28Drittwirkung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und ihre Folgen für das nationale Arbeitsrecht
Drittwirkung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und ihre Folgen für das nationale Arbeitsrecht
Die Erben eines/einer AN haben Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub durch den/die Verstorbene/n.
Die Bestimmung des Art 31 Abs 2 GRC über das Recht auf bezahlten Jahresurlaub entfaltet unmittelbare Wirkung auf ein Arbeitsverhältnis zwischen zwei Privatpersonen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
[...]
10 Frau Bauer ist alleinige Rechtsnachfolgerin ihres [...] verstorbenen Ehemanns, der bei der Stadt Wuppertal beschäftigt war. Diese lehnte den Antrag von Frau Bauer auf Zahlung einer Vergütung [...] zur Abgeltung von 25 Tagen bezahlten Jahresurlaubs ab, die ihr Ehemann vor seinem Tod nicht genommen hatte.
11 Frau Broßonn ist alleinige Rechtsnachfolgerin ihres [...] verstorbenen Ehemanns, der seit 2003 bei Herrn Willmeroth beschäftigt [...] war. Herr Willmeroth lehnte den Antrag von Frau Broßonn auf Zahlung einer Vergütung [...] zur Abgeltung von 32 Tagen nicht genommenen Jahresurlaubs ab, die ihr Ehemann vor seinem Tod nicht genommen hatte.
12 Frau Bauer und Frau Broßonn klagten beide vor dem jeweils zuständigen Arbeitsgericht (Deutschland) auf Zahlung der betreffenden Vergütungen. Diesen Klagen wurde stattgegeben. Die Berufungen der Stadt Wuppertal und von Herrn Willmeroth gegen die erstinstanzlichen Urteile wurden vom zuständigen Landesarbeitsgericht (Deutschland) zurückgewiesen. Dagegen legten die Stadt Wuppertal und Herr Willmeroth Revision beim vorlegenden Gericht, dem Bundesarbeitsgericht (Deutschland), ein. [...]
15 Gem § 7 Abs 4 BUrlG iVm § 1922 Abs 1 BGB gehe nämlich der Anspruch des AN auf bezahlten Jahresurlaub mit seinem Tod unter, so dass er weder in einen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung umgewandelt noch Teil der Erbmasse werden könne. [...]
17 Außerdem sei fraglich, ob der AG nach Art 7 der RL 2003/88 oder Art 31 Abs 2 der Charta den Erben des AN eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub ungeachtet dessen zu zahlen habe, dass dies im vorliegenden Fall nach den in Rn 15 des vorliegenden Urteils genannten nationalen Bestimmungen ausgeschlossen sei.
18 In der Rs C-570/16 wirft das vorlegende Gericht unter Hinweis darauf, dass sich im Ausgangsrechtsstreit zwei Privatpersonen gegenüberstünden, die Frage auf, ob die genannten Vorschriften des Unionsrechts auch in einem solchen Kontext unmittelbare Wirkung entfalten könnten.
19 Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, wobei die erste Frage wortgleich in den Rs C-569/16 und C-570/16 und die zweite Frage nur in der Rs C-570/16 gestellt wird:
Räumt Art 7 der RL 2003/88 oder Art 31 Abs 2 der Charta dem Erben eines während des Arbeitsverhältnisses verstorbenen AN einen Anspruch auf einen finanziellen Ausgleich für den dem AN vor seinem Tod zustehenden Mindestjahresurlaub ein, was nach § 7 Abs 4 BUrlG iVm § 1922 Abs 1 BGB ausgeschlossen ist?
Falls die Frage zu 1. bejaht wird: Gilt dies auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis zwischen zwei Privatpersonen bestand? [...]
Zur Beantwortung der Fragen
[...]
40 Das in Art 7 Abs 1 der RL 2003/88 vorgeschriebene Urlaubsentgelt soll es dem AN ermöglichen, den Urlaub, auf den er Anspruch hat, tatsächlich zu nehmen (Urteil vom 16.3.2006, Robinson-Steele ua, C-131/04 und C-257/04, EU:C:2006:177, Rn 49).
[...]
43 Endet das Arbeitsverhältnis, ist es nicht mehr möglich, den bezahlten Jahresurlaub, der dem AN zustand, tatsächlich zu nehmen. Um zu verhindern, dass dem AN wegen dieser Unmöglichkeit jeder Genuss dieses Anspruchs, selbst in finanzieller Form, verwehrt wird, sieht Art 7 Abs 2 der RL 2003/88 vor, dass der AN Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für die nicht genommenen Urlaubstage hat (vgl in diesem Sinne Urteile vom 20.1.2009, Schultz-Hoff ua, C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn 56, vom 12.6.2014, Bollacke, C-118/13, EU:C:2014:1755, Rn 17, sowie vom 20.7.2016, Maschek, C-341/15, EU:C:2016:576, Rn 27).
44 Diese Bestimmung stellt für das Entstehen des Anspruchs auf finanzielle Vergütung keine andere Voraussetzung auf als diejenige, dass zum einen das Arbeitsverhältnis beendet ist und dass zum anderen der AN nicht den gesamten bezahlten Jahresurlaub genommen hat, auf den er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte (vgl in diesem Sinne Urteil vom 12.6.2014, Bollacke, C-118/13, EU:C:2014:1755, Rn 23).
45 Der Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses spielt daher für den in Art 7 Abs 2 der RL 2003/88 vorgesehenen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung keine Rolle (vgl in diesem Sinne Urteil vom 20.7.2016, Maschek, C-341/15, EU:C:2016:576, Rn 28). [...]
51 Zweitens hat das Recht auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union nicht nur besondere Bedeutung, sondern ist auch in Art 31 Abs 2 der Charta, der nach Art 6 Abs 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zukommt, ausdrücklich verbürgt (Urteil vom 30.6.2016, Sobczyszyn, C-178/15, EU:C:2016:502, Rn 20 und die dort angeführte Rsp).
53 Da mit der nationalen Regelung, die im Ausgangsverfahren in Rede steht, die RL 2003/88 umgesetzt wird, findet Art 31 Abs 2 der Charta in den Ausgangsverfahren Anwendung (vgl entsprechend Urteil vom 15.1.2014, Association de médiation sociale, C-176/12, EU:C:2014:2, Rn 43).324
54 Schon dem Wortlaut von Art 31 Abs 2 der Charta ist zu entnehmen, dass in dieser Bestimmung das „Recht“ jeder AN und jedes AN auf „bezahlten Jahresurlaub“ verankert ist. [...]
59 [...] Folglich können die Mitgliedstaaten nicht von dem sich aus Art 7 der RL 2003/88 iVm Art 31 Abs 2 der Charta ergebenden Grundsatz abweichen, wonach ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlischt, wenn der AN nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 29.11.2017, King, C-214/16, EU:C:2017:914, Rn 56). [...]
62 In Anbetracht dessen [...] ergibt sich im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Tod des AN nicht nur aus Art 7 Abs 2 der RL 2003/88, sondern auch aus Art 31 Abs 2 der Charta, dass der Anspruch des AN auf eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub im Wege der Erbfolge auf seine Rechtsnachfolger übergehen kann, da andernfalls der erworbene grundrechtlich relevante Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub einschließlich seiner vermögensrechtlichen Komponente rückwirkend entfallen würde.
63 Daher ist [...] zu antworten, dass Art 7 der RL 2003/88 und Art 31 Abs 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung [...] entgegenstehen, nach der bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Tod des AN der von ihm gemäß diesen Bestimmungen erworbene Anspruch auf vor seinem Tod nicht mehr genommenen bezahlten Jahresurlaub untergeht. [...]
70 Was nun als Erstes die Frage einer etwaigen unmittelbaren Wirkung von Art 7 der RL 2003/88 anbelangt, ergibt sich aus der stRsp des Gerichtshofs, dass sich der Einzelne in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen kann, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (Urteil vom 24.1.2012, Dominguez, C-282/10, EU:C:2012:33, Rn 33 und die dort angeführte Rsp). Zudem kann der Einzelne, wenn er sich dem Staat gegenüber auf eine Richtlinie berufen kann, dies unabhängig davon tun, ob der Staat in seiner Eigenschaft als AG oder als Hoheitsträger handelt. In dem einen wie dem anderen Fall muss nämlich verhindert werden, dass der Staat aus der Nichtbeachtung des Unionsrechts Nutzen ziehen kann (Urteil vom 24.1.2012, Dominguez, C-282/10, EU:C:2012:33, Rn 38 und die dort angeführte Rsp). [...]
75 Da Art 7 der RL 2003/88 [...] die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung erfüllt, haben somit Herr Bauer oder in Anbetracht seines Todes sein Rechtsnachfolger [...] Anspruch darauf, dass die Stadt Wuppertal eine finanzielle Vergütung für den bezahlten Jahresurlaub zahlt, [...] wobei die nationalen Gerichte insoweit verpflichtet sind, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die wie die in den Ausgangsverfahren fragliche einer solchen Vergütung entgegenstehen würde.
76 Bezüglich des Ausgangsrechtsstreits in der Rs C-570/16 zwischen Frau Broßonn in ihrer Eigenschaft als Rechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemanns und dessen früherem AG, Herrn Willmeroth, ist hingegen darauf hinzuweisen, dass eine Richtlinie nach stRsp des Gerichtshofs nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist. [...]
85 Das Recht auf bezahlten Jahresurlaub, das in Art 31 Abs 2 der Charta für jede AN und jeden AN verankert ist, ist infolgedessen, was sein Bestehen selbst anbelangt, zugleich zwingend und nicht von Bedingungen abhängig, da die Charta nicht durch unionsrechtliche oder nationalrechtliche Bestimmungen konkretisiert werden muss. [...] Folglich verleiht Art 31 Abs 2 der Charta schon für sich allein den AN ein Recht, das sie in einem Rechtsstreit gegen ihren AG in einem vom Unionsrecht erfassten und daher in den Anwendungsbereich der Charta fallenden Sachverhalt als solches geltend machen können (vgl entsprechend Urteil vom 17.4.2018, Egenberger, C-414/16, EU:C:2018:257, Rn 76). [...]
87 Bezüglich der Wirkung, die Art 31 Abs 2 der Charta gegenüber privaten AG entfaltet, ist festzustellen, dass die Charta nach ihrem Art 51 Abs 1 zwar für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts gilt. Hingegen trifft Art 51 Abs 1 der Charta keine Regelung darüber, ob Privatpersonen gegebenenfalls unmittelbar zur Einhaltung einzelner Bestimmungen der Charta verpflichtet sein können, und kann demnach nicht dahin ausgelegt werden, dass dies kategorisch ausgeschlossen wäre. [...]
92 Nach alledem ist [...] zu antworten, dass in dem Fall, dass eine nationale Regelung wie die in den Ausgangsverfahren fragliche nicht im Einklang mit Art 7 der RL 2003/88 und Art 31 Abs 2 der Charta ausgelegt werden kann, das mit einem Rechtsstreit zwischen dem Rechtsnachfolger eines verstorbenen AN und dessen ehemaligem AG befasste nationale Gericht die nationale Regelung unangewendet zu lassen und dafür Sorge zu tragen hat, dass der Rechtsnachfolger von dem AG eine finanzielle Vergütung für den von dem AN gemäß diesen Bestimmungen erworbenen und vor seinem Tod nicht mehr genommenen bezahlten Jahresurlaub erhält. Diese Verpflichtung ergibt sich für das nationale Gericht aus Art 7 der RL 2003/88 und Art 31 Abs 2 der Charta, wenn sich in dem Rechtsstreit der Rechtsnachfolger und ein staatlicher AG gegenüberstehen, und aus Art 31 Abs 2 der Charta, wenn sich in dem Rechtsstreit der Rechtsnachfolger und ein privater AG gegenüberstehen.
Die vorliegende E beschäftigt sich mit zwei wesentlichen Fragestellungen. Einerseits erörtert der EuGH den Anspruch der Erben eines/einer AN auf finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub durch den/die Verstorbene/n. Andererseits wird thematisiert, ob die Bestimmung des Art 31 Abs 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) über das Recht auf bezahlten325 Jahresurlaub auf ein Arbeitsverhältnis zwischen zwei Privatpersonen unmittelbare Wirkung entfaltet.
Die Beantwortung der ersten Fragestellung durch das Höchstgericht brachte für die österreichische Rechtsordnung keine Neuerung, weil der Anspruch der Erben auf finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub des/der ErblasserIn in § 10 Abs 5 UrlG geregelt ist.
Die gegenständliche Urteilsbesprechung konzentriert sich daher auf die zweite Frage und deren Beantwortung durch den EuGH, nämlich jene der unmittelbaren Wirkung des Art 31 Abs 2 GRC auf ein Arbeitsverhältnis zwischen zwei Privatpersonen („Drittwirkung“) und die Folgewirkungen, die sich aus dieser horizontalen Wirkung der GRC auf andere arbeitsrechtliche Sachverhalte ergeben.
Die GRC stellt einen wesentlichen Bestandteil der Rechtsordnung der EU dar. Art 6 Abs 1 EUV bestimmt, dass die in der GRC kodifizierten Grundrechte dem Primärrecht gleichrangig sind und daher allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechtes darstellen (vgl Kainer, GPR [2016] 262 mwN).
Neben Grundrechten finden sich auch sogenannte Grundsätze in der GRC, aus denen kein unmittelbares Recht abgeleitet werden kann (vgl Stangl in Kahl/Raschauer/Storr [Hrsg], Grundsatzfragen der Grundrechtecharta [2013] 3 f). Grundrechtsverpflichtete sind gem Art 51 GRC vornehmlich die Organe, Einrichtungen sowie sonstige Stellen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips einerseits und die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (vgl Holoubek/Lechner/Oswald in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar [2014] Art 51 GRC Rz 1).
Aus dem Wortlaut von Art 51 Abs 1 GRC leiteten Teile der Lehre ab, dass keine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte besteht, sondern diese nur vertikale Wirkung haben, also nur die Organe der Union und die Mitgliedstaaten binden (vgl Kingreen in Calliess/Ruffert [Hrsg], EUV/AEUV4 Art 51 GRC Rz 18; anders Holoubek/Lechner/Oswald in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar Art 51 GRC Rz 37).
Entgegen dieser Lehrmeinungen vertritt der EuGH in der vorliegenden E, dass Art 51 Abs 1 GRC keine Regelung darüber treffe, „ob Privatpersonen gegebenenfalls unmittelbar zur Einhaltung einzelner Bestimmungen der Charta verpflichtet sein können, und kann demnach nicht dahin ausgelegt werden, dass dies kategorisch ausgeschlossen wäre
“ (vorliegendes Urteil Rn 87) und folgt damit den Ausführungen des Generalanwalts. Konkret führte der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen aus, dass eine Bestimmung der GRC dann eine unmittelbare Geltung zwischen Privatpersonen entfalte, „wenn sie aufgrund ihrer im Wortlaut angelegten wesentlichen Merkmale zwingender Natur und eigenständig ist
“ (Schlussanträge des Generalanwalts vom 29.5.2018, Nr 80 zu vorliegender E). Bereits in den Entscheidungen in der Rs Egenberger (EuGH 17.4.2018, C-414/16) und Rs Association de médiation sociale (EuGH 15.1.2014, C-176/12) schloss der EuGH die Drittwirkung von Grundrechten nicht von vornherein aus und zeichnete den Weg vor, den er – so scheint es – nun konsequent fortsetzt. In der älteren Rs Dominguez (24.1.2012, C-282/10) lehnte die Generalanwältin noch jede Drittwirkung der GRC mit Verweis auf gewichtige Stimmen in der Literatur ab (Schlussanträge der Generalanwältin vom 8.9.2011, Nr 83 mwN in der Rs Dominguez). Das Argument der Generalanwältin in der Rs Dominguez gegen eine Drittwirkung der GRC stützt sich ua auf die Bestimmung in Art 52 Abs 1 GRC, wonach „jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten [...] gesetzlich vorgesehen sein [...]
“ muss. Nach Ansicht der Generalanwältin kann diese rechtsstaatliche Anforderung für Eingriffe in Grundrechte nur an die Union und ihre Mitgliedstaaten als Träger von Hoheitsgewalt gerichtet sein (vgl Schlussanträge der Generalanwältin vom 8.9.2011, Nr 83 mwN in der Rs Dominguez; Stangl in Kahl/Raschauer/Storr [Hrsg], Grundsatzfragen der Grundrechtecharta 6). ME ist die gewählte Argumentation des EuGH sehr kühn, da sich Art 51 Abs 1 GRC ausdrücklich nur auf Organe und Einrichtungen der Union und Mitgliedstaaten bezieht und daher kein Platz für eine Drittwirkung besteht (vgl Schorkopf in Grabenwarter, Rz 33; Borowsky in Meyer, Rz 31). Insb bei Heranziehung des argumentum e contrario würde man zum Ergebnis kommen, dass Privatpersonen nicht genannt und daher nicht Grundrechtsverpflichtete sind (dazu näher mit einer differenzierten Betrachtungsweise Holoubek/Lechner/Oswald in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar Art 51 GRC Rz 8). Das Argument des EuGH, wonach die Anwendbarkeit der GRC zwischen Privatpersonen textlich in Art 51 Abs 1 GRC nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist, mag nur schwerlich überzeugen. Die mE nach schlüssigen Argumente der Generalanwältin in der Rs Dominguez behandelte der EuGH in der vorliegenden E nicht. Vielmehr scheint der EuGH zu diesem Schritt nun bewusst bereit, um eine Grundlage für AN zu schaffen, sich gegenüber einem privaten AG auf die in den Bestimmungen der GRC normierten Rechte (mit arbeitsrechtlichem Inhalt) bei der Durchführung des Rechts der Union unmittelbar berufen zu können. Eine uneingeschränkte Möglichkeit der Anwendbarkeit der Grundrechte der GRC wurde durch diese E des EuGH jedoch nicht geschaffen. Eine Berufung auf die GRC kann nur erfolgen, wenn das jeweilige Grundrecht der GRC entsprechend klar bestimmt ist und keiner weiteren Konkretisierung durch das Unionsrecht oder nationale Recht bedarf (vgl Rs Association de médiation sociale, Rn 45). Darüber hinaus muss die „Durchführung des Rechts der Union“ gegeben sein. Wann die „Durchführung des Rechts der Union“ vorliegt, wurde durch die bisherige Rsp des EuGH herausgebildet (vgl Holoubek/Lechner/Oswald in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar Art 51 GRC Rz 28 ff). Diese Parameter sind sehr allgemein gehalten und räumen dem EuGH bei seiner Beurteilung einen weiten Spielraum ein. Bisher lassen sich drei Anwendungsfälle charakterisieren. Zum einen stellt der EuGH auf die unionsrechtliche Determinierung der in Rede stehenden mitgliedstaatlichen Rechtsvorschrift ab. Zum anderen darauf, ob diese Regelung einen von einschlägigen unionsrechtlichen Regelungen verschiedenen Zweck verfolgt und letztlich, ob das Unionsrecht für den konkreten Sachverhalt eine hinreichende Regelungs-326dichte aufweist (Holoubek/Lechner/Oswald in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar Art 51 GRC Rz 31). In der vorliegenden E war die Anwendbarkeit der GRC gegeben, zumal durch § 7 Abs 4 des deutschen Bundesurlaubsgesetzes die RL 2003/88 umgesetzt wurde. Erst durch diesen Umstand war es dem EuGH möglich, gemäß den bisherigen Grundsätzen seiner eigenen Judikatur, die GRC auf den zu beurteilenden Sachverhalt anzuwenden. Die bemerkenswerte Neuerung, die sich aus der vorliegenden E ergibt, ist sohin die Klarstellung, dass die GRC bei Erfüllen der zuvor näher dargestellten Voraussetzungen eine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten entfalten kann.
Inwieweit sich die vorliegende E auf das österreichische Arbeitsrecht, insb auf die arbeits- und sozialgerichtlichen Verfahren auswirken wird, ist mE aufgrund der bestehenden Anwendungsvoraussetzungen schwer abzuschätzen. Es sind jedoch Konstellationen denkbar, in denen die Drittwirkung der GRC eine Rolle spielen kann. Exemplarisch soll anhand der folgenden Rechtsfrage die mögliche Auswirkung der E des EuGH erörtert werden.
In der österreichischen hL sowie Judikatur wurde die Möglichkeit, die Anfechtung einer Kündigung wegen Sozialwidrigkeit durch Zustimmung des BR gem § 105 Abs 6 ArbVG zu verhindern, im Lichte von Art 30 GRC bereits mehrfach diskutiert (vgl Rebhahn, DRdA 2014, 184; Jabornegg, DRdA 2014/28, 322mwN). Mit der vorliegenden E des EuGH erhält diese Fragestellung eine neue Dimension, denn bislang wurde eine unmittelbare Berufung eines/einer gekündigten AN auf dieses Grundrecht nicht näher diskutiert. Art 30 GRC gewährleistet jedem/jeder AN nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung. Noch immer ist die Rechtsfrage umstritten, ob es sich bei Art 30 GRC um ein Grundrecht oder um einen Grundsatz handelt (zustimmend Riedel in Meyer, Art 30 Rz 8 mit Verweis auf die Beratungen im Grundrechtskonvent, wonach Art 30 GRC nicht als Zielbestimmung, sondern als Recht ausgestaltet sei; ablehnend Knecht in Schwarze, Art 30 GRC Rz 6; Streinz in Streinz, Art 30 Rz 3). Zutreffend vertritt Kröll die Rechtsauffassung, wonach das in Art 30 GRC verankerte Recht auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung als ein einklagbares subjektives Recht und damit als ein Grundrecht zu qualifizieren sei (Kröll in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar Art 30 GRC Rz 8 mwN). Kröll begründet seinen Standpunkt damit, dass der Wortlaut der Bestimmung hinreichend bestimmt sei, wonach jede/r AN „Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung“ genießt, auch wenn Art 30 GRC unter einem Ausgestaltungsvorbehalt steht (Kröll in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar Art 30 GRC Rz 8). Für die Auffassung Krölls spricht auch die Sichtweise von Rebhahn, der auf den Wortlaut von Art 30 GRC sowie den Verweis in den Materialien auf die Revidierte Europäische Sozialrechtscharta abstellt und hieraus ein Individualrecht der einzelnen AN ableitet (vgl Rebhahn, DRdA 2014, 183). Da Art 30 GRC aufgrund dieser mE nach überzeugenden Argumente als Grundrecht zu qualifizieren ist, ist § 105 Abs 6 ArbVG mit dem in dieser Bestimmung umfassend gewährleisteten Recht unvereinbar, weil der BR dem AN mit seiner ausdrücklichen Zustimmung die Anfechtung der Kündigung wegen Sozialwidrigkeit versperrt (vgl Rebhahn, DRdA 2014, 183; Trost in Strasser/Jabornegg/Resch [Hrsg], ArbVG § 105 Rz 329; Wolligger in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 105 ArbVG Rz 75). Art 30 GRC verwendet zwar den Begriff „Entlassung“, jedoch erfasst dieser auch eine Kündigung iS von § 105 ArbVG, da gem Rsp des EuGH der Begriff „Entlassung“ autonom auszulegen ist (Kröll in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar Art 30 GRC Rz 17 mwN).
Folgt man weiter dem vom EuGH entwickelten Prüfschema muss für die unmittelbare Anwendbarkeit eines Grundrechtes zwischen Privatpersonen die „Durchführung des Rechts der Union
“ vorliegen. Liegt keine „Durchführung des Rechts der Union
“ vor, kann die Bestimmung des § 105 Abs 6 ArbVG, auch wenn sie mit Art 30 GRC unvereinbar ist, wovon ausgegangen wird, nicht unangewendet bleiben. Demnach muss § 105 Abs 6 ArbVG entweder unionsrechtlich determiniert sein, einen von einschlägigen unionsrechtlichen Regelungen verschiedenen Zweck verfolgen oder das Unionsrecht für den konkreten Sachverhalt eine hinreichende Regelungsdichte aufweisen, damit sich ein/e RechtsanwenderIn auf Art 30 GRC berufen kann. Dies stellt mE nach eine besondere Herausforderung dar, zumal § 105 Abs 6 ArbVG nicht unionsrechtlich determiniert ist (hierzu keine konkreten Ausführungen Rebhahn, DRdA 2014, 183). Ebenso verfolgt § 105 Abs 6 ArbVG keinen zu einer einschlägigen unionsrechtlichen Regelung anderen Zweck. Fraglich ist, ob das Unionsrecht für den konkreten Sachverhalt eine hinreichende Regelungsdichte aufweist, wovon mE jedoch nicht auszugehen ist.
Als Ergebnis ist daher festzuhalten, dass die unmittelbare Anwendbarkeit von Art 30 GRC im Fall von § 105 Abs 6 ArbVG mE nach aufgrund der vorliegenden E des EuGH zwar denkbar ist, jedoch scheint dieser Weg derzeit in Ermangelung der „Durchführung des Rechts der Union
“ versperrt zu sein. Auf einen rein innerstaatlichen Sachverhalt ist die GRC, wie zuvor dargestellt, nicht anwendbar (vgl auch OGH 22.2.2016, 10 ObS 11/16i). Eine E des EuGH zu dieser Rechtsfrage liegt, soweit ersichtlich, bislang auch nicht vor.
Zusammenfassend wurde die Rolle der GRC durch diese E unmissverständlich gestärkt. Die unmittelbare Anwendbarkeit von Art 31 Abs 2 GRC auch zwischen zwei Privatpersonen eröffnet vielfältige Möglichkeiten. Insb Gerichte und ParteienvertreterInnen werden nach dieser E zu prüfen haben, ob Sachverhalte in den Anwendungsbereich der GRC fallen. Eine mE nach bemerkenswerte E, die jedoch bei genauer Betrachtung der Entscheidungshistorie des EuGH vorhersehbar war. Die tatsächliche Auswirkung ist derzeit nicht abzuschätzen, jedoch zeigt das Beispiel anhand von § 105 Abs 6 ArbVG, dass es durchaus einen eingeschränkten unmittelbaren Anwendungsbereich für die GRC zwischen Privaten gibt. ME nach braucht es aufgrund dieser E in der Zukunft jedenfalls ein Umdenken der RechtsanwenderInnen.327