100 Jahre Betriebsrätegesetz – Von der Utopie einer neuen Gesellschaft zur Realität der neuen Arbeitswelt*

JOSEFCERNY (WIEN/SALZBURG)
Es ist die Zeit der großen Jubiläen: 100 Jahre Republik, 100 Jahre Frauenwahlrecht, 100 Jahre Achtstundentagsgesetz, 100 Jahre Betriebsrätegesetz; im nächsten Jahr 100 Jahre Bundes-Verfassungsgesetz, 100 Jahre Gesetz über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge, 100 Jahre Arbeiterkammergesetz ua.In den ersten Jahren der neu gegründeten Republik ist das Fundament der österreichischen Sozialordnung gelegt worden. Baumeister: Der Gewerkschafter und Staatsekretär für soziale Verwaltung Ferdinand Hanusch. Eine der tragenden Säulen des großen sozialpolitischen Bauwerks der Ersten Republik war das Betriebsrätegesetz 1919.Jubiläen sind nicht nur ein Grund zum Feiern, sie sollten auch Anlass zum Gedenken und Nachdenken sein.Dabei stellt sich die Frage: Was ist vom Betriebsrätegesetz 1919 geblieben? Relikt aus einer längst vergangenen Zeit oder, wie Klaus Mulley seinen Beitrag mit einem Zitat des ersten Kanzlers der Republik, Karl Renner, betitelt: Sieg einer „großen sozialen Idee“?
  1. Die Entstehungsgeschichte des BRG 1919

  2. Vom BRG 1919 zum ArbVG 1973

    1. Ferdinand Hanusch: Sozialreform statt Revolution

    2. Der Weg in den Ständestaat

    3. Liquidation der Demokratie in der NS-Zeit

    4. Wiedererrichtung der demokratischen Republik – BRG 1947

    5. Auf- und Ausbau des Sozialstaats

    6. Das Zustandekommen des ArbVG 1973

  3. Grundfragen der Arbeitsverfassung

    1. Betriebsratspflicht?

    2. Politische Verantwortlichkeit – freies Mandat

    3. Integration oder Klassenkampf?

    4. Individualinteressen versus Kollektivinteressen

    5. Betriebsräte, Gewerkschaften und Arbeiterkammern

  4. Gesellschaft im Umbruch – neue Arbeitswelt

  5. Reformbedarf

  6. Zukunftsperspektiven

1.
Die Entstehungsgeschichte des BRG 1919*

Am 15. Mai 1919, nur wenige Monate nach der Auflösung der Habsburger-Monarchie und der Ausrufung der „Republik Deutsch-Österreich“ am 12. November 1918, hat die Konstituierende Nationalversammlung zusammen mit drei anderen Gesetzesvorlagen* den Entwurf eines Gesetzes betreffend die Errichtung von Betriebsräten* einstimmig beschlossen. Österreich war damit das erste Land der Welt mit einem derartigen Gesetz.292

Das Gesetzespaket sollte die Sozialisierung der Gesellschaft herbeiführen oder zumindest vorbereiten und war, dieser Zielsetzung entsprechend, von einer Sozialisierungskommission unter Vorsitz von Otto Bauer* ausgearbeitet worden. Es war, maßgeblich beeinflusst von den Ideen der Rätebewegung, der Versuch einer grundlegenden und radikalen Erneuerung der Demokratie, die auch die Betriebe erfassen sollte. Der Betrieb wurde als Keimzelle des gesellschaftlichen Lebens und als Grundlage der Demokratisierung angesehen, die Betriebsräte sollten die Träger der Sozialisierung als Basis einer neuen Gesellschaftsordnung sein.*

Dieses in seinem Ansatz revolutionäre Konzept wurde allerdings in Österreich nie verwirklicht, weil sich die politischen Verhältnisse schon im Jahr nach der Verabschiedung des Gesetzes entscheidend veränderten und auch die Sozialdemokraten die revolutionären Ideen einer Sozialisierung nicht weiter verfolgten, sondern eher auf sozialpolitische Maßnahmen im Rahmen des bestehenden Systems setzten, wie sie dann in der „Ära Hanusch“* auch tatsächlich getroffen worden sind.

Die Vorläufer und die Genese des BRG 1919 werden im Beitrag von Mulley* ausführlich dargestellt. Diesbezüglich bedarf es hier keiner weiteren Vertiefung. Als Fazit der historischen Analyse bleibt festzuhalten:

Das BRG 1919 ist in einer Zeit des totalen Umbruchs der Weltordnung nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. Seine ursprünglich revolutionäre Zielsetzung als Grundlage der Sozialisierung ist in Österreich nie realisiert worden.

  • Das BRG 1919 ist also das Produkt einer Revolution, die nie stattgefunden hat.*

2.
Vom BRG 1919 zum ArbVG 1973

Die weitere Entwicklung des österreichischen Betriebsverfassungsrechts kann hier nur in groben Umrissen skizziert werden.* Sie ist eng verbunden mit der Entwicklung eines Staates, an dessen Existenzfähigkeit anfangs viele gezweifelt hatten, zu einem weithin als Vorbild angesehenen Sozial- und Wohlfahrtsstaat, mit dem Höhepunkt in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen auch das Arbeitsverfassungsgesetz entstanden ist.

2.1.
Ferdinand Hanusch: Sozialreform statt Revolution

Die revolutionäre Stimmung nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war nur von kurzer Dauer. Die Sozialisierungspläne und die Gesetze, die deren rechtliche Grundlage bilden sollten, wurden – bis auf das Betriebsrätegesetz 1919 – nie realisiert. Als sichtbares Zeichen des Scheiterns des Sozialisierungsprojekts trat Otto Bauer im Juli 1919, also schon wenige Wochen nach dem Inkrafttreten des BRG 1919, aus der Regierung aus, und im März 1920 stellte die Sozialisierungskommission ihre Arbeit ein.

GewerkschafterInnen und SozialdemokratInnen erkannten in der Haltung der UnternehmerInnen und der ihnen nahestehenden bürgerlichen Parteien, die in der gesetzlichen Regelung der Betriebsräte das kleinere Übel gegenüber einem befürchteten revolutionären Umsturz und dem Verlust ihres Eigentums sahen, die historische Chance, ein großes sozialreformerisches Werk zu beginnen und in relativ kurzer Zeit weitgehend zu vollenden: Von 1918 bis 1920 konnte der Gewerkschafter Ferdinand Hanusch als Staatssekretär für soziale Verwaltung neben einer Reihe weiterer Sozialgesetze nach dem BRG 1919 im Jahr 1920 zwei weitere sozialpolitische Meilensteine setzen: das Einigungsamts- und Kollektivvertragsgesetz* und das Arbeiterkammergesetz.*

2.2.
Der Weg in den Ständestaat

Damit war dann allerdings der Weg der großen Sozialreform vorerst am Ende. Die Koalitionsregierung aus SozialdemokratInnen und bürgerlichen Parteien zerbrach und Hanusch schied aus der Regierung aus. Bei der Wahl im Oktober 1920 erreichten die bürgerlichen Parteien die Mehrheit, Christlich-Soziale und Großdeutsche bildeten eine neue Regierung, die daran ging, den „revolutionären Schutt“ der Sozialgesetzgebung, zu der sie auch das BRG zählte, zu beseitigen.*

In der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre verschärften sich die politischen Spannungen immer mehr. Trotz Wahlerfolgen gerieten die SozialdemokratInnen und mit ihnen die Gewerkschaften zunehmend in die Defensive. Die Industrie rief zum Kampf gegen die „sozialen Lasten“ durch die Sozialgesetzgebung auf und forderte ganz offen, das BRG einschränkend zu interpretieren. Die Last der gewerkschaftlichen und politischen Arbeit in den Betrieben lag fast ausschließlich bei den Betriebsräten.*

Die tragischen Ereignisse im Jahr 1927* und die schwere Wirtschaftskrise zu Ende der 20er-Jahre mit 600.000 Arbeitslosen zu Beginn der 1930er-Jahre führten zu einer weiteren Zuspitzung der293 politischen Lage und zur Schwächung der Arbeiterbewegung, die auch die Betriebsräte an der Erfüllung ihrer Aufgaben hinderte. Obwohl führende Gewerkschafter das BRG 1919 zehn Jahre nach seinem Inkrafttreten immer noch als Fortschritt feierten,* war die Wirklichkeit doch anders: Das Interesse der AN an den Betriebsräten wurde schwächer, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ging zurück, und in großen Unternehmen wie der Alpine Donawitz wurden sogar unternehmensabhängige „gelbe Gewerkschaften“ gebildet.

Nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 ging die Regierung Dollfuß daran, die demokratischen Einrichtungen zur Vertretung der AN-Interessen zu beseitigen und durch ständestaatliche Strukturen zu ersetzen.* Die freien Gewerkschaften wurden aufgelöst, die Arbeiterkammern unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt, allen Betriebsräten der sozialdemokratischen oder freien Gewerkschaften die Mandate entzogen, und schließlich stellte das Werksgemeinschaftsgesetz (WGG) 1934* das Betriebsräterecht auf eine ständische Grundlage.

Das WGG ging von der illusionären Vorstellung gemeinsamer Interessen zwischen dem Betriebsinhaber (BI) und den gewählten Vertrauensmännern aus, die von der Werksgemeinschaft wahrgenommen werden sollten. Die harmonisierende berufsständische Ideologie erwies sich allerdings bald als nicht tragfähig. Die Werksgemeinschaften waren eine „realitätsferne Konstruktion“,* sie wurden von den illegalen Freien Gewerkschaften als „Feigenblatt der faschistischen Diktatur im Betrieb“ bezeichnet.*

2.3.
Liquidation der Demokratie in der NS-Zeit

Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft führte insofern zu einer Zäsur in der Geschichte der Arbeitsverfassung als jede demokratische betriebliche und überbetriebliche Interessenvertretung der AN beseitigt wurde. Per Verordnung wurden die Bestimmungen des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG)* in Österreich eingeführt und damit das WGG 1934 außer Kraft gesetzt. Ab diesem Zeitpunkt galt auch im Betrieb das Führerprinzip: Arbeiter und Angestellte hatten als „Gefolgschaft“ die Anordnungen des „Unternehmers als Führer“ zu befolgen. Damit war jeder Ansatz von Demokratie auch auf diesem Gebiet liquidiert.

2.4.
Wiedererrichtung der demokratischen Republik – BRG 1947

Nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft hob die Provisorische Staatsregierung der Zweiten Republik das AOG wieder auf. Mit Unterstützung der zugelassenen politischen Parteien und der Gewerkschaften wurden provisorische Betriebsräte und Vertrauensleute gebildet, am 26. Februar 1947 beschloss der Nationalrat ein neues Kollektivvertragsgesetz* und am 28. März 1947 ein neues Betriebsrätegesetz,* nachdem bereits zwei Jahre vorher, am 20. Juli 1945, die Provisorische Staatsregierung unter Karl Renner als eines der ersten Gesetze der Zweiten Republik ein neues Arbeiterkammergesetz* beschlossen hatte.

Damit waren die Grundlagen der Sozialordnung wieder erneuert, auf denen in den folgenden Jahren und Jahrzehnten der österreichische Sozialstaat aufgebaut und weiterentwickelt werden konnte.

Das BRG 1947 knüpfte hinsichtlich der Organisation und der Geschäftsführung der Betriebsräte an das BRG 1919 an, verstärkte und erweiterte die Mitwirkungsrechte, ging aber – anders als ursprünglich das BRG 1919 – nicht von einer revolutionären Sozialisierungsvorstellung aus. Die Betriebsräte sollten innerhalb des bestehenden Wirtschaftssystems die Interessen der AN im Betrieb wahrnehmen und damit für mehr Demokratie in der Betriebsverfassung sorgen.

2.5.
Auf- und Ausbau des Sozialstaats

Die folgenden Jahre waren gekennzeichnet durch Wiederaufbau, sozialen Fortschritt und erfolgreiche Bemühungen um die Weiterentwicklung der Sozialgesetzgebung. Es war die Zeit der Großen Koalition, die Blütezeit der Sozialpartnerschaft.

Besondere Bedeutung für Österreichs Wirtschaft und für die Entwicklung der Mitbestimmung der AN hatten die verstaatlichten Unternehmen.* Die Betriebsräte in diesen Unternehmen, vor allem deren Vorsitzende, die oft auch politische Spitzenfunktionen ausgeübt hatten, nahmen auf die Führung der Unternehmen faktischen Einfluss in einem Maß, das vielfach weit über die gesetzlichen Mitwirkungsrechte hinausging, und wurden auf diese Weise zu Wegbereitern und Katalysatoren der Weiterentwicklung der Mitbestimmung.

2.6.
Das Zustandekommen des ArbVG 1973

In den 1960er-Jahren kam es dann zu einem Wechsel im politischen System: Zum ersten Mal in der Zweiten Republik erreichte eine Partei die absolute Mehrheit und stellte allein die Regierung: 1966 die ÖVP und 1970, nach einer kurzen Zeit der Minderheitsregierung, die SPÖ mit Bruno Kreisky als Bundeskanzler. Als politisches Ziel seiner Regierung bezeichnete Kreisky die „Durchflutung aller Bereiche der Gesellschaft mit mehr Demokra-294tie“, und dieses Ziel sollte vor allem auch für die Betriebsverfassung gelten.*

Mit einer großen Novelle zum BRG im Jahr 1971 wurde eine umfassende Reform eingeleitet, die nach ausführlichen Beratungen in einer Kodifikationskommission und langen, schwierigen Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern zum Arbeitsverfassungsgesetz führten. Das Gesetz wurde am 14. Dezember 1973 vom Nationalrat einstimmig beschlossen und ist am 1. Juli 1974 in Kraft getreten.* Es sollte der erste Teil einer Kodifikation des gesamten Arbeitsrechts sein, die allerdings bis heute noch nicht zustande gekommen ist.*

Das ArbVG ist zweifellos ein Meilenstein in der Entwicklung des Betriebsverfassungsrechts und der Sozialpolitik überhaupt. Als Ergebnis schwieriger Sozialpartnerverhandlungen trägt es allerdings auch deutliche Zeichen eines (interessen)politischen Kompromisses, der nicht in allen Punkten der Sachlogik entspricht.* Darüber hinaus hat sich seit dem Inkrafttreten des ArbVG vor nunmehr 45 Jahren die Arbeitswelt in einem Maß verändert, das wesentliche Teile des Gesetzes als dringend reformbedürftig erscheinen lässt (dazu unter 4. und 5.).

Zuvor sollen aber noch einige Grundfragen der Arbeitsverfassung im Kontext mit der historischen Entwicklung näher betrachtet werden.

3.
Grundfragen der Arbeitsverfassung
3.1.
Betriebsratspflicht?

Die historische Analyse hat ergeben, dass die mit der gesetzlichen Einrichtung von Betriebsräten ursprünglich verfolgte Zielsetzung einer Sozialisierung der Wirtschaft und Gesellschaft nicht erreicht worden ist. Geblieben ist aber die Einrichtung der Betriebsräte als solche, wobei sich allerdings schon in den ersten Jahren nach dem Inkrafttreten des BRG 1919 gezeigt hat, dass viele Unternehmer die Wahl von Betriebsräten boykottiert haben.

Wie am Beispiel eines privaten TV-Senders in Salzburg demonstriert wurde,* geschieht das auch derzeit unter der Geltung des ArbVG immer noch, und es handelt sich dabei keineswegs nur um einen Einzelfall.*

Damit stellt sich die Frage, ob die Wahl von Betriebsräten ein Recht oder eine Pflicht der AN oder aber auch eine gesetzliche Verpflichtung des BI ist, ob es also eine „Betriebsratspflicht“ gibt.

Ein Blick in das ArbVG scheint auf diese Frage eine klare und eindeutige Antwort zu geben:

Nach § 40 Abs 1 ArbVG sind in jedem Betrieb, in dem dauernd mindestens fünf stimmberechtigte AN beschäftigt werden, von der Arbeitnehmerschaft Organe zu bilden. Nicht „können“ oder „sollen“ oder „dürfen“, sondern „sind“.

Also: Ein klarer Gesetzesauftrag, der selbstverständlich auch für alle betroffenen Betriebe und deren InhaberInnen gilt. Im Vergleich mit dem Text des BRG 1919 fällt auf, dass der Wortlaut des ArbVG wesentlich klarer ist als jener des § 1 BRG 1919: „Betriebsräte ... werden errichtet.“ Erst das BRG 1947 hat in § 7 Abs 1 mit derselben Verbindlichkeit wie nunmehr das ArbVG bestimmt: „In jedem Betrieb ... ist ein Betriebsrat zu wählen.

In der Lehre* wird die Regelung des § 40 ArbVG überwiegend als Pflicht der Arbeitnehmerschaft interpretiert. Den BI treffen nur Unterlassungs- und Mitwirkungspflichten. Die Erfüllung des Gesetzesauftrages ist durch keine wirksamen Sanktionen gesichert. Die einzige „Sanktion“ besteht nach herrschender Meinung darin, dass die Arbeitnehmerschaft ihre gesetzlichen Mitwirkungsrechte nicht ausüben kann, wenn sie die entsprechenden Organe nicht wählt. Dass ein solches Ergebnis in jenen Fällen, in denen der BI das Zustandekommen einer AN-Vertretung im Betrieb und damit die Ausübung der gesetzlichen Mitwirkungsrechte verhindert, nicht zufriedenstellen kann, liegt auf der Hand.

Die Suche nach den Ursachen dieser unbefriedigenden Situation führt zu zentralen Fragen der Rechtsphilosophie, nämlich jener nach dem Verhältnis von Macht und Recht, und jener nach den Grenzen des Rechts.

Mayer-Maly* hat darauf hingewiesen, dass der Spielraum des Rechts, damit auch der Gesetzgebung und der Rsp, erheblich schmaler ist, als gemeiniglich angenommen wird, und er hat die JuristInnen zum Realismus und zur Bescheidenheit aufgerufen.

Die Grenzen des Rechts ergeben sich (auch) aus den faktischen gesellschaftlichen und ökonomischen Machtverhältnissen. Das gilt auch für die Arbeitsverfassung. Durch gesetzlich normierte Mitwirkungsbefugnisse der Arbeitnehmerschaft wird zwar die rechtliche Verfügungsmacht des Eigentümers (BI) eingeschränkt, die reale Durchsetzungsmöglichkeit des Rechts findet aber ihre Grenze an295 der wirtschaftlichen Übermacht des AG. Wer um seinen Arbeitsplatz und damit um seine Existenzgrundlage fürchten muss, wird kaum bereit sein (können!), sein Recht gegen den Willen des AG durchzusetzen.

Zwischen Norm und Realität besteht auch heute noch eine erhebliche Lücke. Sie zu schließen, ist Aufgabe der Rechts- und Sozialpolitik.

Dabei ist davon auszugehen, dass die Entscheidung, ob und wie die Arbeitnehmerschaft ihre gesetzlichen Mitwirkungsrechte ausübt, von ihr selbst autonom zu treffen ist. Das schließt auch die Möglichkeit ein, von der Wahl eines BR Abstand zu nehmen. Sofern eine solche Entscheidung frei von Druck oder Behinderung durch den BI getroffen wird, ist sie zur Kenntnis zu nehmen.

Eine demokratische Betriebsverfassung kann nur funktionieren, wenn sie vom freien Willen der AN getragen wird.*

3.2.
Politische Verantwortlichkeit – freies Mandat

Es ist vor allem das Verdienst von Spielbüchler,* in einer scharfsinnigen Analyse der Entstehungsgeschichte des BRG 1919 den Nachweis dafür erbracht zu haben, dass die Triebkraft der Rätebewegung eine zutiefst politische war, und dass der Funktion des BR der politische Gedanke der Repräsentation zugrunde liegt, das Betriebsratsmandat seinem Wesen nach also eine politische Funktion darstellt* – nicht im Sinn von Parteipolitik,* sondern von Interessenpolitik.

Die These von Spielbüchler hat weit reichende Konsequenzen sowohl für die Dogmatik als auch für die Praxis der Betriebsratsfunktion. Sie entzieht nämlich allen Versuchen, den Handlungsspielraum der Betriebsräte durch die Annahme zivilrechtlicher Pflichten der Betriebsratsmitglieder bis hin zur Haftung für Schadenersatz einzuschränken, den Boden.*

Die zentrale Aufgabe der Betriebsräte ist die Interessenvertretung. In der Ausübung dieser Tätigkeit sind die Betriebsratsmitglieder an keinerlei Weisungen gebunden. Sie sind nur der Betriebsversammlung verantwortlich (§ 115 Abs 2 ArbVG). Diese Formulierung des Prinzips des freien Mandats wurde wörtlich aus dem BRG 1947* in das ArbVG übernommen, noch schärfer war die politische Kontrolle nach dem BRG 1919.*

Spielbüchler* hat das Ergebnis seiner Untersuchung in dem inzwischen nahezu legendären Satz zusammengefasst: „Wie die Arbeitnehmerschaft durch den Betriebsrat ihre Mitwirkungsbefugnisse ausübt, geht die staatliche Rechtsordnung solange nichts an, als diese Ausübung nicht ‚offenbar den Zweck‘ hat, den anderen zu schädigen (§ 1295 Abs 2 ABGB).

3.3.
Integration oder Klassenkampf

In der sozialwissenschaftlichen Diskussion wird mitunter auf den „Doppelcharakter“ der betrieblichen Mitbestimmung hingewiesen: Einerseits Produkt des politischen und gewerkschaftlichen Reformismus mit dem Ziel, die Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten innerhalb der bestehenden Gesellschaftssystems so weit wie möglich zu verbessern, und andererseits Instrument, die Gesellschaftsordnung grundlegend zu verändern.* Diese Frage ist zwar für die Praxis der täglichen Betriebsratsarbeit kaum von Bedeutung, sie hat aber neben der soziologischen durchaus auch eine juristische Dimension.*

Ansatzpunkt im geltenden Arbeitsverfassungsrecht ist vor allem die Bestimmung des § 39 Abs 1 ArbVG, wo es heißt: „Ziel der Bestimmungen über die Betriebsverfassung ist die Herbeiführung eines Interessenausgleichs zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebes.

Aus diesem Satz wird viel heraus- und in ihn noch mehr hineininterpretiert. Die einen sehen darin ein Modell von Macht und Gegenmacht, andere meinen dagegen, damit habe der Gesetzgeber die Betriebspartnerschaft festgeschrieben, und lesen daraus bestimmte Verhaltenspflichten des BR bis hin zu einer „Friedenspflicht“ und zu einem Arbeitskampfverbot heraus.*

Die Formulierung des Gesetzes ist zwar nicht sehr konkret, aber sie enthält doch eine klare Aussage: Wenn von einem „Interessenausgleich“ die Rede ist, muss es zunächst unterschiedliche Interessen geben, die ausgeglichen werden sollen. Das Gesetz geht also von einem Interessengegensatz aus und stellt den rechtlichen Rahmen für den Ausgleich dieser Interessen zur Verfügung. Nicht mehr und nicht weniger steht im § 39 Abs 1 ArbVG. Also: keine Rede von „Betriebsfrieden“, „Friedenspflicht“ oder gar von einem Arbeitskampfverbot.*296

In einer bisher vereinzelt gebliebenen E* hat der OGH aus dem „Gebot“ des Interessenausgleichs (das im Gesetz aber nicht als Gebot, sondern als Ziel formuliert ist), ohne nähere Begründung ein besonderes Kampfverbot und eine gesetzliche betriebsverfassungsrechtliche Friedenspflicht abgeleitet. Diese Entscheidung ist in der Literatur auf Widerspruch und auf zum Teil heftige Kritik gestoßen.* Zuletzt hat Felten* überzeugend nachgewiesen, dass sich eine solche Verpflichtung weder aus dem systematischen Zusammenhang des ArbVG noch aus dem Zweck, geschweige denn aus dem Wortlaut des § 39 Abs 1 ArbVG ableiten lässt. Unter Hinweis auf die bereits vorher von Firlei vertretene Meinung kommt Felten zu dem Schluss, dass § 39 Abs 1 ArbVG eine „rein programmatische Norm, ohne jeden normativen Gehalt“ sei.

3.4.
Individualinteressen versus Kollektivinteressen

Eine weitere Grundsatzfrage des Betriebsverfassungsrechts ist es, ob der BR in gleicher Weise sowohl die Interessen der gesamten Arbeitnehmerschaft als auch die Interessen einzelner AN zu vertreten hat.

Die Aufgaben des BR sind im Gesetz umfassend und klar definiert: Nach § 38 ArbVG haben die Organe der Arbeitnehmerschaft des Betriebes die wirtschaftlichen, sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Interessen der AN des Betriebes wahrzunehmen und zu fördern.

Also: die Interessen aller und nicht bloß einzelner AN. Der BR ist nicht Anwalt einzelner AN, sondern Vertreter der kollektiven Interessen der gesamten Arbeitnehmerschaft.*

Nun kann man nicht bestreiten, dass die Interessenlage innerhalb der Arbeitnehmerschaft eines Betriebes durchaus differenziert sein kann, und dass es zwischen den Interessen der gesamten Arbeitnehmerschaft und jenen einzelner AN ein Spannungsverhältnis geben kann. Jeder, der die Funktion des BR in der Praxis ausübt, weiß das und weiß auch, wie schwierig es sein kann, Entscheidungen mit tragen zu müssen, die einzelne AN hart treffen, im Interesse des Ganzen aber notwendig sind. Man denke nur an Betriebsänderungen und den damit verbundenen Verlust von Arbeitsplätzen.

Die Feststellung, dass der BR die kollektiven Interessen der AN zu vertreten hat, bedeutet selbstverständlich nicht, dass er sich um die Anliegen und Probleme einzelner AN nicht zu kümmern hätte – im Gegenteil: Der unmittelbare Kontakt zur „Basis“ und die Unterstützung einzelner AN bei der Lösung ihrer Probleme machen bei den meisten Betriebsratsmitgliedern sogar den Großteil ihrer Tätigkeit aus. Entscheidend ist aber, dass der BR diesbezüglich keinen besonderen Verhaltens- oder Vertretungspflichten unterliegt,* die seinen Handlungsspielraum einschränken könnten. Es gilt auch hier der oben zitierte Satz von Spielbüchler:* Wie die Arbeitnehmerschaft, vertreten durch den BR, ihre gesetzlichen Mitwirkungsbefugnisse ausübt, ist allein ihre Entscheidung.

3.5.
Betriebsräte, Gewerkschaften und Arbeiterkammern

Die zentrale Frage der österreichischen Arbeitsverfassung betrifft das Verhältnis von betrieblicher und überbetrieblicher Interessenvertretung der AN.

Der historische Rückblick zeigt, dass es Ansätze zur gesetzlichen Einrichtung von betrieblichen AN-Vertretungen – wenn auch mit anderer Zielsetzung – bereits im 19. Jahrhundert gegeben hat, und dass die Gewerkschaften schon vor der Gründung der Republik die Forderung nach rechtlichem Schutz für die Vertrauensmänner in den Betrieben erhoben hatten. Den Betriebsräten, wie sie im Konzept von Otto Bauer als Bestandteil der Sozialisierung vorgesehen waren, standen die Gewerkschaften zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber, weil sie befürchteten, dass die Betriebsräte zur Konkurrenz für die bereits bestehenden gewerkschaftlichen Vertrauenspersonen werden könnten.* Erst die Mitwirkung führender Gewerkschafter (Hueber, Domes, Hanusch) bei der Vorbereitung des BRG 1919, vor allem aber der Widerstand der UnternehmerInnen gegen das neue Gesetz, hat die Betriebsräte und Gewerkschaften zur Interessenvertretung der AN zusammengeführt. Letztlich konnten die Gewerkschaften das BRG 1919 doch als Erfolg ihres Kampfes um die Legalisierung der Vertrauensmänner und um die Demokratisierung der Betriebe feiern.*

In der Begründung des Entwurfs des BRG 1919* wird zur „Klarstellung ... betont, dass die Betriebsräte als eine neue Organisation der Arbeiter gedacht sind ... Nach wie vor werden die Arbeiter in den Gewerkschaften die Organe erblicken, mit welchen sie die Gestaltung der Arbeitsbedingungen beeinflussen und ihre Interessenskämpfe ausfechten.

Rechtlich sind Gewerkschaften und Betriebsräte seit jeher getrennte Einrichtungen. Gewerkschaften als freie Berufsvereinigungen haben ihre rechtliche Grundlage in der durch Art 11 der EMRK verfassungsgesetzlich garantierten Koaliti-297onsfreiheit.* Die Betriebsräte sind vom (einfachen) Gesetzgeber geschaffene Einrichtungen, die als Organe der mit Teilrechtsfähigkeit ausgestatteten Arbeitnehmerschaft deren gesetzliche Mitwirkungsbefugnisse im Rahmen der betrieblichen Interessenvertretung ausüben.*

Durch die Schaffung von Betriebsräten auf gesetzlicher Basis neben den weiter bestehenden Gewerkschaften in Verbindung mit der im Jahr 1920 erfolgten Errichtung der Arbeiterkammern durch das Arbeiterkammergesetz* ist das in der ganzen Welt einzigartige Drei-Säulen-Modell der AN-Interessenvertretung entstanden, das auch heute noch die Sozialordnung in Österreich prägt.*

Dieses Modell ist allerdings nur dann funktionsfähig, wenn es trotz der rechtlichen Trennung eine – auch rechtlich abgesicherte – Zusammenarbeit und Aufgabenteilung zwischen den drei Einrichtungen gibt.

Das ArbVG hat erstmals die Zusammenarbeit zwischen betrieblicher und überbetrieblicher Interessenvertretung in allgemeiner und grundsätzlicher Form auf gesetzlicher Ebene geregelt.* § 39 Abs 2 ArbVG normiert ein Zusammenarbeitsgebot zwischen den Organen der Arbeitnehmerschaft des Betriebes und den zuständigen kollektivvertragsfähigen Körperschaften der AN (Gewerkschaften und Arbeiterkammern) bei der Verwirklichung ihrer Interessenvertretungsaufgabe. Auch das Arbeiterkammergesetz 1992* hat die historisch gewachsene und seit Jahrzehnten mit Erfolg praktizierte Zusammenarbeit und Aufgabenteilung zwischen Arbeiterkammern, Gewerkschaften und Betriebsräten (PersonalvertreterInnen) im § 6 AKG ausdrücklich festgeschrieben.*

Weiters sieht § 39 Abs 4 ArbVG ein Recht der Organe der Arbeitnehmerschaft zur Beiziehung der überbetrieblichen Interessenvertretungen zu ihrer Beratung und ein Zutrittsrecht der Gewerkschaften und Arbeiterkammern zum Betrieb zur Ausübung ihrer Befugnisse vor.*

Darüber hinaus gibt es in anderen Bestimmungen des ArbVG eine Reihe weiterer Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit zwischen den Organen der Arbeitnehmerschaft in den Betrieben und den Gewerkschaften bzw Arbeiterkammern.*

Die gesetzlichen Bestimmungen über das Beiziehungs- und Zutrittsrecht der überbetrieblichen Interessenvertretungen zu den Betrieben gehören seit jeher zu den von den AG-Organisationen besonders kritisch betrachteten und bekämpften Regelungen der Arbeitsverfassung. Sie waren auch bei den Verhandlungen über das Arbeitsverfassungsgesetz bis zuletzt ein Streitpunkt, an dem der Sozialpartnerkompromiss beinahe gescheitert wäre.

Was die Aufgabenteilung zwischen Betriebsräten, Gewerkschaften und Arbeiterkammern betrifft, ist wieder auf die Schaffung der gesetzlichen Grundlagen der Arbeitsverfassung in den ersten Jahren nach der Gründung der Republik zu rekurrieren. Der Initiator des ersten AKG und Wegbereiter der Sozialgesetzgebung Ferdinand Hanusch hat dazu folgende, auch heute noch gültige, grundsätzliche Feststellungen getroffen:*In Erfüllung ihrer Aufgaben werden die Kammern darauf angewiesen sein, mit den Gewerkschaften und Betriebsräten die innigste Verbindung herzustellen. Während die Betriebsräte auf die Gestaltung der Betriebsverhältnisse Einfluß nehmen und die Gewerkschaften die besonderen beruflichen Interessen ihrer Mitglieder vertreten, werden die Arbeiterkammern darüber hinaus zusammenfassend alle wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiter und Angestellten als produzierende und konsumierende Bürger im Staat zu verfechten haben.

Wesentliche Elemente der Aufgabenteilung zwischen den betrieblichen und den überbetrieblichen Interessenvertretungen der AN sind

  • der Vorrang der Gewerkschaften bei der kollektiven Regelung der Arbeitsbedingungen* durch Branchen-Kollektivverträge mit Normwirkung* und Außenseiterwirkung;*

  • der Vorrang des KollV gegenüber der BV,* insb hinsichtlich der Entgeltregelung;*

  • die Vorbereitung, Organisation und Durchführung von Arbeitskämpfen durch die Gewerkschaften.*

Wie Mulley in seinem historischen Beitrag überzeugend nachweist, konnte der unter dem Einfluss der Rätebewegung entstandene Plan, den Betriebsräten das Recht zum Abschluss von Gesamtarbeitsverträgen zur Regelung der Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen in Form eines „Werkstättenvertrags“ zu geben, und andererseits die Gültigkeit der von den Gewerkschaften abgeschlossenen Branchen-Kollektivverträge von der Annahme durch den BR und den BI abhängig zu machen, letztlich von den GewerkschaftsvertreterInnen verhindert werden. Das BRG 1919 hielt daran fest, dass Lohnpolitik Aufgabe der Gewerkschaft ist und wies den Betriebsräten lediglich vorbereitende, durchführende oder ergänzende Aufgaben bei298 der Kollektivvertragsregelung zu. Auf diese Weise brachte das BRG 1919 eine klare Weichenstellung in Richtung des derzeitigen Systems der kollektiven Rechtsgestaltung, das grundsätzlich keinen Betriebs- oder Firmen-KollV kennt.*

Wie wichtig dieser Grundsatz ist, zeigt die aktuelle Diskussion mit permanenten Forderungen der AG-Verbände und diesen folgender politischer Programme,* die Regelung der Arbeitsbedingungen auf die betriebliche Ebene zu verlagern. Eine solche Systemänderung würde die Verhandlungsposition der AN-Seite entscheidend schwächen.

4.
Gesellschaft im Umbruch – neue Arbeitswelt

Seit dem Inkrafttreten am 1. Juli 1974 ist das ArbVG fast fünfzig Mal geändert worden. Der Normenbestand ist von ursprünglich 171 auf 264 Paragraphen angewachsen, und dazu kommen noch umfangreiche Durchführungsverordnungen. Dabei hat allerdings die inhaltlich-qualitative Entwicklung des Arbeitsverfassungsrechts mit dem quantitativen Ausbau nicht Schritt gehalten.

Die umfangreichsten Änderungen betreffen den Einbau der Europäischen Betriebsverfassung in das österreichische Recht, also die Einrichtung von Europäischen Betriebsräten in bestimmten grenzüberschreitenden Unternehmen. Diese im Wortreichtum und Regelungsumfang zum Teil ausufernden Bestimmungen sind allerdings in Österreich mit seiner überwiegend kleinbetrieblichen Struktur nur für relativ wenige Unternehmen relevant und begründen im Übrigen auch keine echten Mitbestimmungsrechte.* Ansonsten hat nur die unter dem Titel „29-Punkte-Programm“ von Sozialminister Dallinger initiierte Novelle 1986* größere Änderungen gebracht, ohne jedoch die Strukturen des Arbeitsverfassungsrechts grundlegend zu verändern. Der weitaus größte Teil der zahlreichen Novellen zum ArbVG hatte formalrechtliche Anpassungen des ArbVG im Zusammenhang mit anderen Gesetzesänderungen zum Inhalt.*

Während also die rechtlichen Grundlagen der betrieblichen Interessenvertretung seit nunmehr 45 Jahren substanziell und qualitativ weitgehend unverändert geblieben sind, haben sich die sozioökonomischen und politischen Verhältnisse und mit ihnen die Rahmenbedingungen für die Tätigkeit der Betriebsräte dramatisch und tiefgreifend verändert.

  • Globalisierung und Digitalisierung haben die Arbeitswelt in einer Form und in einem Ausmaß verändert, das noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen ist.

  • Die Grundlagen, auf denen das ArbVG 1973 aufgebaut hat, sind heute in wesentlichen Teilen nicht mehr vorhanden. Insb der Betriebsbegriff und der AN-Begriff des ArbVG entsprechen nicht mehr der Realität der neuen Arbeitswelt.

  • Insgesamt hat das Arbeitsrecht seine soziale Schutzfunktion weitgehend verloren.

Die Entwicklung kann hier nur mit einigen Punkten stichwortartig skizziert werden:

  • Standortkonkurrenz, Betriebsverlegungen, Outsourcing;

  • Kapitalkonzentration in multinationalen Konzernen, andererseits Zunahme kleinbetrieblicher Wirtschaftsstrukturen;

  • neue Formen der Arbeitsorganisation;

  • neue Managementkonzepte;

  • „atypische“ und prekäre Beschäftigung sind inzwischen zur Regel geworden;

  • Scheinselbständigkeit: Immer mehr junge Menschen sehen ihren Wunsch nach mehr Freiheit und flexiblerer Lebensgestaltung eher in einer selbständigen Tätigkeit, stellen aber meistens bald fest, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit in einer solchen „Selbständigkeit“ größer ist als in einem echten Arbeitsverhältnis;

  • Flucht aus dem Arbeitsrecht:* AG und ihre Interessenvertretungen erfinden alle möglichen Vertragskonstruktionen, um aus dem Arbeitsrecht zu flüchten.

Folgen dieser Entwicklung sind:

  • der Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen ist durch die Standortkonkurrenz und durch die Mobilität der AN über Landesgrenzen hinweg größer geworden;

  • die Position der AN und ihrer Interessenvertretungen ist schwieriger, ihre Verhandlungsposition gegen über den Unternehmern ist schwächer geworden;

  • die Interessen sind vielfältiger und differenzierter geworden;

  • die Anforderungen an die Interessenvertreter sind ebenfalls vielfältiger und insgesamt größer geworden.

Die Auswirkungen der grundlegenden Veränderungen in der Arbeitswelt auf die Interessenvertretung der AN sind inzwischen von SoziologInnen,* PolitikwissenschaftlerInnen* und PraktikerInnen*299 untersucht worden. Auch die Rechtswissenschaft hat die Aktualität des ArbVG hinterfragt.*

Das Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchungen ist eindeutig:

  • Es besteht dringender Reformbedarf!

5.
Reformbedarf

100 Jahre nach dem ersten Betriebsrätegesetz und 45 Jahre nach dem Inkrafttreten des derzeit geltenden Arbeitsverfassungsgesetzes bedarf das Betriebsverfassungsrecht einer gründlichen Revision und (teilweisen) Erneuerung. Ziel der Reform muss es sein, die rechtlichen Grundlagen so zu gestalten, dass eine wirksame Interessenvertretung und Mitwirkung der AN auch unter den geänderten Bedingungen der neuen Arbeitswelt möglich ist.

Vorschläge für den konkreten Inhalt einer Reform des Betriebsverfassungsrechts gibt es zur Genüge.*

Ansatzpunkte sind vor allem

  • ein neuer Betriebsbegriff;

  • ein neuer AN-Begriff;

  • Erweiterung der Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte;

  • besserer Schutz der Betriebsratsmitglieder;

  • mehr Bildungsmöglichkeiten;

  • Änderung des Betriebsratswahlrechts;

  • mehr organisatorische Flexibilität.

Im Hinblick auf die völlig geänderten Rahmenbedingungen kann sich die notwendige Reform des Betriebsverfassungsrechts nicht auf die Nachführung und Fortschreibung des geltenden Rechts beschränken.

Firlei* hat schon vor fünf Jahren die provokante Frage gestellt: „Ist die Betriebsverfassung zunehmend nur mehr ein systemfunktionaler, den Kern der Misere verschleiernder Bestandteil eines sozialpolitisch außer Kontrolle geratenen Raubtierkapitalismus?

Oder einfacher: „Ist die Betriebsverfassung überhaupt noch ein geeignetes Modell des Interessenausgleichs?*

Eine Antwort auf diese gesellschaftspolitisch brisante Frage mit praktikablen, politisch realisierbaren Alternativen konnte freilich auch Firlei nicht geben. Seine eigenen konkreten Reformvorschläge bewegen sich durchwegs im Rahmen dessen, was er selbst „Reformismus pur“* nennt – und das ist durchaus kein Nachteil.

Interessant und im Rahmen einer Reform des Betriebsverfassungsrechts jedenfalls weiter zu verfolgen, ist die von Firlei bereits beim Seminar „30 Jahre ArbVG* gestellte Frage nach alternativen Vertretungsmöglichkeiten im Betrieb.

In totalem und fundamentalem Gegensatz zu Kuderna* hat Firlei die Auffassung vertreten, es gäbe keinerlei Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber des österreichischen Betriebsverfassungsrechts ein materielles Monopol der Belegschaft auf Interessenvertretung im Betrieb schaffen wollte.* Aufgrund der Koalitionsfreiheit wären neben der geltenden Betriebsverfassung auch andere Formen der Interessenvertretung zulässig.

Anlässlich des 40-jährigen „Jubiläums“ des ArbVG hat Firlei seine Position nochmals vertieft und präzisiert und daraus die rechtspolitische Forderung nach mehr organisatorischer Flexibilität der Betriebsverfassung abgeleitet.*

In einer sich ständig und rasch ändernden Arbeitswelt ist tatsächlich auch bei der Organisation der betrieblichen AN-Vertretung mehr Flexibilität notwendig. Die Entscheidung darüber, wie die Vertretung ihrer Interessen am zweckmäßigsten zu organisieren ist, sollte in einem demokratischen Verfahren von der Arbeitnehmerschaft selbst und autonom getroffen werden können. Auf diese Weise könnten auch für bestimmte Standorte mit mehreren Betrieben (wie zB Einkaufszentren oder Flughäfen) oder für branchenübergreifende Strukturen AN-Vertretungen gebildet werden. Derartige alternative Vertretungen dürfen aber keine mit den Betriebsräten konkurrierenden, sondern nur die derzeitigen Vertretungsmöglichkeiten ergänzende Einrichtungen sein.*

6.
Zukunftsperspektiven

Rechtsreform ist notwendig, sie ist aber bei Weitem nicht alles. Der Schlüssel für eine starke Interessenvertretung der AN liegt (auch) in Zukunft in Wissen, Information, Aus- und Weiterbildung; Kommunikation unter Nutzung aller technologischen und medialen Möglichkeiten; Bildung von Netzwerken und vor allem in der Bereitschaft zum gemeinsamen solidarischen Handeln.

Mit dem „Drei-Säulen-Modell“ der Interessenvertretung durch Betriebsräte, Gewerkschaften und Arbeiterkammern verfügen die österreichischen AN über ein einzigartiges, auch bei geänderten Rahmenbedingungen zukunftstaugliches System der Interessenvertretung.

Starke Interessenvertretungen sind auch in Zukunft ein unverzichtbarer Bestandteil der Demokratie.300