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Zurechnung der Repräsentanten einer juristischen Person und Dienstgeberhaftungsprivileg (§ 335 Abs 1 ASVG)

THOMASSCHODITSCH (GRAZ)
  1. Seit Erlassung des ASVG hat sich die Rsp zur deliktischen Haftung juristischer Personen geändert. Dem Verschulden der Mitglieder des Organs steht nun das Verschulden von Personen gleich, die in der Organisation der juristischen Person eine leitende oder überwachende Stellung innehaben und dabei mit eigenverantwortlicher Entscheidungsbefugnis ausgestattet sind.

  2. Durch diese Judikaturentwicklung entstand in § 335 Abs 1 ASVG eine nachträgliche Regelungslücke. Wendete man diese Bestimmung unverändert an, hätte sie auch in ihrem Kernbereich nicht mehr bloß klarstellenden Charakter, sondern führte zu einer Einschränkung gegenüber dem allgemeinen Zivilrecht; das wäre vom ursprünglichen Regelungszweck nicht gedeckt und entbehrte auch einer sachlichen Rechtfertigung.

  3. Ist der DG eine juristische Person, so ist § 335 Abs 1 ASVG auch dann anzuwenden, wenn ein Arbeitsunfall zwar nicht durch das vorsätzliche oder grob fahrlässige Verhalten eines Mitglieds des geschäftsführenden Organs, wohl aber durch ein solches Verhalten eines Repräsentanten der juristischen Person verursacht wurde.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Haftung der Bekl für die Folgen eines Arbeitsunfalls, bei dem K* K*, ein bei den kl Sozialversicherungsträgern versicherter AN des erstbeklagten Bauunternehmens, schwer verletzt wurde. Strittig sind die Auslegung von § 335 Abs 1 ASVG, das Vorliegen grober Fahrlässigkeit und die Anwendung des KHVG [Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsgesetzes] auf einen Zweiwegebagger.

Der Unfall ereignete sich am 28.6.2011 beim Ausheben eines Kabelkanals bei einem Bauvorhaben der ÖBB Infrastruktur AG (im Folgenden: ÖBB). Die Bauherrin hatte eine ARGE mit Verkabelungs- und Tunneleinrichtungsarbeiten beauftragt, die aus einem Bauunternehmen und der Erstbekl bestand. Die Erstbekl gab ihren Teil des Auftrags an eine andere ARGE weiter, die aus ihr selbst und den beiden Nebenintervenienten bestand. Bauleiter der Erstbekl war der Zweitbekl.

Die Erstbekl ist ein auf den Kabelbau, insb den Bahnkabelbau, spezialisiertes Unternehmen. Für die Aus- und Fortbildung ihrer AN ist ihr Geschäftsführer zuständig. Der Zweitbekl ist seit 1999 bei der Erstbekl beschäftigt, seit zwölf Jahren ist er Bauleiter. Er war beim Projekt hauptsächlich für den administrativen Bereich (Abrechnungen, Baubesprechungen, Kommunikation mit den Auftraggebern, etc) und dafür verantwortlich, das erforderliche Personal anzufordern. Für die Durchführung der operativen Arbeiten waren ihm ein Polier und I* J* als angelernter Polier zur Seite gestellt. Der Zweitbekl führt im Allgemeinen selbst keine Schulungen von Mitarbeitern durch. Bei größeren Baustellen hat er jedoch zu evaluieren, ob es spezielle Anweisungen auszuarbeiten gibt, erforderlichenfalls eine Evaluierung vorzunehmen und die Evaluierungsunterlagen zu erstellen. Er war insofern gegenüber den auf der Baustelle tätigen DN der Erstbekl weisungsbefugt. [...]

Die kl Sozialversicherungsträger erbrachten dem Verletzten Leistungen und erheben nun folgende Begehren, wobei jenes gegen den Viertbekl bereits rechtskräftig abgewiesen ist:

Die Erstkl begehrt von allen Bekl zur ungeteilten Hand € 96.397,11 und von der Erst- und dem Zweitbekl darüber hinaus zur ungeteilten Hand € 3.216,25.

Die Zweitkl begehrt von allen Bekl zur ungeteilten Hand € 35.824,93 und von der Erst- und dem Zweitbekl darüber hinaus zur ungeteilten Hand € 6.437,32.

Beide Kl begehren weiters die Feststellung, dass die Bekl zur ungeteilten Hand für sämtliche künftigen Pflichtleistungen hafteten, die sie aufgrund des Arbeitsunfalles an den Verletzten zu erbringen hätten, die Dritt- und der Viertbekl jedoch nur, soweit in den Ansprüchen des Verletzten ein sachlich und zeitlich kongruenter Deckungsfonds bestehe, die Drittbekl überdies nur im Rahmen der vereinbarten Versicherungssumme.

Den Anspruch gegen die Erst- und den Zweitbekl stützt die Kl auf § 334 ASVG. Die Erstbekl als DG und der Zweitbekl als Aufseher im Betrieb hätten es in grob fahrlässiger Weise unterlassen, den Arbeitsvorgang ausreichend zu evaluieren und für eine geeignete Kommunikation zwischen den Arbeitern und dem Baggerfahrer zu sorgen. Die Erstbekl hafte für das Verschulden des Zweitbekl als ihres Repräsentanten. [...]

Die Erst- und der Zweitbekl wenden ein, sie hätten ausreichende Schutzmaßnahmen gesetzt und alle Arbeiter über die wesentlichen Gefahren und die zu beachtenden Vorschriften und Sicherheitsmaßnahmen informiert. Unfallursache sei kein schuldhaftes Verhalten ihrerseits, sondern ein „Augenblickversagen“ des Baggerfahrers gewesen. [...] Dem Zweitbekl komme auch nicht die Stellung eines Aufsehers im Betrieb zu. [...]

Die Nebenintervenienten schlossen sich dem Vorbringen der Erst- und des Zweitbekl an. Der Erstnebenintervenient verwies insb darauf, dass der Zweitbekl nicht Organ der Erstbekl gewesen sei, weswegen § 335 Abs 1 ASVG nicht anzuwenden sei.

Das Erstgericht sprach mit Teil-Zwischenurteil aus, dass die Leistungsbegehren hinsichtlich der Erst- und des Zweitbekl dem Grunde nach zu Recht bestünden. [...]

Das Berufungsgericht sprach mit Teil-Zwischenurteil aus, dass auch der Anspruch gegen die Drittbekl dem Grunde nach zu Recht bestehe, und hob die E über das wider die Drittbekl erhobene426Feststellungsbegehren auf. Im Übrigen bestätigte es die angefochtene E. [...]

Rechtliche Beurteilung

A. Zur Revision der Erstnebenintervenientin:

Die außerordentliche Revision der Erstnebenintervenienten ist zulässig, weil Rsp zur Anwendung von § 335 Abs 1 ASVG bei vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Verhalten einer Person fehlt, die zwar nicht dem Organ einer juristischen Person angehört, für deren Verhalten die juristische Person aber nach den Grundsätzen der Repräsentantenhaftung einzustehen hat. Die Revision ist allerdings nicht berechtigt.

1. § 335 Abs 1 ASVG ist analog anzuwenden, wenn der Schaden durch einen Repräsentanten einer juristischen Person grob fahrlässig verursacht wurde.

1.1. Der originäre Ersatzanspruch eines Sozialversicherungsträgers nach § 334 Abs 1 ASVG setzt nach stRsp grobes Verschulden des DG selbst voraus; das Verhalten anderer Personen wird ihm grundsätzlich nicht nach § 1313a oder § 1315 ABGB zugerechnet (RIS-Justiz RS0085276; zuletzt etwa 9 ObA 4/14z EvBl 2014/78 [Ondreasova] und 2 Ob 61/15g). Nach § 335 Abs 1 ASVG ist § 334 ASVG allerdings (ua) auch dann anzuwenden, wenn der DG eine juristische Person ist und der Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig durch ein „Mitglied des geschäftsführenden Organes der juristischen Person [...] verursacht worden ist“. Diese Regelung war schon in der ursprünglichen Fassung des ASVG enthalten (BGBl 1955/189).

1.2. § 335 Abs 1 ASVG ist nur eine scheinbare Ausnahme vom Grundsatz der Nichtzurechnung. Juristische Personen sind als solche nicht deliktsfähig. Daher kann sich ihre Haftung immer nur aus dem Verhalten von Personen ergeben, die in rechtlich relevanter Weise für sie handeln. Welches Handeln der juristischen Person zugerechnet wird, ergibt sich grundsätzlich aus dem allgemeinen Zivilrecht, wobei mangels ausdrücklicher Regelung die Rsp von entscheidender Bedeutung ist. Bei Erlassung des ASVG war diese Rsp restriktiv: Juristische Personen hatten im außervertraglichen Bereich – abgesehen von § 1315 ABGB – nur für das Verhalten der Mitglieder ihrer Organe einzustehen (Rv II 243/09 GlUNF 4568, Rv III 297/10 GlUNF 5251; 4 Ob 208/28 SZ 10/312; RIS-Justiz RS0009187, RS0009170; weitere Nachweise bei Aicher in Rummel/Lukas4 § 26 Rz 33). Auf dieser Grundlage ordnete § 335 Abs 1 ASVG nur an, was auch ohne diese Bestimmung rechtens gewesen wäre. Denn hätte es sie nicht gegeben, hätte zweifellos auf die allgemeine Rsp zur Begründung der Haftung juristischer Personen zurückgegriffen werden müssen. Die Bestimmung hatte daher von Anfang an jedenfalls im Kern nur klarstellenden Charakter (so zur derzeitigen Rechtslage Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek4 § 335 ASVG Rz 1; Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm § 335 ASVG Rz 5; Atria in Sonntag, ASVG6 § 335 Rz 28; 2 Ob 122/09v; 9 ObA 4/14z). Zwar könnte aus ihr im Wege eines Gegenschlusses abgeleitet werden, dass eine Gehilfenzurechnung ieS (§§ 1313a, 1315 ABGB) nicht stattfindet. Davon zu trennen ist allerdings die grundsätzliche Frage, welches Verhalten leitender Personen der juristischen Person schon deswegen zuzurechnen ist, weil es ohne solche Zurechnung zu einer unsachlichen Verschiedenbehandlung von natürlichen und juristischen Personen käme.

1.3. Seit Erlassung des ASVG hat sich die Rsp zur deliktischen Haftung juristischer Personen grundlegend geändert. Dem Verschulden der Mitglieder des Organs steht nun das Verschulden von Personen gleich, die in der Organisation der juristischen Person eine leitende oder überwachende Stellung innehaben und dabei mit eigenverantwortlicher Entscheidungsbefugnis ausgestattet sind (1 Ob 625/78 SZ 51/80 = JBl 1980, 482 [Ostheim]; RIS-Justiz RS0009113; zuletzt etwa 1 Ob 90/17t mwN). Ein Wirkungskreis, der annähernd jenem eines Organs entspricht, ist dabei nicht erforderlich (2 Ob 107/98v mwN; RIS-Justiz RS0009113 [T12]). Entscheidend ist vielmehr, dass solche „Machthaber“ bzw „Repräsentanten“ wegen der im Interesse der juristischen Person liegenden Selbständigkeit ihrer Tätigkeit eine besondere Gefährdungsmöglichkeit haben (2 Ob 107/98v mwN; 3 Ob 180/03x; RIS-Justiz RS0009113 [T18]).

1.4. Durch diese Entwicklung der Rsp entstand in § 335 Abs 1 ASVG eine nachträgliche Regelungslücke: Wendete man diese Bestimmung unverändert an, hätte sie auch in ihrem Kernbereich nicht mehr bloß klarstellenden Charakter, sondern führte zu einer Einschränkung gegenüber dem allgemeinen Zivilrecht. Das wäre vom ursprünglichen Regelungszweck nicht gedeckt und entbehrte auch einer sachlichen Rechtfertigung. Der Zweck der Norm erfordert daher eine analoge Anwendung auf Fälle, in denen der Arbeitsunfall durch das grobe Verschulden einer Person verschuldet wurde, deren Handeln nach derzeitiger Rechtslage für die Begründung der Haftung einer juristischen Person dem Handeln eines Organmitglieds gleichwertig wäre (Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm § 335 ASVG Rz 5; ebenso auch, wenngleich ohne nähere Begründung, 2 Ob 122/09v; offen gelassen in 9 ObA 4/14z; aA noch 1 Ob 45/83 und Krejci/Böhler in Tomandl, System des österreichischen Sozialversicherungsrechts 3.3.2.2.4). Das gilt auch dann, wenn der Repräsentant zugleich – was im Regelfall zutreffen wird – auch Vertreter des Unternehmers oder Aufseher im Betrieb iSv § 333 Abs 4 iVm § 334 Abs 1 ASVG ist und daher jedenfalls selbst nach § 334 Abs 1 ASVG haftet (aA Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek4 § 335 ASVG Rz 1, die eine Lücke für diesen Fall verneinen). Denn Grund für die Annahme einer Lücke ist nicht das Fehlen einer haftenden Person (so offenbar Neumayr/Huber), sondern die Änderung der Rechtslage im allgemeinen Zivilrecht, die sich aufgrund des insofern bloß klarstellenden Zwecks von § 335 Abs 1 ASVG auch im Sozialversicherungsrecht auswirken muss.

2. Der Zweitbekl war Repräsentant der Erstbekl. Er hat die Verletzung des Versicherungsnehmers der Kl grob fahrlässig verursacht. Dies begründet die Haftung der Erstbekl.

2.1. Der OGH hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass auch ein Bauleiter oder Polier als Repräsen-427tant einer juristischen Person angesehen werden kann (2 Ob 107/98v; 8 Ob 84/02i, 2 Ob 115/13w; vgl auch 2 Ob 162/08z [Baustellenkoordinator]). Das gilt jedenfalls im vorliegenden Fall: Der Zweitbekl hatte als Bauleiter die Gefahrensituation zu bewerten und die entsprechenden Unterlagen zu erstellen; er war jedenfalls insofern gegenüber den Arbeitern auf der Baustelle weisungsbefugt. Damit hatte er eine eigenständige Leitungs- und Kontrollbefugnis, die sich insb auf die Vermeidung von Arbeitsunfällen bezog. An der Stellung des Zweitbekl als Repräsentant der Erstbekl besteht daher kein Zweifel.

2.2. Die Beurteilung der Vorinstanzen, dass der Zweitbekl grob fahrlässig gehandelt habe, trifft zu. [...]

3. Das grob fahrlässige Verhalten des Zweitbekl begründet daher die Haftung der Erstbekl nach § 334 Abs 1 ASVG. Er selbst haftet wegen seiner Leitungsfunktion und der Weisungsbefugnis gegenüber den DN als Vertreter des DG iSd §§ 334 Abs 1, 333 Abs 4 ASVG (2 Ob 33/13m mwN). Die Revision der Erstnebenintervenientin muss damit scheitern. Die diese E tragenden Erwägungen können wie folgt zusammengefasst werden: Ist der DG eine juristische Person, so ist § 335 Abs 1 ASVG auch dann anzuwenden, wenn ein Arbeitsunfall zwar nicht durch das vorsätzliche oder grob fahrlässige Verhalten eines Mitglieds des geschäftsführenden Organs, wohl aber durch ein solches Verhalten eines Repräsentanten der juristischen Person verursacht wurde. [...]

ANMERKUNG

Die klug begründete E ist wohl eine der wichtigsten schadenersatzrechtlichen Entscheidungen des Jahres 2017. Sie setzt sich mit der Zurechnung der Repräsentanten einer juristischen Person im Rahmen des DG-Haftungsprivilegs (§§ 333 ff ASVG) auseinander. Damit ist eine Schnittstellenfrage von Zivil-, Arbeits- und Sozialrecht sowie der juristischen Methodenlehre angesprochen.

1.
Zurechnung der Repräsentanten einer juristischen Person

Mit der vorliegenden E stellt der OGH erstmals klar, dass einer juristischen Person im Kontext des § 335 Abs 1 ASVG nicht nur das Verhalten ihrer Organe, sondern auch jenes von sogenannten Repräsentanten zuzurechnen ist (offenlassend zuletzt OGH9 ObA 4/14zDRdA 2014, 442 = EvBl 2014/78 [Ondreasova]; ablehnend noch OGH1 Ob 45/83 SZ 57/17). Damit folgt der OGH Stimmen aus der Lehre, die sich auch im Rahmen des § 335 Abs 1 ASVG für eine Repräsentantenhaftung juristischer Personen aussprechen, um Verwerfungen zwischen dem Deliktsrecht und dem Arbeitsrecht zu vermeiden (etwa Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek [Hrsg], ABGB4 [2016] § 335 ASVG Rz 1; Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 335 ASVG Rz 5). Der Gerichtshof greift den Gedanken auf, dass § 335 Abs 1 ASVG keine Sonderregelung für juristische Personen beabsichtigt und bloß eine Klarstellungsfunktion hat (OGH9 ObA 4/14zDRdA 2014, 442; Atria in Sonntag [Hrsg], ASVG9 [2018] §§ 333-335 Rz 28). Allerdings habe sich seit Inkrafttreten des ASVG die Haftung juristischer Personen grundlegend geändert, weil die Rsp diesen nicht nur das Verschulden von Organmitgliedern, sondern auch jenes ihrer „Repräsentanten“ zurechne (siehe Schacherreiter in Kletečka/Schauer [Hrsg], ABGB1.04 § 1315 Rz 24 mwN). Diese Judikatur habe zu einer nachträglichen Regelungslücke in § 335 Abs 1 ASVG geführt: Bei unveränderter Anwendung habe die Regel nicht bloß Klarstellungsfunktion, sondern führe tatsächlich zu einer (unbeabsichtigten) Haftungsreduktion im Verhältnis zum allgemeinen Zivilrecht. Der Normzweck erfordere daher eine analoge Anwendung bei Arbeitsunfällen, die durch das grobe Verschulden von Repräsentanten verursacht wurden. Dies soll nach Ansicht des OGH auch gelten, wenn der Repräsentant gleichzeitig Aufseher im Betrieb iSd § 333 Abs 4 ASVG ist und ihn eine Eigenhaftung nach § 334 Abs 1 ASVG trifft.

2.
Praktische Folgen der Entscheidung

Wie der OGH zutreffend hervorhebt, deckt sich der deliktsrechtliche „Repräsentanten“-Begriff idR mit dem „Aufseher im Betrieb“ gem § 333 Abs 4 ASVG: So wurden bereits ein Bauleiter und ein Polier als Repräsentanten angesehen (OGH2 Ob 115/13w bbl 2014, 129; OGH 16.5.2002, 8 Ob 84/02i), die auch die Anforderungen an einen „Aufseher im Betrieb“ erfüllen (mit einem umfassenden Judikaturüberblick Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 333 ASVG Rz 49 ff). ISd großzügigen arbeits- und sozialrechtlichen Judikatur dürfte der „Repräsentanten“-Begriff regelmäßig enger als jener des „Aufsehers“ sein, weil letzterer – im Gegensatz zum Repräsentanten – nicht permanent über eine leitende Stellung mit selbständigem Entscheidungsraum verfügen muss (instruktiv OGH8 ObA 3/10i Arb 12.875: Lehrling als kurzfristiger Aufseher). Verschuldet ein Repräsentant grob fahrlässig einen Schaden eines anderen DN, trifft ihn daher typischerweise eine Eigenhaftung gem § 333 Abs 4 iVm § 334 Abs 1 ASVG (OGH2 Ob 33/13m ZVR 2014, 257 [Huber] mwN). Aufgrund der Haftungserweiterung im Rahmen des § 335 Abs 1 ASVG tritt neben die Haftung des „Repräsentanten-Aufsehers“ allerdings noch jene der juristischen Person, wodurch der Haftungsfonds des regressierenden Sozialversicherungsträgers erweitert wird. Die Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 335 Abs 1 ASVG führt im Ergebnis somit zu einer Verbesserung der Rechtsposition des Sozialversicherungsträgers.

3.
Nachträgliche Lücke durch Judikaturänderung?
3.1.
Voraussetzungen der Analogie

Für die Haftungserstreckung in § 335 Abs 1 ASVG auf Repräsentanten bemüht der OGH eine Analo-428gie und betritt somit den Bereich der Rechtsfortbildung gem § 7 ABGB. Eine Analogie erfordert eine (Gesetzes-)Lücke, also eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzgebers. Fehlt eine Lücke, ist eine Analogie trotz überzeugender Sachargumente durch eine Gleichbehandlung des geregelten und des ungeregelten Falls unzulässig (statt aller P. Bydlinski in Koziol/Bydlinski/Bollenberger [Hrsg], ABGB5 [2017] § 7 Rz 2 mwN). Dabei ist anerkannt, dass ein Gesetz – insb durch Funktionswandel – nachträglich lückenhaft werden kann (grundlegend Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz2 [1983) 135 f). Ursache dafür müssen nach hM gesetzliche Änderungen des regulatorischen Umfelds sein, weil nur sie auf eine Neubewertung der beteiligten Interessen durch den Gesetzgeber schließen lassen. Daher können weder spätere Entwicklungen auf wirtschaftlichem oder gesellschaftlichem Gebiet noch eine Änderung der Moralvorstellungen zu einer nachträglichen Lücke führen (Schauer in Kletečka/Schauer, ABGB1.04 § 7 Rz 9 mwN; F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2 [1992] 585 f). Im Anlassfall beruht die Zurechnung der Repräsentanten auf der Annahme, dass ein Judikaturwandel im Bereich des Schadenersatzrechts eine nachträgliche Lücke des § 335 Abs 1 verursacht hat. Damit vertritt der OGH die These, dass auch eine Judikaturänderung zu einer nachträglichen Lücke führen kann. Dies ist zweifellos ein bemerkenswerter neuer Ansatz, der in der Folge überprüft werden soll.

3.2.
Das Problem der nachträglichen Lücke

Der Zweck der juristischen Methodenlehre liegt insb in der Gesetzesbindung der Gerichte und damit der Begrenzung staatlicher Macht (instruktiv Kerschner/Kehrer in Klang [Hrsg], ABGB3 §§ 6 f Rz 3), sodass Methodenfragen letztlich immer auch Verfassungsfragen sind (Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie8 [2015] Rz 704 ff; Klatt, Theorie der Wortlautgrenze [2004] 20 ff). Für die Zulässigkeit der richterlichen Rechtsfortbildung sind daher auch verfassungsrechtliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Da die Normerzeugung idR nur demokratisch legitimierten Gesetzgebungsorganen zukommt (dazu Mayer/Kuksko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht11 [2015] Rz 438 ff), steht die Rechtsfortbildung durch Gerichte zunächst in einem Spannungsverhältnis zum demokratischen Prinzip (Art 1 B-VG). Vor allem berührt die richterliche Rechtsfortbildung das gewaltenteilende Prinzip, weil Gerichte als Vollziehungsbehörden mit ihrer Entscheidung neues Recht schaffen und damit Kompetenzen der Gesetzgebung in Anspruch nehmen (Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie8 Rz 757). Als Ausnahme richterlicher Gesetzesbindung (Art 18 B-VG) ist Rechtsfortbildung nur bei einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzgebers zulässig. Damit sollen Gerichte iS einer „rule of law“ an die Gesetze gebunden und der Befürchtung richterlicher Willkür entgegengewirkt werden (Schauer in Kletečka/Schauer, ABGB1.04 § 7 Rz 1 mwN).

Keinesfalls können Änderungen der Moral oder wirtschaftlicher Gegebenheiten zu einer nachträglichen Regelungslücke führen; ansonsten fänden außerrechtliche Wertungen in das Recht Eingang, wodurch letztlich die Geschlossenheit des Rechtsquellenkatalogs aufgegeben würde (näher Schoditsch, Zivilrecht und Prostitutionsverhältnisse, ÖJZ 2013, 53). Da „Richterrecht“ keine Gesetzesqualität erreicht, aber zumindest als subsidiäre Rechtsquelle bewertet wird (P. Bydlinski in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB5 § 12 Rz 2), scheint es nicht ausgeschlossen, einen Judikaturwandel als hinreichende Änderung des „regulatorischen“ Umfelds zu qualifizieren. Allerdings lässt sich aus einer Rechtsprechungsänderung kein Rückschluss auf eine veränderte Interessenbewertung durch den Gesetzgeber, sondern bloß durch die Vollziehung ableiten. Damit erzeugt die These des OGH ein Spannungsverhältnis zur richterlichen Gesetzesbindung gem Art 18 B-VG sowie zum demokratischen und gewaltenteilenden Prinzip: Denn Gerichte könnten aufgrund einer von ihnen selbst initiierten Judikaturänderung eine nachträgliche Lücke schaffen und in der Folge sogar füllen. Damit würde letztlich das Primat des Gesetzgebers zur Schaffung von Recht aufgehoben und es den Gerichten nach Belieben ermöglicht, durch einen Judikaturwandel in die Rolle des Gesetzgebers zu schlüpfen. Verfassungsrechtliche Überlegungen streiten somit dafür, dass mit der hM eine nachträgliche Lücke nur durch regulatorische Änderungen des Gesetzgebers begründet werden kann, nicht aber durch eine Rechtsprechungsänderung.

Angesichts dieses Befunds sollte sich der OGH überlegen, ob seine Position pro futuro aufrecht erhalten bleiben kann. Auch wenn in der Tat gute Gründe für einen Gleichklang von Delikts- und Arbeitsrecht im Rahmen des DG-Haftungsprivilegs sprechen, sind aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben die methodischen Grenzen zu beachten: Schließlich ist die Änderung einer unbefriedigenden Gesetzeslage nicht Aufgabe der Gerichte, sondern dem Gesetzgeber vorbehalten (OGH4 Ob 542/91 JBl 1992, 106; OGH6 Ob 313/01z EvBl 2002/110).429