Wurzeln und Wandel des Kollektivismus am Beispiel des Kündigungsschutzes
Wurzeln und Wandel des Kollektivismus am Beispiel des Kündigungsschutzes
Der Status quo: Rechtzersplitterung, Inhomogenität und Disharmonien
Die Wurzeln des Bestandschutzes
Kündigungs- und Entlassungsschutz als „Bestandschutz“ – die Vorgeschichte
Das arbeitsrechtlich-historische Umfeld
Der erste Bestandschutz im BRG 1919
Die Entwicklungsschritte in Stichworten
Kollektivismus als Instrument des Machtmissbrauchs?
Conclusio: Individualismus als Instrument des Machtmissbrauchs!
Der geltende Bestandschutz in Österreich ist facettenreich, zersplittert, in hohem Maße auslegungsbedürftig und erscheint insgesamt inhomogen. Ein301 Prima-Facie-Befund zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen nach österreichischem Recht: Es ist alles sehr kompliziert!
Mit den nachfolgenden (arbeitsrechtliche*) Gesetzen ist der Rechtanwender potentiell ua (!) konfrontiert, wenn er ein Arbeitsverhältnis auflösen will:
ABGB, AngG, GewO, ArbVG, GlBG, AVRAG, APSG, MSchG/VKG, BAG, BEinstG, BPG, BMVSG, AMFG (= Wirksamkeitsbeschränkungen und/oder finanzieller Ausgleich).
Dieses bunte Ergebnis einer 100-jährigen Geschichte ruft vordergründig nach Vereinfachung. Es bedürfte jede Korrektur aber, wenn sie seriös erfolgen soll, einer eingehenden Überprüfung des historischen Telos auf Aktualität.
Wenn von Kündigungs- und Entlassungsschutz als Bestandschutz die Rede ist, so bedarf dies zunächst einer terminologischen Erklärung. Zu unterscheiden ist nämlich prinzipiell zwischen einem Schutz, infolge dessen der AN seinen Arbeitsplatz wieder erhält, und einem Schutz, der den AG bei sonstigem finanziellen Nachteil dazu anhält, nur sachliche und korrekte Beendigungen auszusprechen. In zweiterwähntem Fall ist bei „unrechtmäßiger“ Beendigung der AN nur auf einen Geldanspruch verwiesen. Dieser Fall liegt überall dort vor, wo es weder allgemeinen, noch besonderen, noch individuellen Kündigungs- und Entlassungsschutz gibt, Sittenwidrigkeit der Erklärung nicht gegeben ist und der einzige Schutz in der Verpflichtung des AG besteht, bei Kündigungen eine Frist und einen Termin einzuhalten und bei Entlassungen einen wichtigen Grund vorzuweisen. In der europäischen Terminologie wird gelegentlich schon in der Verankerung von Kündigungsfristen ein „Bestandschutz“ erblickt.* Dieser Ansatz ist auch aus der österreichischen Arbeitsrechtsgeschichte bekannt,* jedoch zutreffend schon seit langem aus sachlich fundierten Erwägungen überholt.* Man versteht mittlerweile unter „Bestandschutz“ nur jene Bestimmungen, die als solche – und nicht nur über den Umweg monetärer Abschreckung – „den Bestand des Arbeitsverhältnisses schützen
“.
Mit Recht wurde also historisch streng getrennt zwischen der Verhinderung leichtfertiger sofortiger Beendigung durch den AG an sich und dem Bestandschutz ieS. Am Beginn standen Kündigungsfristen und Entlassungsgründe und der Geldersatz bei Missachtung durch den AG. Der AN war in rechtlicher Hinsicht bei der Durchsetzung seiner Ansprüche (ausschließlich Geldansprüche) auf sich selbst gestellt (auch wenn er vielleicht tatsächlich Unterstützung durch ein Kollektiv erhalten konnte). Anfechtungen von Beendigungserklärungen waren in dieser frühen Phase nicht bekannt. Obwohl § 879 ABGB existent (und bekannt) war, konnte von einer durchgängigen Anerkennung und praktischen Anwendung des Sittenwidrigkeitskorrektivs auf Kündigungen und Entlassungen – wie zB danach, aber noch vor 1947 in Deutschland* – in der Zeit vor dem BRG 1919 (StGBl 1919/283) keine Rede sein.*
Gerade am Beispiel der Bestandsicherung von Arbeitsverhältnissen geben die ersten 20 Jahre des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll Aufschluss über die seinerzeitige Bedeutung kollektiven Denkens. Auffallend ist hierbei, dass das Bestreben, im Ernstfall, also nach Kündigungen oder Entlassungen, Arbeitsverhältnisse zu bewahren, für die breite Masse der ArbeiterInnen* kein Thema war. Vielmehr waren die – auch gerichtlich geführten – Diskussionen geprägt von einer zentralen Frage, welche Ausdruck und Inbegriff der Fluktuation (modern ausgedrückt: Flexibilität der AN) war: Es ging um Arbeitsbücher! Der Besitz eines Arbeitsbuches und die Einträge darin waren für die ArbeiterInnen von existentieller Bedeutung. Negative Einträge, geheime Anmerkungen, verborgene oder offene Hinweise auf Ungehorsam oder ähnliches verhinderten die Einstellung bei anderen AG. Der Ungehorsam der Zeit schlechthin aber bestand in der Beteiligung am Kampf für die Verbesserung von Lohn- oder sonstigen Arbeitsbedingungen, also am „gewerkschaftlichen“ Kampf. §§ 2 und 3 KoalG 1870 bildeten die rechtliche Grundlage für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit von Kampfmaßnahmen. Selbstredend war für die Gewerkschaft von großer Bedeutung, Nachteile von jenen abzuwenden, welche sich für den gewerkschaftlichen Kampf in irgendeiner Weise stark machten. Zu den vorrangigen Nachteilen jedoch zählten geheime oder offene Anmerkungen in Arbeitsbüchern oder auch in Dienstzeugnissen sowie die Einbehaltung des Arbeitsbuches an sich.*302
Anders als bei den ArbeiterInnen stellte sich die Situation bei BeamtInnen dar. Sie waren die erste Beschäftigtengruppe mit „Unkündbarkeit“, also „definitiven“ Dienstverhältnissen. Naheliegend erschien es sodann, die in den Dienstpragmatiken so genannter Privatbeamter* enthaltenen Kündigungsbeschränkungen analog dem Beamtendienstrecht auszulegen, allerdings hat der OGH am 31.1.1912 mit einer offenkundigen Fehlentscheidung* derartigen Bestrebungen fürs erste ein Ende gesetzt, indem unter Missachtung der Prinzipien hinter der damals schon existenten vergleichbaren Regelung des § 21 HGG nicht nur die Bestandsicherung grundlegend abgelehnt, sondern auch der Schadenersatz für rechtswidrige Auflösungen mit drei Monatsbezügen beschränkt wurde.
Eine Andeutung einer Bestandsicherung erkennt man demgegenüber in einem Urteil über den Anspruch eines Mitgliedes eines Arbeiterausschusses, wo ausdrücklich die „Unkündbarkeit“ ausgesprochen wurde.* Anzumerken ist, dass die Wurzeln dieser Arbeiterausschüsse keineswegs auch nur annähernd ähnliche waren wie jene des BR: Die Idee zu diesen Einrichtungen entsprang am 17.6.1891 dem Handelsminister* im Kabinett Taaffe und sollte durch die Förderung des Einvernehmens zwischen GewerbeunternehmerInnen und ArbeiterInnen zunächst primär den Unternehmern dienen. Der diesbezügliche Entwurf wurde nie Gesetz, faktisch aber wurden Arbeiterausschüsse eingerichtet. Erst als sich Arbeiterausschussmitglieder ihrer Aufgabe entsannen, auch die Interessen der ArbeiterInnen dem Gewerbeunternehmer nahe zu bringen, reagierten Letztere mit Entlassungen. In diesem Kontext kam es in der oben erwähnten E zur Feststellung der „Unkündbarkeit“.
Der letztlich relevante Gesetzesentwurf zum „Gesetz betreffend die Errichtung von Betriebsräten“ war von der Sozialisierungskommission ausgearbeitet worden und als Vorlage der Staatsregierung* dem Sozialisierungsausschuss der Konstituierenden Nationalversammlung (KNV) zur Verhandlung vorgelegt. Vorab ist anzumerken, dass gerade auch, was den Bestandschutz anbelangt, im Zuge der Verhandlungen maßgebliche Änderungen vorgenommen wurden. So wurde beim allgemeinen Bestandschutz als substantielle Änderung neben der ursprünglich festgeschriebenen Anfechtung von „Entlassungen“ nun auch die Anfechtung von „Kündigungen“ aufgenommen* sowie in § 3 Abs 2 Z 9* vor dem letzten Satz eine Anfechtungsfrist eingefügt. Für den gegenständlichen Kontext erwähnenswert ist vor allem, dass das Recht (nicht auch die Pflicht*), die Kündigung oder Entlassung anzufechten, ausschließlich dem BR und nicht auch dem einzelnen AN zustand.* Ein Recht des AN, sich gegen eine solche Anfechtung zur Wehr zu setzen, war nicht vorgesehen.*
Auch beim Sonderschutz für Betriebsratsmitglieder fand die Erweiterung auch auf Kündigungen statt, allerdings ist hier vom Entwurf zum Gesetz eine massive Einschränkung des Schutzes erfolgt: Während ursprünglich (im Entwurf noch in § 15) jede „Entlassung“ der Zustimmung des Einigungsamtes (EA) bedurfte, lässt das Gesetz (nunmehr § 14) Entlassungen aus bestimmten aufgezählten Gründen jedenfalls zu und fordert die Zustimmung des EA lediglich bei Beendigungen aus anderen Gründen. Ein vertraglicher Ausschluss ist ausdrücklich unzulässig (§ 14 Abs 2); Zuwiderhandlungen werden mit Geld- oder Arreststrafe bedroht.
Kollektiv ist nicht gleich Kollektiv! Ein differenzierendes Bild, das aber für das Verständnis des materiellen Gehalts des ersten allgemeinen Bestandschutztatbestandes nicht uninteressant ist, ergibt sich, wenn man bedenkt, dass das BRG 1919 durchaus nicht nur SkeptikerInnen auf der AGSeite auf den Plan gerufen hat: Trotz aller Begeisterung über die Absicherung von AN-Rechten an sich, hat man seitens der Gewerkschaften diese neue Entwicklung durchaus auch kritisch gesehen. Die befürchtete Konkurrenz* bringt etwa der folgende Ausschnitt aus einem kritischen Bericht in der Zeitung „Die Gewerkschaft“* zum Ausdruck: „Ein derartiges Werben um die Gunst der Arbeiter auf Kosten der Gewerkschaften erscheint uns aber auch schon deshalb als unzulässig, weil die Betriebsräteorganisation bisher den Beweis ihrer Zweckmäßigkeit wahrlich noch nirgends und insbesondere nicht auf jenen Gebieten erbracht hat, die bisher zu dem Aufgabenkreis der Gewerk-
303schaften gehörten.
“* „Die Tendenzen zu einer gewissen Selbständigkeit der Organisation“* wurden durch § 3 Abs 2 Z 1 und 2 BRG 1919 abgeschwächt, worin insb der Vorrang der Gewerkschaften in Sachen KollV zum Ausdruck kommt. Beim Kündigungs- und Entlassungsschutz hingegen, der übrigens in den diversen Stellungnahmen der Gewerkschaft keinerlei Erwähnung findet, liegt das Recht ausschließlich beim BR.* Quasi als Ironie des Schicksals hat gerade die „Institution BR“ in der Folge den Gewerkschaften zum eigentlichen Aufschwung verholfen.* Dass nämlich der Druck in Richtung Kollektiv durchaus kein geringer war, zeigen eindrucksvoll Beispiele aus der Rsp: Es hatten nämlich die Betriebsräte die Pflicht, die Einhaltung der Kollektivverträge zu überwachen (§ 3 Abs 2 Z 1a BRG 1919), und es waren zu jener Zeit (noch zu Recht)* in den Kollektivverträgen Bestimmungen enthalten, wonach nur Mitglieder bestimmter Gewerkschaften beschäftigt werden durften; daraus resultierte das Recht des BR – nicht aber der Belegschaft als solcher, weil darin ein unzulässiger „politischer“ Druck iSd neuen Kündigungsschutzes des § 3 Abs 2 Z 9 BRG 1919 erkannt wurde* –, im Falle des Verstoßes die Entlassung eines AN zu verlangen.* Als eine unmittelbare Folge dieser in den 20er-Jahren verbreiteten Praxis der closed-shop- bzw union-shop-Klauseln* (oder auch „Absperrungsklauseln“ genannt*) war wohl die Erlassung des BG vom 5.4.1930 zum Schutz der Arbeits- und der Versammlungsfreiheit (Antiterrorgesetz, BGBl 1930/113; vgl insb § 1 AntiTerrG) zu sehen.*
Was den Bestandschutz anbelangt, stellt das BRG 1947 einen wesentlichen Entwicklungsschritt dar,* und zwar – prima facie – einen solchen in Richtung Individualisierung. § 25 Abs 5 BRG 1947 macht die Anfechtung vom Verlangen des AN abhängig, § 25 Abs 6 BRG 1947 sieht sogar erstmals ein formelles Selbstanfechtungsrecht des AN vor, welches den AN sozusagen stellvertretend für den – entgegen der Intention und ausdrücklichen Anordnung des Gesetzes – nicht gebildeten BR die (der Belegschaft zukommende) Befugnis der Anfechtung ausüben lässt. Naheliegend war diese Entwicklung vor allem deshalb, weil der Organisationsgrad vor allem in Klein- und Mittelbetrieben äußerst gering war (und nach wie vor ist). Materiell werden außerdem nunmehr auch ehemalige Betriebsratsmitglieder geschützt und es wird – übrigens in den Materialien ausdrücklich* – unter Bezugnahme auf das Arbeitsordnungsgesetz (AOG) eine Anfechtungsmöglichkeit wegen „sozialer Härte“* eingeführt. Die Individualisierung indes durch Aufnahme des ausdrücklichen Verlangens wird in den Materialien mit keinem Wort begründet.* Es zeigt sich hier aber gerade am deutlichsten die korrigierende Funktion dieser Einführung eines AN-Rechtes: Wie an anderen Stellen (zu dem ins ArbVG gleichlautend übernommenen Erfordernis des Verlangens) bereits mehrfach ausgeführt, wurde es mit Recht für notwendig erachtet, „dem AN eine Möglichkeit einzuräumen, sich gegen eine Zwangsbeglückung im Wege der Klagsführung durch den BR zur Wehr zu setzen.
“*
In den hier angeführten Punkten ist es weder durch die BRG-Novelle 1971 noch durch das ArbVG zu einer Änderung gekommen. Das ArbVG schließlich bringt – und nun wieder in den maßgeblichen Punkten unkommentiert* – eindeutig eine Renaissance des Kollektivismus mit der Einführung eines sämtliche Anfechtungstatbestände umfassenden „Sperrrechts“ des BR. Die seit den 50er-Jahren lebhaft geführten Diskussionen* um das Verhältnis von Anfechtungsrecht und Sittenwidrigkeit konnten daran insofern nichts ändern, als letztlich die noch in der RV (§ 104)* enthalten gewesene Regelung der Unwirksamkeit sittenwidriger Kündigungen im Ausschuss wieder fallen gelassen wurde. Die partielle Aufhebung des Sperrrechts (BGBl 1990/411) folgt jüngeren Ten-304denzen in der Lehre.* Die Frage, ob mit dieser teilweisen Aufhebung des Sperrrechts nun eine Individualisierung des Kündigungsschutzes erfolgt ist, wird in der Folge kontroversiell gesehen,* wiewohl zugegeben werden muss, dass etwa seit jenem Zeitpunkt eine regelrechte Flut an rein individualistisch gestalteten Kündigungs- und Entlassungsschutztatbeständen Eingang in die österreichische Rechtsordnung gefunden hat. Freilich scheint dies nicht in der Hauptsache das Ergebnis eines innerösterreichischen Umdenkens gewesen zu sein; vielmehr waren die neuen Schutztatbestände (nämlich insb jene im GlBG sowie im AVRAG verankerten) in weitem Umfang schlicht der europäischen Integration geschuldet. Dass man trotz der Notwendigkeit rascher Anpassung durchaus auch auf Systemkonformität achten hätte können, wurde schon an anderen Stellen ausgeführt.*
„...In solchen wie in allen Streitigkeiten zwischen der Betriebsleitung und der Arbeiterschaft eines Betriebs kann es sich nicht darum handeln, daß der Betriebsrat seine Macht zeige, sondern daß das Recht gefunden und verteidigt werde. Nicht Machtpolitik sondern Rechtspolitik ist die Aufgabe des Betriebsrates ...
“* Dieses zeitgenössische Zitat lässt durchblicken, dass Segen und Fluch kollektivistischer Systeme gelegentlich dicht beieinander gesehen wurden.* Könnte also der befürchtete oder tatsächliche Machtmissbrauch im Laufe der Geschichte Anlass für eine stärkere Individualisierung des Kündigungsschutzes gewesen sein? Zu erwähnen sind hier zum einen die erwiesenen Instrumentalisierungen (angeblicher) AN-Vertretungen für Zwecke von Staatsmacht und/oder Unternehmerschaft.* Als Beispiele hierfür können die oben erwähnten Arbeiterausschüsse ebenso herangezogen werden, wie später die Werksgemeinschaften und noch später die vom NS-System eingerichteten Organe nach dem AOG. All dies hat aber – fast schon groteskerweise – nicht zu maßgeblichen Rufen nach Individualisierung des Bestandschutzes geführt.
Muss also hier tatsächlich die Frage gestellt werden, ob auch der „gerechte“ Kampf um Arbeitsbedingungen im Laufe der Geschichte die Frage nach Machtmissbrauch aufgeworfen hat? In der Tat! Zu verweisen ist hier auf die auch gerichtlich ausgetragenen Auseinandersetzungen um die Frage, in welchem Maße organisierte AN Druck auf nichtorganisierte ausgeübt haben, und in der Folge auf die bereits erwähnte brachiale Umsetzung kollektivvertraglicher Absperrungsklauseln mittels Entlassungsforderungen durch Betriebsräte.* Wäre es nun tatsächlich möglich, dass (befürchteter oder tatsächlicher) Machtmissbrauch durch AN-Vertretungsorgane auch in jüngerer Zeit den Ruf nach Individualisierung des Bestandschutzes laut werden ließen? Was den Weg zur partiellen Aufhebung des Sperrrechts betrifft, kann dies jedenfalls uneingeschränkt behauptet werden. Es war dies die naheliegende Folge zweifelhafter Zustimmungen, durch welche AN in ihren Rechten beschränkt wurden und dies – wohl zT mit Recht – auf sittenwidrige „Kollusion“* oder aber auch politische Druckausübung zurückgeführt haben. Dass der partielle Wegfall des „Sperrrechts“ aber eine Individualisierung des Bestandschutzes mit sich gebracht hätte, kann keineswegs behauptet werden, denn dieser war nun in der Tat als Korrektiv gegen (widerrechtliche) Machtausübung anzusehen gewesen.* Der Gesetzgeber hatte korrigiert, was fehlerhaft gelaufen war – weiter nichts.
Faktum ist: Der Bestandschutz in der aktuellen Form ist nicht nur zersplittert, sondern in weitem Umfang (unnotwendig) individualisiert. Als jüngstes Beispiel soll an dieser Stelle nur § 7 Abs 6 AZG erwähnt werden, mit welchem der Gesetzgeber einen rein individualrechtlichen Schutz der (nur sogenannten) „Freiwilligkeit“ bei Verweigerung von Überstunden verankern wollte und dabei übersehen hat, dass ein Mehr an Schutz für eben dieselben Sachverhalte in § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG in kollektivistischer Form bereits vorhanden ist.* Ähnliches gilt aber für die mittlerweile verstreuten individuellen Kündigungs-305schutztatbestände durchgängig: ZT sind Systemmängel dem Zeitdruck geschuldet, zT aber wurde – und wird – durchaus mit Absicht die Abkehr von kollektivrechtlichen Regelungen betrieben.
Wenn aber oben gefragt wurde, ob Kollektivismus (auch in betrieblichen AN-Organen) zu Machtmissbrauch führen kann, so wird hier an das Ende die Behauptung, Individualismus sei Machtmissbrauch mit einem Ausrufungszeichen versehen! Den AN in seinem Kampf um seine Rechte allein zu lassen, entspricht den Grundprinzipien des „Manchester-Liberalismus“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das dadurch ausgelöste Elend mit all seinen Folgen zu bekämpfen, sind – ua – die Schöpfer des BRG 1919 angetreten.
Wie modern die Notwendigkeit eines solchen Kampfes ist, erweist der Blick auf das drohende und leider bereits weit verbreitete Elend der Arbeitenden der Gegenwart. Mit einem Unterschied, der aber an der Sache nichts ändert: An die Stelle der Individualisierung an Fließbändern in schmutzigen Fabrikshallen ist die Vereinsamung am PC, im Netz, in der Crowd getreten – gefördert durch die Modernität neoliberaler Systeme und dem Trend zur Entsolidarisierung der Gesellschaft.
Dem Erbe der Schöpfer des BRG 1919 gerecht und den Herausforderungen der Arbeit der Gegenwart und Zukunft Herr zu werden, heißt, mit all den Lehren aus diesen 100 Jahren ausgestattet, auch die Weiterentwicklung des Bestandschutzes im Rahmen der jeweiligen sachlichen Rechtfertigung und bereichert um die mittlerweile bekannten Instrumentarien der Missbrauchskontrolle iSd Kollektivismus zu betreiben.