52Verfall von Überstundenentlohnung bei All-In-Vereinbarung nach KollV-Gewerbe (Ang)
Verfall von Überstundenentlohnung bei All-In-Vereinbarung nach KollV-Gewerbe (Ang)
Die Verfallsfrist für nicht von einer Überstundenpauschale gedeckte Überstunden kann nicht vor jenem Zeitpunkt zu laufen beginnen, in dem die Berechtigung des Anspruchs auf Überstundenentlohnung feststellbar ist. Das gilt selbst dann, wenn der KollV (hier: KollV-Gewerbe für Angestellte) die Geltendmachung binnen vier Monate nach dem Tag der Überstundenleistung vorsieht.
Die Verfallsfrist zur Geltendmachung von Überstunden, die nicht durch eine vereinbarte Überstundenpauschale abgegolten sind, beginnt mit jenem Zeitpunkt zu laufen, zu dem die Überstunden eines Beobachtungszeitraums abrechenbar sind.
Mangels Vereinbarung eines kürzeren Zeitraums ist der Beobachtungszeitraum mit einem Kalenderjahr anzunehmen.
Die Kl war von 22.2.2010 bis 30.11.2010 bei der Bekl als Assistentin der Geschäftsführung beschäftigt. Ihr Dienstvertrag lautet auszugsweise:
„6 . Entgelt:
Das im Nachhinein zahlbare monatliche Bruttogrundentgelt beträgt EUR 3.200,00.
Das kollektivvertragliche Monatsgehalt beträgt EUR 2.561,68, mit der Überzahlung von EUR 638,20 sind alle anfallenden Überstunden abgegolten. ...
19 . Anwendbare Normen der kollektiven Rechtsgestaltung:
Soweit sich aus dem gegenständlichen Dienstvertrag nichts anderes ergibt, gelten die Bestimmungen des Rahmenkollektivvertrages für Angestellte im Handwerk und Gewerbe, in der Dienstleistung, in Information und Consulting (Berufsgruppe Arbeitskräfteüberlasser) und das Angestelltengesetz (BGBl 1921/292). ...
20 . Verfall und irrtümliche Auszahlung:
Insoweit der Kollektivvertrag keine entsprechende Verfallsbestimmungen enthält, verfallen alle Forderungen aus dem Dienstverhältnis binnen drei Monaten nach deren Fälligkeit, falls sie nicht schriftlich innerhalb dieser drei Monate geltend gemacht werden. ...“
Im Beschäftigungszeitraum leistete die Kl über die Normalarbeitszeit hinaus zahlreiche Überstunden, die nur zum Teil durch die Auszahlung der Überstundenpauschale entgolten wurden. Die von der Kl aufgezeichneten Arbeitszeiten waren der Bekl immer verfügbar. Der Geschäftsführer der Bekl wusste genau, wie viele Stunden die Kl tatsächlich leistete und wie oft sie ihm arbeitsmäßig zur Verfügung stand.
Anlässlich der einvernehmlichen Auflösung des Dienstverhältnisses vereinbarten die Streitteile:
„Hiermit wird das Arbeitsverhältnis einvernehmlich zum 30. November 2010 beendet. Für 24. November 2010 wurde ein Urlaubsverbrauch vereinbart, ab 25. November 2010 bis 30. November 2010 wurde Frau M freigestellt. Der verbleibenden Resturlaub von sechs Werktagen wird finanziell abgegolten.“
Am 3.12.2010 urgierte die Kl ihre unbezahlt aushaftenden Überstunden.
Die Bekl wandte – soweit revisionsgegenständlich – ein, ein Großteil der behaupteten Überstunden sei verfallen, da gem § 5 Abs 10 des KollV die Überstundenentlohnung binnen vier Monaten nach dem Tag der Überstundenleistung geltend gemacht werden müsse, widrigenfalls der Anspruch erlösche. Zudem 589habe die Kl im Zusammenhang mit der einvernehmlichen Beendigung des Dienstverhältnisses die nun behaupteten Ansprüche bewusst verschwiegen. Mit Abschluss der Auflösungsvereinbarung habe sie frei von Druck auf die Überstundenentlohnung rechtswirksam verzichtet.
Das Erstgericht gab der Klage statt. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl keine Folge und sprach aus, dass die Revision zulässig sei.
Entscheidungsgründe:
Die Revision ist im Hinblick auf die vom Berufungsgericht aufgeworfene Frage zulässig, weil die Auslegung der Verfallsbestimmung des § 5 Abs 10 des KollV für durch eine Überstundenpauschale nicht entgoltene Überstunden in der E 9 ObA 300/01k nicht abschließend geklärt werden musste. Die Revision ist jedoch nicht berechtigt.
Die Bekl meint auch in ihrer Revision, dass die Kl durch den Abschluss der Auflösungsvereinbarung auf eine allfällige Überstundenentlohnung verzichtet habe.
Bei Beurteilung der Frage, ob auf ein Recht stillschweigend verzichtet wurde, ist besondere Vorsicht geboten (vgl RIS-Justiz RS0014420). Ein stillschweigender Verzicht des AN auf Überstundenentlohnung durch nicht sofortige Geltendmachung der Überstunden ist immer erst dann anzunehmen, wenn die verspätete Geltendmachung der Ansprüche im konkreten Fall mit Berücksichtigung der besonderen Umstände gegen Treu und Glauben verstößt (RIS-Justiz RS0018228; RS0018204). Wie bereits das Berufungsgericht zutreffend ausführte, bietet der vorliegende Sachverhalt dafür keine Anhaltspunkte. Die Überprüfung, inwieweit erbrachte Überstunden durch eine Überstundenpauschale tatsächlich abgedeckt sind, obliegt grundsätzlich dem AG (RIS-Justiz RS0051519 [T16]). Dem Geschäftsführer der Bekl war auch durchaus bewusst, dass die Kl in großem Umfang Überstunden geleistet hatte. Umstände dafür, dass die Kl ihre Ansprüche verheimlichen oder auf sie verzichten hätte wollen, liegen nicht vor. In deren späteren Geltendmachung kann daher auch kein treuwidriges Verhalten der Kl gesehen werden.
Der von der Bekl gewünschten Auslegung der Vereinbarung als Vergleich steht entgegen, dass die Streitteile nach den Feststellungen keine Klärung und Bereinigung einer bis dahin ungeklärten Sachund Rechtslage anstrebten (vgl RIS-Justiz RS0028337 [T9]).
Zur Frage des Verfalls der Überstundenentlohnung ist zunächst zum Vorbringen der Kl, dass schon die der Bekl jederzeit einsichtige Arbeitszeiterfassung als Geltendmachung ihrer Überstundenforderungen zu sehen sei, auf die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts zu verweisen (§ 510 Abs 3 ZPO). Hervorzuheben ist, dass die Rsp für eine ausreichende Geltendmachung von Überstundenentgelt zwar kein förmliches Einmahnen, wohl aber ein dem Erklärungsempfänger zumindest erkennbares ernstliches Fordern einer Leistung iS einer wenigstens aus den Umständen zu erschließenden Willenserklärung versteht; dabei kommt es auf das Verständnis an, das ein redlicher Erklärungsempfänger gewinnen durfte (RIS-Justiz RS0051576 [T5]; siehe auch RS0064908). Im vorliegenden Fall ist kein Verhalten der Kl ersichtlich, das als eine solche Erklärung gedeutet werden könnte. Dass die Betreuung des Zeiterfassungssystems auch Aufgabe der Kl war, reicht dafür keinesfalls aus. Dass der Geschäftsführer der Bekl die Arbeitszeitaufzeichnungen einsehen konnte, lässt sich hier nicht als eine der Kl zurechenbare Erklärung verstehen.
Zum Vorbringen der Bekl ist zunächst festzuhalten, dass eine Pauschalierungsvereinbarung den AN nicht hindert, über die Pauschale hinausgehende Ansprüche zu erheben, wenn und soweit sein unabdingbarer Anspruch auf Vergütung der Mehrleistungen durch die vereinbarte Pauschale im Durchschnitt nicht gedeckt ist (RIS-Justiz RS0051519). Im Revisionsverfahren steht auch nicht weiter in Frage, dass es bei Vereinbarung einer Überstundenpauschale für die Deckungsprüfung eines Beobachtungszeitraums bedarf, in dem die Pauschale den DN im Durchschnitt nicht ungünstiger stellen darf als bei einer Überstundenentlohnung durch Einzelverrechnung.
Die Bekl beruft sich für den Verfall der Klagsansprüche auf den Wortlaut sowie eine systematischlogische und historische Auslegung von § 5 Abs 10 des Rahmen-KollV für Angestellte im Handwerk und Gewerbe, in der Dienstleistung, in Information und Consulting.
§ 5 dieses KollV lautet auszugsweise:
„§ 5 Überstunden-, Sonn- und Feiertagsarbeit
(1) – (7) ...
(8) Wird aus Zweckmäßigkeitsgründen ein Überstundenpauschalentgelt vereinbart, so hat für die Berechnung der monatlichen Pauschalsummen der Grundsatz zu gelten, dass sie der durchschnittlich geleisteten Überstundenzahl entspricht, wobei die obigen Überstundenzuschläge ebenfalls einzurechnen sind.
(9) ...
(10) Die Entlohnungen gemäß (1) bis (8) bzw deren Abgeltung in bezahlter Freizeit gemäß (9) müssen binnen 4 Monaten nach dem Tag der Überstundenleistung geltend gemacht werden, widrigenfalls der Anspruch erlischt.
(11) – (12) ...“
Die dem normativen Teil eines KollV angehörenden Bestimmungen sind nach den Grundsätzen der §§ 6, 7 ABGB, also nach der eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhang und der Absicht des Normgebers auszulegen (RIS-Justiz RS0008782 ua). In erster Linie ist bei der Auslegung eines KollV der Wortsinn – auch im Zusammenhang mit den übrigen Regelungen – zu erforschen und die sich aus dem Text des KollV ergebende Absicht der Kollektivvertragsparteien zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0010089). Da den Kollektivvertragsparteien grundsätzlich unterstellt werden darf, dass sie eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen wollten, ist bei mehreren an sich in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten, wenn alle anderen Auslegungsgrundsätze versagen, jener der Vorzug zu geben, die diesen Anforderungen am meisten entspricht (RIS-Justiz RS0008828; RS0008897).590
Der erkennende Senat teilt die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass der in § 5 Abs 10 des KollV genannte Beginn der Verfallsfrist die klagsgegenständlichen Ansprüche nicht erfasst, sodass auch in diesem Punkt zunächst auf dessen Begründung verwiesen werden kann (§ 510 Abs 3 ZPO).
Der Bekl ist zwar zuzugestehen, dass der Wortlaut dieser Bestimmung für sich betrachtet einen Verfall sowohl des Entgelts für geleistete Überstunden als auch einer Überstundenpauschale binnen vier Monaten nach dem Tag der Überstundenleistung vorsieht. Eine Überbetonung des Wortlauts der Bestimmung muss jedoch auf Bedenken stoßen:
Unzweifelhaft kann der kollektivvertraglich vorgesehene Beginn des Fristenlaufs („nach dem Tag der Überstundenleistung“) auf die Geltendmachung von Entgelt für geleistete Überstunden bezogen werden, wenn keine Überstundenpauschale vereinbart wurde.
Schon für die Geltendmachung einer iSd § 5 Abs 8 des KollV vereinbarten Überstundenpauschale – auf die dessen Abs 10 ebenso Bezug nimmt – könnte aber fraglich sein, ob der Fristenlauf „nach dem Tag der Überstundenleistung“ beginnen soll. Die Pauschale selbst wird in der Regel mit dem Monatsgehalt fällig. Daneben wäre aber unklar, auf welche Überstundenleistung mit der Verfallsfrist für die Pauschale Bezug genommen werden sollte: Zum einen setzt der (in der Regel monatliche) Anspruch auf eine Überstundenpauschale keine Leistung von Überstunden voraus. Zum anderen ist selbst bei einer monatlichen Deckungsprüfung nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass die Kollektivvertragsparteien für den Fristbeginn zur Geltendmachung der Pauschale nicht das Monatsende (oder ein sonstiges Fälligkeitsdatum), sondern die Leistung einer bestimmten Überstunde, etwa die letzte von der Pauschale noch gedeckte Überstunde, als maßgeblich ansehen wollten – würde dies doch eine taggleiche Deckungsprüfung erfordern. Bei einem längeren als einem monatlichen Beobachtungszeitraum wäre zudem offen, ob eine geleistete Überstunde im Folgezeitraum nicht ohnedies wieder ausgeglichen würde.
Umso mehr ist für die Geltendmachung von Überstunden, die in Durchschnittsbetrachtung nicht mehr von einer Pauschale abgedeckt werden, zu berücksichtigen, dass erst nach Beendigung des Beobachtungszeitraums errechnet werden kann, ob überhaupt Überstunden vorliegen, die neben einer Pauschale noch gesondert zu entlohnen sind. Vernünftigen Kollektivvertragsparteien kann aber nicht unterstellt werden, dass die Verfallsfrist auch für die Entlohnung dieser Überstunden bereits zu einem Zeitpunkt zu laufen beginnen sollte, in dem die Berechtigung des Anspruchs noch nicht feststellbar ist. In diesem Sinn vertritt auch Heilegger, Zur rechtlichen Zulässigkeit und Interpretation von All-in-Vereinbarungen, DRdA 2012, 17, 20, dass eine etwaige Verfallsfrist frühestens mit dem Zeitpunkt zu laufen beginnen kann, in dem klar ist, dass die Pauschale nicht ausreicht (idS auch OLG Wien 12.3.2004, 8 Ra 20/04a). Für den Beginn der Verfallsfrist für Überstunden, die nicht durch eine vereinbarte Überstundenpauschale abgegolten sind, kann daher frühestens jener Zeitpunkt in Frage kommen, zu dem die Überstunden eines Beobachtungszeitraums abrechenbar sind.
Zur Rsp, dass der Beobachtungszeitraum mangels Vereinbarung eines kürzeren Zeitraums mit einem Kalenderjahr anzunehmen ist (RIS-Justiz RS0051788; RS0064874), bringt die Bekl vor, dass die Kollektivvertragsparteien mit § 5 Abs 8 iVm Abs 10 des KollV dadurch eine derartige abweichende Vereinbarung getroffen hätten, dass die Entlohnung binnen vier Monaten nach dem Tag der Überstundenleistung geltend zu machen sei. Dies sei iSd Vereinbarung eines bloß viermonatigen Durchrechnungszeitraums zu verstehen.
Auch darin kann ihr nicht gefolgt werden, weil der Grundgedanke einer Verfallsfrist darin liegt, die Durchsetzbarkeit eines bereits feststehenden fälligen Anspruchs zeitlich zu beschränken. Die Argumentation der Bekl liefe insgesamt darauf hinaus, dass mit dem Ende eines viermonatigen Durchrechnungszeitraums (zu dem die Überstunden ihrer Ansicht nach dann wohl abzurechnen wären) zugleich die viermonatige Verfallsfrist abgelaufen wäre.
Schließlich kann die Bekl die Entscheidungen 9 ObA 300/01k, 9 ObA 348/89 und 4 Ob 66/84 nicht für ihren Standpunkt ins Treffen führen:
Wie erwähnt, wurde in der E 9 ObA 300/01k die hier verfahrensgegenständliche Frage nicht abschließend geklärt. Den beiden zuletzt genannten Entscheidungen lagen Kollektivverträge zugrunde, die den Lauf der Verfallsfrist von der Durchführung einer Gehaltsabrechnung über die Überstundenleistungen (9 ObA 348/89) bzw der Pflicht des DG, die Vergütung für die im Lauf eines Monats geleisteten Überstunden spätestens am 15. des folgenden Kalendermonats auszuzahlen (4 Ob 66/84), abhängig machten. Derartige Regelungen enthält § 5 des hier zu beurteilenden KollV nicht. Andere Gründe für einen kürzeren als den vom Berufungsgericht angenommenen Durchrechnungszeitraum wurden von der Bekl nicht vorgetragen.
Der OGH hatte in der vorliegenden E zwei Fragen zu beurteilen. Zunächst wandte die AG ein, dass die AN auf die Geltendmachung der nicht durch die All-In-Vereinbarung abgedeckten Überstundenentgelte im Zuge der einvernehmlichen Auflösung verzichtet habe sowie dass es sich dabei um einen Vergleich handle, mit dem alle offenen Ansprüche abgegolten seien. Die rechtlichen Erläuterungen des OGH, mit denen er diese Einwendungen verwarf, sind richtig und stehen im Einklang mit der stRsp. Die Annahme eines Verzichts durch verspätete Geltendmachung ist nur dann gerechtfertigt, wenn diese im konkreten Fall unter Berücksichtigung der besonderen Umstände gegen Treu und Glauben verstößt. Offenbar bot der Sachverhalt dafür keine Anhaltspunkte. Weiters enthielt die Auflösungsvereinbarung keine Hinweise dahingehend, dass strittige Forderungen vergleichsweise bereinigt hätten werden sollen.
Von weitaus größerem Interesse sind die Ausführungen des OGH zur zweiten Frage, nämlich wann591 die Verfallsfrist des § 10 Abs 5 des Rahmen-KollV für Angestellte im Handwerk und Gewerbe, in der Dienstleistung, in Information und Consulting („KollVGewerbe“) für nicht durch eine All-In-Vereinbarung abgedeckte Überstunden beginnt.
Dazu brachte die AN zunächst vor, dass schon deswegen kein Verfall der nicht gedeckten Mehrleistungen eingetreten sein konnte, weil die AN das Arbeitszeiterfassungssystem der AG führte und dies bereits als ein die Verfallsfrist aussetzendes Geltendmachen anzusehen sei. Laut OGH reicht jedoch die bloße Führung des Zeiterfassungssystems durch die AN (noch) nicht aus, um von einem solchen Geltendmachen sprechen zu können. Der OGH hat hier recht: Die Schranken für das Geltendmachen sind natürlich niedriger anzusetzen als für die Annahme eines (stillschweigenden) Verzichts. Allerdings muss – wie auch der OGH betont – ein erkennbares ernstliches Fordern einer Leistung iS einer „wenigstens aus den Umständen zu erschließenden Willenserklärung“ erfolgen. Was als ein solches ernstliches Fordern im Einzelfall angesehen werden kann, ist jedoch für die handelnden Arbeitsvertragsparteien im Hinblick auf die zerklüftete Judikatur nur schwer erkennbar. Der OGH hat in einer Vorentscheidung schon die Vorlage von Arbeitszeitaufzeichnungen, aus denen der AG die geleisteten Überstunden ersehen und errechnen konnte, als ausreichendes Geltendmachen von Überstundenentgelt qualifiziert (OGH9 ObA 300/01hinfas 2002 A 95). In einer anderen E reichte laut OGH die Übergabe der Tachographenscheiben durch einen LKW-Fahrer nicht aus, obwohl der AG bei Auswertung der Tachographenscheiben wohl ebenfalls die Überstunden ermitteln hätte können (OGH 27.2.2012, 9 ObA 13/12w, dazu kritisch Eypeltauer, DRdA 2013, 380 f). Die sich aus dieser kasuistischen Rsp in der Praxis ergebenden Unsicherheiten sind erheblich und provozieren geradezu künftige Rechtsstreitigkeiten.
All-In-Vereinbarungen zeichnen sich dadurch aus, dass mit dem über den kollektivvertraglichen Mindestbezug hinausgehenden Entgelt sämtliche zeitlichen Mehrleistungen des AN abgegolten sein sollen. Überstundenpauschale sind hingegen dadurch gekennzeichnet, dass mit der Überzahlung eine bestimmte Anzahl an Überstunden abgegolten werden soll. Die vom OGH im vorliegenden Fall zu prüfende Vereinbarung sah die Abgeltung sämtlicher Überstunden durch die Überzahlung vor, weshalb hier eine All-In- Vereinbarung vorlag.
Ungeachtet vereinzelter Kritik in der Lehre hat der OGH seit längerem die Zulässigkeit von All-In-Vereinbarungen, unabhängig davon, ob ein KollV anwendbar ist bzw ob es sich um einen leitenden Angestellten handelt, anerkannt (siehe zB OGH 11.7.2001, 9 ObA 161/01). Entgegen dem etwas irreführenden Schlagwort „All-In“ ist bei derartigen Vereinbarungen darauf zu achten, dass solche Pauschalabgeltungsvereinbarungen nur insoweit gültig sind, als die zwingenden kollektivvertraglichen Ansprüche des AN nicht gekürzt werden dürfen. Es ist daher im Rahmen einer Deckungsprüfung zu überprüfen, ob eine Überzahlung, mit der zeitliche Mehrleistungen abgegolten sein sollten, der Höhe nach die vom AN geleisteten Überstunden zuzüglich der Zuschläge abdeckt. Manche Kollektivverträge definieren die Länge des Durchrechnungszeitraums. Fehlt eine solche Definition, können die Arbeitsvertragsparteien den Zeitraum frei vereinbaren. Im Zweifel gilt laut OGH ein Kalenderjahr als Prüfungszeitraum.
Vor dem Hintergrund dieser Systematik bereitet die Anwendung der Verfallsbestimmung des § 5 Abs 10 KollV-Gewerbe bei All-In-Vereinbarungen enorme Schwierigkeiten: Diese Bestimmung sieht mit keine Zweifel offenlassender Deutlichkeit vor, dass Entlohnungen für Überstundenleistungen – die etwa im Rahmen einer All-In-Vereinbarung geleistet werden – binnen vier Monaten nach dem Tag der Überstundenleistung geltend gemacht werden müssen, widrigenfalls sie verfallen. Die Klarheit dieser Bestimmung hat der OGH in einer Vorgängerentscheidung zu § 5 Abs 10 KollV-Gewerbe (OGH 25.3.2002, 9 ObA 300/01 k) ausdrücklich betont.
Im gegenständlichen Fall macht der OGH gewissermaßen eine Kehrtwendung und legt § 5 Abs 10 KollV-Gewerbe eindeutig gegen dessen klaren Wortlaut aus. Dies stößt auf den ersten Blick auf massive Bedenken. Kollektivverträge sind nach stRsp wie Gesetze auszulegen. § 6 ABGB sieht dazu vor, dass einem Gesetz kein anderer „Verstand“ beigelegt werden darf, als welcher aus der eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhange und aus der klaren Absicht des Gesetzgebers hervorleuchtet. Die Grenze der Auslegung bildet daher ein Überschreiten der „eigentümlichen Bedeutung der Worte“ und der klaren Absicht des Gesetzgebers. Auch wenn ein Gesetz „falsch“ oder sachwidrig ist, so erlaubt diese „Lex-lata-Grenze“, nur rechtspolitische Kritik de lege ferenda, jedoch keine anders lautende Auslegung (so Bydlinski in
Betreibt der OGH daher im vorliegenden Erk unerlaubte Rechtsfortbildung? ME nein. Unbeschadet des klaren Wortlauts kann nämlich die Verfallsvorschrift des § 5 Abs 10 KollV-Gewerbe – wie vom OGH ausführlich und nachvollziehbar dargelegt – nicht mit dem Wesen einer All-In-Vereinbarung bzw einem Überstundenpauschale in Einklang gebracht werden. Dem OGH ist darin Recht zu geben, dass eine Auslegung nach dem strengen Wortsinn dieser Vorschrift zu keinen sinnvollen Ergebnissen führen kann. Dies liegt schon daran, dass bei einer All-In-Vereinbarung während des Durchrechnungszeitraums überhaupt nicht gesagt werden kann, ob eine an einem bestimmten Tag als Überstunde zu qualifizierende Arbeitsleistung am Ende des Durchrechnungszeitraums gesondert abzugelten oder eben von der Überzahlung abgedeckt ist. Wenn man zum Ergebnis gelangt, dass die Mehrleistung nicht vom Pauschale abgedeckt ist, wäre bei592 wörtlicher Auslegung des § 5 Abs 10 KollV-Gewerbe ein Verfall ja bereits lange vor dem Ende des laut Rsp einjährigen Durchrechnungszeitraums eingetreten. Der OGH betreibt daher keine unzulässige Rechtsfortbildung, sondern versucht (zum wiederholten Mal) die eklatanten Defizite mancher kollektivvertraglichen Regelungen zu überwinden. Im konkreten Fall geschah dies mit Erfolg.
Der OGH verweist darauf, dass eine Verfallsfrist erst dann zu laufen beginnen kann, wenn feststeht, dass die Pauschale nicht ausreicht. Dies kann erst nach Ablauf des Durchrechnungszeitraums und Vornahme einer Deckungsprüfung erfolgen. In diesem Zusammenhang verweist der OGH auf Heilegger, die sich vor kurzem ausführlich mit All-In-Vereinbarungen beschäftigt hat (Heilegger, Zur rechtlichen Zulässigkeit und Interpretation von All-in-Vereinbarungen, DRdA 2012, 17). Heilegger geht in ihren Ausführungen allerdings noch über den OGH hinaus und vertritt die Ansicht, dass ein AN nicht verpflichtet ist, nach Ende des Durchrechnungszeitraums Ansprüche geltend zu machen, auch wenn bereits vorzeitig – etwa aufgrund hohen Arbeitsaufkommens – klar sein sollte, dass das Pauschale nicht ausreichend ist. Der AN könne vielmehr das Ergebnis und Übermitteln der jährlichen Vergleichsrechnung durch den AG abwarten. Dabei verweist Heilegger auf eine E des OLG Wien, die allerdings nicht im Volltext, sondern leider nur sehr verkürzt und ohne Sachverhalt in ARD 5522/7/2004 veröffentlicht wurde. Nach dieser Fundstelle vertrat das OLG Wien die Ansicht, dass Verfall nicht eintreten kann, bevor der AG von sich aus eine Vergleichsrechnung durchführt. In diesem Fall gilt das Überstundenentgelt bis zum Vorliegen der Abrechnung als gestundet. Dieser Rechtsansicht des OLG Wien kann nicht gefolgt werden. Warum der Beginn der Verfallsfrist bis zur Durchführung einer Abrechnung durch den AG im Wege einer Stundung gehemmt sein soll, ist nicht ersichtlich. Das Wesen einer Stundung liegt darin, dass der Gläubiger (hier: AN) den Schuldner (hier: AG) die Erfüllung seiner Verpflichtungen stundet. Folgt man dem OLG Wien, würde der Schuldner sich selbst die Fälligkeit der Forderung stunden. Im Extremfall könnte der AG damit die Einklagbarkeit der Überstundenforderung ad infinitum hinauszögern, indem er einfach keine Deckungsprüfung durchführt. Heilegger versucht diese Rsp durch § 26 Abs 8 AZG idF der Novelle BGBl I 2007/61 zu rechtfertigen. Dazu ist allerdings darauf hinzuweisen, dass § 26 Abs 8 AZG die Hemmung von Verfallsfristen „nur“ in jenen Fällen vorsieht, in denen wegen des Fehlens von Arbeitszeitaufzeichnungen die Feststellung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit für den AN unzumutbar ist. Wenn jedoch Arbeitszeitaufzeichnungen vorhanden sind, der AG allerdings keine Deckungsprüfung durchführt, ist § 26 Abs 8 AZG nicht anwendbar. Aus alldem folgt, dass die Nichtdurchführung der Deckungsprüfung auf den Beginn bzw Ablauf der Verfallsfristen zur Geltendmachung von durch eine Überstundenpauschale nicht gedeckten Mehrleistungen des AN keinen Einfluss hat.593