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Verschlechterungsschranken bei Kollektivvertragswechsel infolge Betriebsübergangs im öffentlichen Bereich (?)

SUSANNEMAYER (SALZBURG)
RL 77/187/EWG; RL 2001/23/EG
  1. Die Übernahme des bei einer Behörde beschäftigten Personals, das mit der Erbringung von Hilfsdiensten an Schulen betraut ist, durch eine andere Behörde stellt einen „Unternehmensübergang“ iSd RL 77/187/EWG dar, wenn dieses Personal aus einer strukturierten Gesamtheit von Beschäftigten besteht, die als AN nach dem innerstaatlichen Recht geschützt sind.

  2. Führt ein Übergang iSd RL 77/187 zur sofortigen Anwendung des beim Erwerber geltenden KollV auf die übergegangenen AN und sind die dort vorgesehenen Lohn- und Gehaltsbedingungen insb mit dem Dienstalter verknüpft, lässt es die RL nicht zu, dass diese AN erhebliche Kürzungen ihres Arbeitsentgelts im Vergleich zu ihrer Lage unmittelbar vor dem Übergang hinnehmen müssen, weil ihr beim Veräußerer erreichtes Dienstalter bei der Bestimmung ihres Anfangsgehalts nicht berücksichtigt worden ist.

  3. Die Inanspruchnahme der Möglichkeit, die für die übergegangenen AN nach dem beim Veräußerer geltenden KollV vorgesehenen Arbeitsbedingungen mit sofortiger Wirkung durch die nach dem beim Erwerber geltenden KollV vorgesehenen zu ersetzen, darf nicht zum Ziel oder zur Folge haben, dass diesen AN insgesamt schlechtere Arbeitsbedingungen als die vor dem Übergang geltenden auferlegt werden.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

28. Frau Scattolon, die [...] von der Gemeinde Scorzè in staatlichen Schulen als Hausmeisterin beschäftigt war, übte diese Tätigkeit als Mitglied des ATA-Personals der lokalen Gebietskörperschaften bis zum 31.12.1999 aus.

29. Ab dem 1.1.2000 wurde sie gem Art 8 des Gesetzes Nr 124/99 in den staatlichen Dienst als Mitglied des ATA-Personals des Staates übernommen.

30. Gem dem Ministerialdekret vom 5.4.2001 wurde Frau Scattolon in eine Gehaltsstufe eingestuft, die in diesem Dienst einem Dienstalter von neun Jahren entsprach.

31. Da ihr bei der Gemeinde Scorzè erreichtes Dienstalter von etwa 20 Jahren somit nicht anerkannt wurde und sie der Auffassung ist, dadurch eine erhebliche Lohneinbuße erlitten zu haben, erhob sie [...] Klage auf Anerkennung ihres gesamten genannten Dienstalters und [...] Einstufung in dieselbe Dienstaltersstufe wie das beim Staat beschäftigte ATA-Personal mit einem Dienstalter von 15 bis 20 Jahren [...].

33. Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Venezia das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Sind die RL 77/187 und/oder die RL 2001/23 [...] dahin auszulegen, dass sie auf einen Tatbestand der Übertragung des mit Hilfsdiensten der Reinigung und Instandhaltung der staatlichen Schulgebäude betrauten Personals von lokalen Gebietskörperschaften (Gemeinden und Provinzen) auf den Staat angewandt werden können, wenn die Übertragung zum Eintritt in Verpflichtungen nicht nur hinsichtlich der Tätigkeit und der Beziehungen zum gesamten betroffenen Personal (Schuldienern), sondern auch hinsichtlich der zur Erbringung dieser Dienstleistungen an private Unternehmen vergebenen öffentlichen Aufträge geführt hat?

2. Ist die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gem Art 3 Abs 1 Unterabs 1 der RL 77/187 (zusammen mit der RL 98/50 in die RL 2001/23 übernommen) iS einer Quantifizierung der beim Erwerber an das Dienstalter anknüpfenden Geldleistungen zu verstehen, die auch sämtliche vom übertragenen Personal zurückgelegten Jahre, einschließlich der der Beschäftigung beim Veräußerer, berücksichtigt?

3. Sind Art 3 der RL 77/187 und/oder die Richtlinien 98/50 und 2001/23 dahin auszulegen, dass die Rechte des AN, die auf den Erwerber übergehen, auch vom AN beim Veräußerer erworbene günstige Rechtspositionen wie das Dienstalter umfassen, wenn an die140ses gem dem für den Erwerber geltenden Tarifvertrag Ansprüche finanzieller Art anknüpfen? [...]

Zur ersten Frage [...]

39. Da sich auf die [...] Regelung [der Union zur Wahrung von Ansprüchen der AN] nur Personen berufen können, die in dem betreffenden Mitgliedstaat als AN nach nationalem Arbeitsrecht geschützt sind (vgl insb Urteile vom 10.12.1998, Hidalgo ua, C-173/96 und C-247/96, Slg 1998, I-8237, Rn 24, und vom 14.9.2000, Collino und Chiappero, C-343/98, Slg 2000, I-6659, Rn 36), ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das in den öffentlichen Schulen in Italien beschäftigte ATA-Personal [...] einen solchen Schutz genießt [...]

41. Die RL 77/187 in ihrer ursprünglichen Fassung war nach ihrem Art 1 Abs 1 „auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung anwendbar“ [...].

42. Der Begriff „Unternehmen“ iS von Art 1 Abs 1 der RL 77/187 umfasst jegliche auf Dauer angelegte wirtschaftliche Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Um eine solche Einheit handelt es sich bei jeder hinreichend strukturierten und selbständigen Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigenem Zweck (Urteile vom 10.12.1998, Hernández Vidal ua, C-127/96, C-229/96 und C-74/97, Slg 1998, I-8179, Rn 26 und 27, vom 26.9.2000, Mayeur, C-175/99, Slg 2000, I-7755, Rn 32, und Abler ua, Rn 30, vgl auch in Bezug auf Art 1 Abs 1 der RL 2001/23 Urteile vom 13.9.2007, Jouini ua, C-458/05, Slg 2007, I-7301, Rn 31, und vom 29.7.2010, UGT-FSP, C-151/09, Slg 2010, I-0000, Rn 26).

43. Der Begriff „wirtschaftliche Tätigkeit“ [...] umfasst jede Tätigkeit, die darin besteht, Waren oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten (Urteile vom 25.10.2001, Ambulanz Glöckner, C-475/99, Slg 2001, I-8089, Rn 19, vom 24.10.2002, Aéroports de Paris/Kommission, C-82/01 P, Slg 2002, I-9297, Rn 79, und vom 10.1.2006, Cassa di Risparmio di Firenze ua, C-222/04, Slg 2006, I-289, Rn 108).

44. Tätigkeiten in Ausübung hoheitlicher Befugnisse sind grundsätzlich nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten einzustufen (vgl insb Urteil vom 1.7.2008, MOTOE, C-49/07, Slg 2008, I-4863, Rn 24 und die dort angeführte Rsp sowie in Bezug auf die RL 77/187 Urteil vom 15.10.1996, Henke, C-298/94, Slg 1996, I-4989, Rn 17). Demgegenüber gelten Dienste als wirtschaftliche Tätigkeiten, die [...] im allgemeinen Interesse und ohne Erwerbszweck im Wettbewerb mit den Diensten von Wirtschaftsteilnehmern erbracht werden, die einen Erwerbszweck verfolgen (vgl Urteile vom 23.4.1991, Höfner und Elser, C-41/90, Slg 1991, I-1979, Rn 22, Aéroports de Paris/Kommission, Rn 82, und Cassa di Risparmio di Firenze ua, Rn 122 und 123).

45. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der Gruppe der vom Staat übernommenen AN [...] um das in öffentlichen Schulen beschäftigte ATA-Personal der lokalen Gebietskörperschaften. Außerdem ergibt sich aus den Akten, dass die Tätigkeit dieses Personals in Hilfsdiensten besteht [...].

46. Außerdem ergibt sich [...] dass die genannten Dienste in bestimmten Fällen an private Wirtschaftsteilnehmer vergeben werden. Im Übrigen steht fest, dass diese Dienste nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse erbracht werden.

47. Die Arbeiten [...] sind somit wirtschaftliche Tätigkeiten iSd genannten Rsp [...].

49. Was [...] das Fehlen von Vermögenswerten angeht, hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass es in bestimmten Branchen im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft ankommt. Unter diesen Umständen kann eine strukturierte Gesamtheit von AN trotz des Fehlens nennenswerter materieller oder immaterieller Vermögenswerte einer wirtschaftlichen Einheit iSd RL 77/187 entsprechen (vgl insb in Bezug auf Reinigungsdienste Urteile Hernández Vidal ua, Rn 27, und Hidalgo ua, Rn 26, vgl ebenso betreffend die RL 2001/23, Urteil vom 20.1.2011, CLECE, C-463/09, Slg 2011, I-0000, Rn 39) [...].

53. Was [...] die Eingliederung des übernommenen Personals und seiner Arbeiten in die öffentliche Verwaltung angeht, so kann dieser Umstand allein die Anwendbarkeit der RL 77/187 auf diese Einheit nicht ausschließen (vgl idS Urteil Collino und Chiappero, Rn 33 und 35) [...].

54. Der Gerichtshof hat zwar [...] festgestellt, dass „die strukturelle Neuordnung der öffentlichen Verwaltung“ und die „Übertragung von Verwaltungsaufgaben von einer öffentlichen Verwaltung auf eine andere“ vom Anwendungsbereich der RL 77/187 ausgenommen sind – was später als Ausnahme in Art 1 Abs 1 dieser RL idF der RL 98/50 sowie in Art 1 Abs 1 der RL 2001/23 aufgenommen wurde –, er hat aber auch darauf hingewiesen, dass diese Wendungen [...] nur diejenigen Fälle betreffen, in denen sich der Übergang auf Tätigkeiten in Ausübung hoheitlicher Befugnisse bezieht (Urteil Collino und Chiappero, Rn 31 und 32 und die dort angeführte Rsp) [...].

57. Es gibt keinen Grund, diese Rsp dahin fortzuentwickeln, dass Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die als AN nach nationalem Recht geschützt sind [...] den Schutz nach der RL 77/187 allein deshalb nicht in Anspruch nehmen könnten, weil diese Übernahme im Rahmen einer Neuordnung der genannten Verwaltung erfolgt [...].

63. Der Gerichtshof hat [...] festgestellt, dass der Umstand, dass der Übergang auf einseitigen Entscheidungen der staatlichen Stellen und nicht auf einer Willensübereinstimmung beruht, die Anwendung der RL nicht ausschließt (vgl insb Urteile Redmond Stichting, Rn 15 bis 17, Collino und Chiappero, Rn 34, und UGT-FSP, Rn 25). [...]

Zu den Fragen 2 und 3

[...] 70. Der Gerichtshof hat [...] entschieden, dass Art 3 Abs 1 der RL 77/187 dahin auszulegen ist, dass der Erwerber bei der Berechnung finanzieller Rechte alle von dem übergegangenen Personal geleisteten Dienstjahre zu berücksichtigen hat, soweit sich eine solche Verpflichtung aus dem Arbeitsverhältnis zwischen diesem Personal und dem Veräußerer ergibt [...] (Urteil Collino und Chiappero, Rn 51 und 52).

71. In dem Rechtsstreit zwischen Frau Scattolon und dem Ministerium steht fest, dass die Rechte und Pflichten des übergegangenen Personals und des Veräußerers in einem KollV [...] geregelt waren, der seit [...] dem Zeitpunkt des Übergangs, durch den beim Erwerber geltenden KollV [...] ersetzt ist. Unter141 diesen Umständen kann sich die erbetene Auslegung der RL 77/187 [...] nicht nur auf Art 3 Abs 1 der RL beziehen, sondern muss [...] auch den Abs 2 dieser Vorschrift berücksichtigen [...]

72. Der Erwerber ist gem Art 3 Abs 2 Unterabs 1 der RL 77/187 verpflichtet, die in einem KollV vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des KollV bzw bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen KollV in dem gleichen Maße aufrechtzuerhalten, wie sie in dem KollV für den Veräußerer vorgesehen waren. Die Mitgliedstaaten können gem Unterabs 2 dieser Vorschrift den Zeitraum der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen begrenzen, sofern dieser nicht weniger als ein Jahr beträgt.

73. Der Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass die Regelung nach Art 3 Abs 2 Unterabs 2 der RL 77/187 dem Unterabs 1 [...] nicht seine Bedeutung nehmen darf. [...] Unterabs 2 schließt also nicht aus, dass die tarifvertraglich festgelegten Arbeitsbedingungen, die für das betreffende Personal vor dem Übergang galten, [...] sogar unmittelbar ab dem Zeitpunkt des Übergangs, nicht mehr gelten, sofern einer der im Unterabs 1 dieser Vorschrift genannten Fälle eintritt [...] (vgl Urteil vom 9.3.2006, Werhof, C-499/04, Slg 2006, I-2397, Rn 30, und in Bezug auf Art 3 Abs 3 der RL 2001/23 Urteil vom 27.11.2008, Juuri, C-396/07, Slg 2008, I-8883, Rn 34).

74. Demzufolge ist die Regelung nach Art 3 Abs 2 Unterabs 1 der RL 77/187 [...] dahin auszulegen, dass der Erwerber die nach dem bei ihm geltenden KollV vorgesehenen Arbeitsbedingungen – einschließlich derjenigen über das Arbeitsentgelt – ab dem Zeitpunkt des Übergangs anwenden darf.

75. Nach alledem lässt die RL 77/187 dem Erwerber und den anderen Vertragsparteien zwar einen Spielraum, um die Integration der übergegangenen AN in die Lohn- und Gehaltsstruktur so zu gestalten, dass dabei die Umstände des fraglichen Übergangs angemessen berücksichtigt werden, doch müssen die gewählten Modalitäten mit dem Ziel der genannten RL vereinbar sein. Dieses Ziel besteht [...] darin, zu verhindern, dass sich die Lage der übergegangenen AN allein aufgrund dieses Übergangs verschlechtert (Urteil vom 26.5.2005, Celtec, C-478/03, Slg 2005, I-4389, Rn 26 und die dort angeführte Rsp, sowie in Bezug auf die RL 2001/23 Beschluss vom 15.9.2010, Briot, C-386/09, Slg 2010, I-0000, Rn 26).

76. Die Inanspruchnahme dieser Möglichkeit, die für die übergegangenen AN nach dem beim Veräußerer geltenden Tarifvertrag vorgesehenen Arbeitsbedingungen mit sofortiger Wirkung durch die zu ersetzen, die nach dem beim Erwerber geltenden Tarifvertrag vorgesehen sind, darf also nicht zum Ziel oder zur Folge haben, dass diesen AN insgesamt schlechtere Arbeitsbedingungen als die vor dem Übergang geltenden auferlegt werden [...].

77. Dagegen kann die RL 77/187 nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, um beim Übergang von Unternehmen eine Verbesserung des Arbeitsentgelts oder anderer Arbeitsbedingungen zu erwirken. Im Übrigen steht diese RL [...] gewissen Unterschieden zwischen der Entlohnung der übergegangenen AN und der Entlohnung der zum Zeitpunkt des Übergangs bereits beim Erwerber Beschäftigten nicht entgegen. [...] [D]ie genannte RL ist als solche lediglich darauf gerichtet, zu verhindern, dass AN allein wegen der Übernahme durch einen anderen AG schlechter als vorher gestellt sind.

78. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, [...] dass der beim Ministerium geltende KollV [...] für die übergegangenen AN ab dem Zeitpunkt des Übergangs galt, diese AN aber nicht das Arbeitsentgelt erhielten, das ihrem beim Veräußerer erreichten Dienstalter entsprach [...].

80. Ebenso ist unstreitig, dass die vor dem Übergang vom ATA-Personal der lokalen Gebietskörperschaften [...] ausgeführten Arbeiten denen entsprachen, die das beim Ministerium beschäftigte ATA-Personal ausführt, oder mit diesen sogar identisch waren [...].

81. Da es unter diesen Umständen möglich war, durch eine zumindest teilweise Anerkennung des Dienstalters der übergegangenen AN zu verhindern, dass diese erhebliche Kürzungen ihres Arbeitsentgelts im Vergleich zu ihrer Lage unmittelbar vor dem Übergang hinnehmen mussten, liefe es dem Ziel der RL 77/187 [...] zuwider, wenn das genannte Dienstalter nicht in dem Maße berücksichtigt würde, wie es erforderlich ist, um die Höhe des von diesen AN bezogenen Arbeitsentgelts in etwa beizubehalten (vgl entsprechend Urteil vom 11.11.2004, Delahaye, C-425/02, Slg 2004, I-10823, Rn 34) [...].

Anmerkung
1.
Ausgangslage

In der gegenständlichen E hatte der EuGH zunächst ein weiteres Mal die Frage der Anwendbarkeit der BetriebsübergangsRL (damals RL 77/187/EWG, nunmehr RL 2001/23/EG) auf eine Umstrukturierungsmaßnahme im öffentlichen Bereich zu klären, wobei die diesbezüglichen Ausführungen letztlich zu erwarten waren (dazu sogleich 2; vgl auch Felten, Betriebsübergang/Kürzung des Arbeitsentgelts, ZESAR 2012, 140 f). Umso erstaunlicher sind dagegen die im Zuge der Beantwortung der Fragen 2 und 3 getroffenen Aussagen zur (Un)Zulässigkeit von Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen infolge eines Kollektivvertragswechsels. Hier scheint der EuGH den Grundsatz, dass ein Kollektivvertragswechsel auch zu Nachteilen der betroffenen AN führen darf, jedenfalls auf den ersten Blick in Frage zu stellen bzw zumindest zu relativieren (vgl unten 3).

2.
Anwendbarkeit der BetriebsübergangsRL auch auf Umstrukturierungsmaßnahmen innerhalb des Staates

Im konkreten Fall wurden an den öffentlichen Schulen Italiens Hilfsdienste, wie insb Reinigung und Instandhaltung, ursprünglich zum einen von Verwaltungs-, technischem und Hilfspersonal (sogenanntem ATA-Personal) des Staates, zum anderen von lokalen Gebietskörperschaften, wie vor allem den Gemeinden, erbracht. Letztere beauftragten hierfür zT private Unternehmen, zogen aber auch eigenes ATA-Personal heran. Durch gesetzliche Regelung wurde sodann die Übernahme dieses Personals durch den Staat ab 1.1.2000 normiert (vgl die hier nicht abgedruckten Rn 12 ff des Urteils). Es kam somit infolge142 gesetzlicher Anordnung zur Übernahme des Personals von der Gemeinde zum Staat. Damit stand erstmals weder auf Veräußererseite (EuGH 26.9.2000, C-175/99, Mayeur, Slg 2000, I-7755; EuGH 11.11.2004, C-425/02, Delahaye, Slg 2004, I-10823) noch auf Erwerberseite (EuGH 14.9.2000, C-343/98, Collino und Chiappero, Slg 2000, I-6659) ein privater Rechtsträger. In diesem Lichte stellte sich die Frage nach dem Vorliegen eines „Unternehmensüberganges“ iSd damals noch maßgeblichen RL 77/187. Diese war gem Art 1 Abs 1 „auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung“ anwendbar und entsprach daher insoweit im Wesentlichen Art 1 Abs 1 lit a der nunmehrigen RL 2001/23.

Nach Klarstellung, dass eine Berufung auf die BetriebsübergangsRL die AN-Eigenschaft der Betroffenen iSd nationalen Rechts voraussetzt (Rn 39), widmet sich der EuGH eingehend der Prüfung der von ihm aus dieser Definition abgeleiteten (vgl Rn 42 ff und die zahlreichen Nachweise dort), und nunmehr auch in Art 1 Abs 1 lit b RL 2001/23 kodifizierten, Voraussetzung des Übergangs einer „wirtschaftlichen Einheit“. In diesem Zusammenhang betont er, dass Tätigkeiten in Ausübung hoheitlicher Befugnisse nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten anzusehen sind (idS zur RL 77/187 schon EuGH 15.10.1996, C-298/94, Henke, Slg 1996, I-4989, Rn 17). Er legt aber auch dar, dass ohne Ausübung von Hoheitsgewalt im Wettbewerb mit Wirtschaftsteilnehmern, die einen Erwerbszweck verfolgen, geleistete Dienste – also im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung erbrachte Leistungen – auch dann als wirtschaftliche Tätigkeiten gelten, wenn diese im allgemeinen Interesse und ohne Erwerbszweck ausgeübt werden. Vor allem der Verweis auf den Wettbewerb mit anderen wirtschaftlich agierenden Dienstleistern sowie die Feststellung, dass die konkreten Tätigkeiten teilweise auch an Private vergeben wurden, macht deutlich, dass aus Sicht des EuGH für die Abgrenzung zwischen Hoheits- und Privatwirtschaftsverwaltung offenbar insb auch der Wettbewerb mit anderen Wirtschaftsteilnehmern bzw die „Marktüblichkeit“ der jeweiligen Leistung von Bedeutung ist.

Im vorliegenden Fall bestand freilich die Besonderheit, dass die Übernahme des Personals im Rahmen einer Neuordnung der öffentlichen Verwaltung erfolgte. Die „strukturelle Neuordnung der öffentlichen Verwaltung“ und die „Übertragung von Verwaltungsaufgaben von einer öffentlichen Verwaltung auf eine andere“ sind grundsätzlich nicht nur dem EuGH zufolge (insb Rs Henke, Rn 14, 18; idS zB auch Rs Delahaye, Rn 30), sondern nunmehr auch gem Art 1 Abs 1 lit c RL 2001/23 vom Anwendungsbereich der BetriebsübergangsRL ausgenommen. Da der EuGH allerdings schon früher betont hat, dass auch diese Ausnahme nur auf den Übergang von Tätigkeiten in Ausübung hoheitlicher Befugnisse anzuwenden ist (Rs Collino und Chiappero, Rn 31 f), vermag es dennoch kaum zu überraschen, dass er das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit ungeachtet dessen für gegeben erachtet (vgl auch OGH8 ObA 221/98b

= ZAS 2000/11, 108 [Jöst]). Dass an dieser Beurteilung auch die Tatsache nichts ändern konnte, dass im Zuge des Personalübergangs keine nennenswerten Vermögenswerte übertragen wurden, war im Lichte der bisherigen Rsp zu Branchen, in denen es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft ankommt (vgl zur RL 77/187 nur EuGH 10.12.1998, verb Rs C-127/96, C-229/96 und C-74/97, Hernández Vidal ua, Slg 1998, I-8179, Rn 27), ebenfalls absehbar.

Angesichts des eindeutigen Wortlauts der RL, wonach der Übergang durch „vertragliche Übertragung“ zu erfolgen hat, nicht selbstverständlich ist dagegen, dass der EuGH die Anwendbarkeit der RL 77/187 bejaht, obwohl die Personalübernahme aufgrund gesetzlicher Anordnung erfolgte. Auch diesbezüglich wurde jedoch schon in früheren Entscheidungen festgehalten, aufgrund „Abweichungen in den Sprachfassungen“ sowie des „unterschiedlichen Inhalts der Begriffe im nationalen Recht“ schließe der Umstand, dass der Übergang auf einseitigen Entscheidungen der staatlichen Stellen beruhe, die Anwendung der RL nicht aus (EuGH 19.5.1992, C-29/91, Redmond Stichting, Slg 1992, I-3189, Rn 10 ff; Rs Collino und Chiappero, Rn 34). Zwar zeigt dies (ein weiteres Mal), dass sich der EuGH auch durch grundsätzlich eindeutige Einschränkungen in einer RL nicht beirren lässt. Für Österreich ergeben sich hieraus allerdings letztlich keine Auswirkungen. Denn der OGH hat eine Anwendung der nationalen Umsetzungsvorgaben der §§ 3 ff AVRAG auch auf gesetzlich angeordnete Übertragungen angesichts des dortigen bloßen Abstellens auf das Vorliegen eines Inhaberwechsels (vgl § 3 Abs 2 AVRAG) zu Recht schon mehrfach bejaht (OGH9 ObA 153/98k

[K. Mayr]; OGH8 ObA 130/01b Arb 12.175).

3.
Verschlechterungen (auch) infolge Kollektivvertragswechsels nur eingeschränkt zulässig?

Der Betriebsübergang führte im gegenständlichen Fall dazu, dass auf die betroffenen AN nicht mehr der KollV „Sektor lokale Gebietskörperschaften“, sondern der KollV „Sektor Schulen“ Anwendung fand. Es kam also zu einem Kollektivvertragswechsel, wobei die Fragen des vorlegenden Gerichts dahin gingen, ob die – im konkreten Fall auf einem (weiteren) spezifisch zur Regelung der Einstufung der übernommenen AN vereinbarten KollV basierende – nur teilweise Anrechnung der beim Veräußerer erworbenen Dienstzeiten im Zuge der Einstufung in das Entlohnungsschema des neuen KollV zulässig ist.

In diesem Zusammenhang hat der EuGH in der Rs Collino und Chiappero (Rn 51 f) festgehalten, der Erwerber habe gem Art 3 Abs 1 der RL 77/187 bei Berechnung finanzieller Rechte alle vom übergegangenen Personal geleisteten Dienstjahre zu berücksichtigen, soweit sich eine solche Verpflichtung aus dem Arbeitsverhältnis zum Veräußerer ergäbe, und müsse dies auch gem den im Rahmen dieses Verhältnisses vereinbarten Modalitäten tun. Zutreffend weist der EuGH allerdings darauf hin, dass es im Fall der Frau Scattolon nicht um eine einzelvertragliche, sondern eine kollektivvertragliche Regelung ging. Damit kam (auch) Art 3 Abs 2 der RL 77/187 (nunmehr Art 3 Abs 3 RL 2001/23) Bedeutung zu, wonach der Erwerber ua (nur) verpflichtet ist, die kollektivvertraglichen Arbeitsbedingungen bis zur Anwendung eines anderen KollV in dem gleichen Maße aufrechtzuerhalten, wie sie im KollV für den Veräußerer vorgesehen waren.143

Dementsprechend führt der EuGH zunächst unter Verweis auf die Entscheidungen in den Rs Werhof (EuGHC-499/04, Slg 2006, I 2397, Rn 30) und Juuri (EuGHC-396/07, Slg 2008, I-8883, Rn 34) aus, die für das betreffende Personal vor dem Übergang geltenden tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen gälten sogar unmittelbar ab dem Zeitpunkt des Übergangs nicht mehr, sofern einer der in Art 3 Abs 2 (nunmehr: Art 3 Abs 3 RL 2001/23) genannten Fälle, konkret also die Anwendung eines anderen KollV, eintrete. Der Erwerber dürfe demnach die bei ihm geltenden kollektivvertraglichen Arbeitsbedingungen – einschließlich derjenigen über das Arbeitsentgelt – ab dem Zeitpunkt des Übergangs anwenden (Rn 73 f).

In weiterer Folge relativiert er dies allerdings dahingehend, dass die Inanspruchnahme der Möglichkeit, die nach dem Veräußerer-KollV geltenden Arbeitsbedingungen mit sofortiger Wirkung durch jene des Erwerber-KollV zu ersetzen, im Lichte des Ziels der RL, „nicht zum Ziel oder zur Folge haben“ dürfe, dass diesen AN „insgesamt schlechtere Arbeitsbedingungen als die vor dem Übergang geltenden auferlegt“ würden (Rn 75 f). Da die vor dem Übergang vom ATA-Personal der Gemeinde ausgeführten Arbeiten denen des beim Staat beschäftigten entsprochen hätten, und es möglich gewesen sei, durch eine zumindest teilweise Anerkennung des Dienstalters erhebliche Kürzungen zulasten der übergegangenen AN zu verhindern, liefe es dem Ziel der RL zuwider, das Dienstalter nicht in dem Maße zu berücksichtigen, das erforderlich sei, um die Höhe des von diesen AN bezogenen Arbeitsentgelts in etwa beizubehalten (Rn 78 ff).

Damit scheint es jedenfalls dem Wortlaut der Rn 75 ff nach, als ließe der EuGH – entgegen der bisher überwiegenden Auffassung (vgl nur zuletzt OGH9 ObA 123/09tDRdA 2011, 3 [Schneller]) – Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen auch infolge eines Kollektivvertragswechsels nur noch eingeschränkt zu (vgl Felten, ZESAR 2012, 141 ff). Zu bedenken ist allerdings, dass sich die (potentielle) Verschlechterung des Entgelts im konkreten Fall durch geringere Anrechnung der bei der Gemeinde erworbenen Vordienstzeiten und damit letztlich gerade nicht unmittelbar durch den Kollektivvertragswechsel ergab. Dass der EuGH dies angesichts des Ziels der BetriebsübergangsRL für unzulässig erachtet, ist ungeachtet dessen, dass die im Veräußerer-KollV vorgesehenen Arbeitsbedingungen gem Art 3 der RL nur bis zur Anwendung eines anderen KollV aufrechterhalten werden müssen, nicht besonders überraschend. Der Verweis auf die Vorjudikatur sowie Formulierungen wie „erhebliche Kürzungen“ und „in etwa beibehalten“ legen überdies nahe, dass der EuGH zumindest nicht von einem generellen Verschlechterungsverbot ausgeht (vgl auch Schima/Niksova, Betriebsübergangsrecht: Ablösungs- oder Günstigkeitsprinzip bei Kollektivvertragswechsel, ELR 2012, 236 ff). Insofern stellt sich die Frage, inwieweit der EuGH tatsächlich beim Wort genommen werden kann, also Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen (nunmehr) auch im Falle eines Kollektivvertragswechsels als unzulässig anzusehen sind.

Unklar ist bei genauer Betrachtung des Sachverhalts freilich, warum sich der EuGH überhaupt mit der Frage der Verschlechterung des ursprünglich beim Veräußerer gebührenden Entgelts im Detail auseinandersetzt. Konkret wurden die betroffenen AN nämlich nach Maßgabe des zwischen der Vertretung der öffentlichen Verwaltung und der Gewerkschaft abgeschlossenen „Einstufungs-KollV“ in jene Gehaltsstufe des KollV der Schulen eingestuft, die ihrem vor dem Übergang zuletzt bezogenen Gehalt entsprach (Rn 16 ff des Urteils [hier nicht abgedruckt]). Sie erlitten damit (wohl) gar keine Lohneinbußen im Vergleich zu ihrem zuvor bezogenen Entgelt. Vielmehr erhielten sie „nur“ (teilweise) erheblich weniger als vergleichbares, von Anfang an beim Staat beschäftigtes Personal. Dementsprechend fragte das italienische Gericht auch nicht nach der Zulässigkeit von Verschlechterungen beim Entgelt, sondern nach dem Erfordernis einer Berücksichtigung der Vordienstzeiten. Gerade von einem solchen scheint der EuGH aber im Ergebnis nun nicht generell auszugehen, wenn er ausführt, die RL 77/187 könne nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, um beim Übergang von Unternehmen eine „Verbesserung des Arbeitsentgelts oder anderer Arbeitsbedingungen zu erwirken“ (Rn 77) und es sei Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Frau Scattolon bei ihrer Übernahme eine derartige – erhebliche – Kürzung des Arbeitsentgelts hinnehmen haben müssen. Vgl auch Kietaibl, Verschlechterungsverbot bei Kollektivvertragswechsel im Zuge eines Betriebsüberganges? Anm zu EuGH Rs Scatolon, wbl 2013, in Druck, der die Ausführungen des EuGH überhaupt nur in Bezug auf den „Überleitungs-KollV“ für maßgeblich hält.

4.
Fazit

Während die Ausführungen des EuGH zur Anwendbarkeit der RL 77/187 im Lichte der Vorjudikatur konsequent sind, werfen jene zur Unzulässigkeit einer Verschlechterung kollektivvertraglicher Arbeitsbedingungen infolge eines Kollektivvertragswechsels letztlich mehr Fragen auf, als sie beantworten. Ob (zumindest gravierende) Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen infolge des Betriebsübergangs – ungeachtet der expliziten Regelung des Art 3 Abs 2 RL 77/187 bzw nunmehr Art 3 Abs 3 RL 2001/23 – nunmehr auch im Falle eines Kollektivvertragswechsels grundsätzlich als mit der BetriebsübergangsRL unvereinbar anzusehen sind, ist angesichts des Ausgangssachverhalts fraglich. Fest steht im Lichte der gegenständlichen E mE letztlich nur, dass zum einen die Ziele der BetriebsübergangsRL im Falle von Umstrukturierungsmaßnahmen stets im Auge behalten werden müssen und zum anderen die „Einordnung“ und insb die Einstufung übernommener AN in den beim Erwerber anzuwendenden Kollektivverträgen nicht derart vorgenommen werden darf, dass es zu einer – über die „normalen“ Folgen eines Kollektivvertragswechsels hinausgehenden – Verschlechterung der Arbeitsbedingungen kommt. Keineswegs gesagt ist damit, dass nach Ansicht des EuGH etwa auch Entgeltverschlechterungen unzulässig sind, die sich trotz Anrechnung sämtlicher Vordienstzeiten (schlicht) aufgrund des geringeren kollektivvertraglichen Mindestentgelts des Erwerber-KollV ergeben. Auch ob der – bisher als über die RL hinausgehend angesehene – (bloße) Entgeltschutz des § 4 Abs 2 AVRAG womöglich unionsrechtlich sogar „zu wenig“ sein könnte (Felten, ZESAR 2012, 142), werden wohl erst künftige Entscheidungen zeigen.144