Anreizeffekt in Hinkunft tendenziell kleiner als nach bisherigem Recht. Dem stehen jedoch – zumindest auf dem Papier – gestiegene Anforderungen an die Versicherten gegenüber.

D. Eigenverantwortung der Versicherten:

Deren Anspruch auf Umschulungsgeld setzt nämlich eine „aktive Teilnahme“ (in der Auswahl- und Planungsphase) bzw „aktive Mitwirkung“ (in der Maßnahme selbst) voraus. Wird diese Verpflichtung ohne wichtigen Grund verletzt, kann dieselbe Sanktion verhängt werden wie bei Weigerung der Annahme/Vereitelung einer zumutbaren Beschäftigung durch eine arbeitslose Person (§ 39b Abs 3 iVm § 10 Abs 1 AlVG). Nach den Materialien sind die Versicherten hier zur aktiven Mitarbeit an den Maßnahmen verpflichtet, passive Anwesenheit genügt dagegen nicht.* Dem ist rechtspolitisch an sich wenig entgegenzuhalten. Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass es sich hier (jedenfalls zunächst) überwiegend um Personen handeln wird, die eigentlich einen Antrag auf eine Pension bei geminderter Arbeitsfähigkeit gestellt haben!

E. Schnittstellen:

Der Erfolg der Rehabilitationsmaßnahmen wird nicht zuletzt davon abhängen, inwieweit der/die Versicherte darin eine wirkliche Chance sieht, wieder eine angemessene Beschäftigung zu finden. Dementsprechend hat der Pensionsversicherungsträger nach § 367 Abs 4 Z 3 ASVG sorgfältig zu prüfen, ob solche Maßnahmen zweckmäßig und zumutbar sind und „für welches Berufsfeld die versicherte Person ... qualifiziert werden kann“. Während die unbestimmten Rechtsbegriffe „zweckmäßig“ und „zumutbar“ durch die Verweisung auf §§ 303 Abs 3 bzw 4 ASVG eine gewisse Konkretisierung erfahren,* wird mit dem „Berufsfeld“ ein neuer Begriff eingeführt und nicht näher erläutert.*

Nach allgemeinem Verständnis handelt es sich dabei um eine zusammenfassende Bezeichnung für eine Gruppe inhaltlich oder funktional verwandter Berufe.* Ein derart grober Ansatz wie Wirtschaft, Bautechnik oder Gesundheit kann hier freilich nicht gemeint sein, auch eine Untergliederung von Tätigkeiten im Rahmen einer Branche* hilft nicht weiter. Auf der anderen Seite muss Berufsfeld etwas anderes sein als das Verweisungsfeld im Rahmen des Berufsschutzes: * Wenn solche Verweisungsmöglichkeiten noch vorliegen, ist ja die geminderte Arbeitsfähigkeit der betreffenden Person ohnedies zu verneinen.

Auf der anderen Seite bleibt eben dieser Berufsschutz weiter bestehen. Er wird daher als eine Art Korrektiv zu sehen sein, das einer allzu großzügigen Anwendung der Zumutbarkeitskriterien in § 303 Abs 4 ASVG im Wege steht. Die dort vorgesehenen, vor allem am bisherigen Qualifikationsniveau orientierten Beschränkungen einer „Rehabilitation nach unten“* stellen stark auf die Zustimmung der versicherten Person ab. Dadurch könnte im Verein mit der Anhörungspflicht nach § 366 Abs 4 ASVG* eine „Legitimation durch Verfahren“ für die Berufsfeldauswahl entstehen. In diese Richtung weist auch § 39b Abs 2 AlVG, der eine Abweichung von den Vorgaben im Pensionsversicherungsbescheid „unter besonderer Berücksichtigung der Nachfrage ... auf dem regionalen Arbeitsmarkt“ zulässt, wenn darüber Einvernehmen erzielt wird. Dies kann nur so verstanden werden, dass dem AMS ein gewisser Spielraum eingeräumt wird, in Abstimmung mit dem/der Versicherten die Rehabilitationsmaßnahmen auf ein ähnliches, aber gleichwertiges* Berufsfeld auszurichten.

Dem Vernehmen nach wird die Praxis überhaupt anders vorgehen:* Demnach soll der erste Schritt einer beruflichen Rehabilitation bereits erfolgen, bevor der Pensionsversicherungsträger den Bescheid nach § 367 Abs 4 ASVG erlässt und das AMS bereits vorher tätig werden. Eine derart vorgeschaltete mehrwöchige Berufsfindungs- bzw Orientierungsphase wird nicht nur die Treffsicherheit des folgenden Pensionsversicherungsbescheides, sondern vor allem die Motivation der betreffenden Person erhöhen, sich entsprechend in die dort festgelegten Maßnahmen einzubringen. Diese können zudem vom AMS besser vorbereitet werden, so dass ehestmöglich mit einer Umsetzung begonnen werden kann. In dieser Phase liegt allerdings noch keine Entscheidung vor, die einen374 Anspruch auf Umschulungsgeld eröffnen würde. Die Einkommenssicherung in dieser Zeit erfolgt durch das Arbeitslosengeld/die Notstandshilfe, weil für idR zumindest drei Monate von der betreffenden Person keine (über die Orientierungsmaßnahmen hinausgehende) Arbeitswilligkeit bzw Verfügbarkeit verlangt wird (vgl die Neufassung des § 8 Abs 4 AlVG).

Um sich trotz dieser Weichenstellung noch Alternativen offen zu halten und insb auf kurzfristige Entwicklungen am Arbeitsmarkt (iSd § 39b Abs 2 AlVG) reagieren zu können, ist offenbar geplant, dass das AMS nach der Berufsfindung drei konkrete Berufe vorschlägt, für die eine Rehabilitationsmaßnahme zweckmäßig und zumutbar ist. Diese Vorschläge sollen dann vom Pensionsversicherungsträger aufgegriffen und im Bescheid nach § 367 Abs 4 Z 3 ASVG festgeschrieben werden.

All das erscheint überaus sinnvoll und stimmig und setzt das Grundkonzept der Reform wesentlich besser um als es dem Gesetzgeber gelungen ist.* Allein, das Gesetz sieht diesen Ablauf nicht vor, so dass insb der/die Versicherte keinen Anspruch auf eine vorgeschaltete Berufsorientierung hat und auch keine Bindung des Pensionsversicherungsträgers an die konkreten Vorschläge des AMS besteht. Somit kommt der Rechtsdurchsetzung erneut zentrale Bedeutung zu.

F. Rechtsdurchsetzung:

Und hier stellt sich – noch viel stärker als beim Rehabilitationsgeld – das Problem des unterschiedlichen Rechtsschutzes. Gegen den Bescheid des Pensionsversicherungsträgers kann nach § 67 Abs 2 ASGG binnen drei Monaten Klage erhoben werden. Gegen die Entscheidung über die Höhe des Umschulungsgeldes oder dessen Sperre wegen Verletzung der Mitwirkungspflichten (insb auch, weil die angebotenen Maßnahmen nicht als zumutbar empfunden werden) muss dagegen Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben werden (vgl § 56 Abs 2 AlVG idF Art 10 BGBl I 2013/71). Die daraus potentiell resultierenden Divergenzen können wohl nur durch eine Gesetzesänderung gelöst werden, wobei die schon vorgeschlagene Einstufung des Umschulungsgeldes als Sozialrechtssache iSd § 65 ASGG durchaus ein Ausweg sein könnte.*

Ein anderes Verfahrensproblem lässt sich wohl bereits unter Heranziehung der Rsp zum noch geltenden Recht lösen: Wenn nämlich das Vorliegen von (zumindest vorübergehender) geminderter Arbeitsfähigkeit vom Pensionsversicherungsträger verneint wurde, das Gericht aber in der Folge feststellt, dass diese sehr wohl besteht, mangelt es an der Negativentscheidung iSd § 367 Abs 4 ASVG, die aber Voraussetzung für die nun statt den befristeten geminderten Arbeitsfähigkeitspensionen vorgesehenen Ansprüche ist. Die Situation ist insofern mit jener vergleichbar, in der nach bisherigem Recht das Vorliegen geminderter Arbeitsfähigkeit und damit auch der Anspruch auf berufliche Rehabilitation verneint wird (vgl § 254 Abs 1 Z 1 iVm § 253e ASVG in der grundsätzlich nur bis Ende 2013 geltenden Fassung). Hier geht der OGH* – zu Recht – davon aus, dass die versicherte Person im Gerichtsverfahren sowohl den Zuspruch der Pension als auch die Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen begehren oder beides als Haupt- und Nebenbegehren verknüpfen könnte. Falls Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation in Betracht kommen, muss das Gericht dem Pensionsversicherungsträger eine angemessene Frist zur Prüfung der Möglichkeiten einer beruflichen Rehabilitation einräumen und diesem insb ermöglichen, ein Berufsfindungsverfahren durchzuführen. Diese Vorgangsweise scheint problemlos auf die künftige Rechtslage übertragbar, wenngleich der Spielraum für die (oben E.) beschriebene pragmatische Vorgangsweise, die das AMS früher einbindet als gesetzlich vorgesehen, hier wesentlich geringer ist.

5
(Vorläufige) Einschätzung und Perspektiven

Auch wenn im vorliegenden Zusammenhang bei weitem nicht alle Fragen der Neuregelung – und schon gar nicht unter systemischen Blickwinkeln – beleuchtet werden konnten, lassen sich doch einige erste Einschätzungen vornehmen. Die wohl wichtigste davon ist, dass es zum Grundansatz der Reform durch das SRÄG 2012 keine Alternative gibt: Die „innere Verabschiedung“ von Versicherten in die Pension soll auch aus sozialpolitischen Gründen nach Möglichkeit verhindert oder doch nachhaltig verzögert werden.

Legt man in der Folge die unter 3. vorgeschlagenen Maßstäbe an das Reformvorhaben an, ist zunächst festzustellen, dass das Strukturprinzip Rehabilitation vor Pension viel zu kurz greift, wenn es nur der Pensionsvermeidung dient und bloß zu einer – statistisch bzw budgetär vorteilhaften – Verschiebung der Probleme in andere Bereiche führt. Die jüngsten Reformen sind von diesem Verdacht nicht freizusprechen, belasten doch Personen mit Anspruch auf Umschulungs- oder Rehabilitationsgeld die Pensionsstatistik nicht (mehr) und bewirken damit eine Anhebung des faktischen Pensionsantrittsalters.

Der psychologische Effekt dieser Verschiebung wäre zumindest genauso erwünscht. Auch er bleibt aber überschaubar, weil – aus gewiss nicht unsachlichen Überlegungen – der Pensionsversicherungsträger immer noch die zentrale Schaltstelle bleibt. Wie soll aber den Versicherten plausibel gemacht werden, dass sie weiterhin bei der PV hineingehen müssen, dort aber dann eine „Drehtür“ ist, die sie gleich wieder hinausbefördert und auf andere Zuständigkeiten – auch wenn diese ebenfalls gut begründbar sind – verweist, obwohl die PV stets federführend ist?375

Völlig unverständlich ist im Übrigen, dass eine grundlegende Reform angegangen wird, der aber durch das Übergangsrecht gleich wieder ein Gutteil an Wirksamkeit genommen wird. Dass eine Neuregelung eine längere Vorbereitungszeit braucht, ist evident. Dass von dieser jedoch bereits die Über-50-jährigen ausgeschlossen sind, wird vom verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz gewiss nicht gefordert. Abgesehen davon erscheint das Vertrauen auf eine befristete geminderte Arbeitsfähigkeitspension und de facto bisher kaum vorhandene Rehabilitationsleistungen nicht besonders schutzwürdig.

Was Art, Voraussetzungen und Höhe der Leistungen betrifft, ist zunächst der erstmalige ernsthafte Versuch einer Integration von Rehabilitationsmaßnahmen mit Rechtsanspruch und in dieser Zeit gewährten Einkommensersatzleistungen zu begrüßen. Die Konstruktion letzterer ist aber nur teilweise gelungen, wobei rechtspolitisch die (zu) geringe Anreizfunktion und dogmatisch das sachlich teilweise nicht mehr zu rechtfertigende Fehlen eines Familienbezugs zu problematisieren ist.

Dass die Eigenverantwortung tendenziell erhöht wird, sollte dagegen auch rechtspolitisch nicht strittig sein. Dass jedoch die Unterschiede zwischen den Berufsgruppen und vor allem die Benachteiligung der weniger Qualifizierten grundsätzlich unangetastet geblieben sind, ist eine der größten Schwächen der jüngsten Reformen. Der nach wie vor nicht gewährleistete Zugang zur beruflichen Rehabilitation für Unqualifizierte kann auch durch die – schon wegen dieser Funktion zweifelhafte* – „Härtefallregelung“ des § 255 Abs 3a und 3b ASVG nicht kompensiert werden.

Und dass andererseits die Zugangsvoraussetzungen für den Tätigkeitsschutz (§ 255 Abs 4 ASVG) eingeschränkt werden, mag unter dem Aspekt einer raschen Anhebung des statistischen Pensionsantrittsalters naheliegen, drängt aber gerade das „relativ fairste“ – und der Dynamik des aktuellen Erwerbslebens wohl am ehesten Rechnung tragende – Kriterium für die Erfassung einer geminderten Arbeitsfähigkeit (zumindest des Typs [3]) zurück.

Schließlich ist gerade im Hinblick auf die Schnittstellen und die Rechtsdurchsetzung zu konstatieren, dass die bisherigen Umsetzungsschritte der großen Reform nicht nur „kein legistisches Kunstwerk“ sind,* sondern zumindest ähnlich viele neue Probleme schaffen wie sie vielleicht zu lösen vermögen.

Insgesamt werden daher fraglos weitere Reformen der geminderten Arbeitsfähigkeitspensionen notwendig sein. Dabei wird vor allem der unterschiedliche Berufsschutz nicht mehr ausgespart bleiben werden können. Das muss freilich durch den Gesetzgeber erfolgen und nicht über eine Aushöhlung durch ein entsprechendes – und sei es noch so sinnvolles – Verständnis des „Berufsfeldes“ durch Praxis und Rsp. Die mit den jüngsten Reformen intendierte nachhaltige Hebung des faktischen Pensionsantrittsalters wird aber letztlich auch nicht ohne Hebung des gesetzlichen Regelpensionsalters und die rasche(re) Beseitigung von Ausnahmen auskommen.

Dazu bedarf es freilich massiver Flankierungen im Arbeitsrecht, in der Arbeitswelt und in der Gesundheitspolitik, insb durch betriebliche Gesundheitsförderung, verstärkten Einsatz von präventiven Instrumenten im Bereich der psychischen Gesundheit, Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung älterer AN sowie zur Beschränkung der Möglichkeit, solche Beschäftigungen zu beenden, um nur einige zu nennen. Die Diskussion von Systemfragen der geminderten Arbeitsfähigkeit hat so gesehen eigentlich erst begonnen.376