Entfall des Entgelts bei Arbeitsausfällen mit Ursache in der sogenannten „neutralen Sphäre“?

DAPHNEAICHBERGER-BEIG (WIEN)
Haben AN Anspruch auf Entgelt für Zeiträume, in denen der AG sie aufgrund eines ausgedehnten Ereignisses höherer Gewalt nicht zur Arbeit einsetzen kann? Die Antwort auf diese Frage ist umstritten, obwohl § 1155 Abs 1 ABGB vorsieht, dass arbeitsbereite AN ihren Entgeltanspruch behalten, wenn die Arbeitsleistung aufgrund von Umständen auf Seiten des AG unterbleibt. Kontrovers ist nämlich, welche Hinderungsgründe „auf Seiten des Arbeitgebers“ liegen. Nach hM sollen insb ausgedehnte Ereignisse höherer Gewalt aus der AG-Sphäre ausscheiden und einer entgeltfortzahlungsfreien sogenannten „neutralen Sphäre“ zuzuordnen sein.Im Zuge der Corona-Krise wurde dieses Rechtsproblem für eine sehr große Zahl von AN von eminenter Bedeutung, sodass der Gesetzgeber eine befristete Sonderregelung dafür traf. Die grundsätzliche Frage, welche Risiken der AG gem § 1155 Abs 1 ABGB zu tragen hat, blieb jedoch offen und soll im folgenden Beitrag untersucht werden.
  1. Fragestellung

  2. Einführung: Die Regelung des § 1155 Abs 1 ABGB

    1. Allgemeines

    2. Meinungsstand zur Arbeitgebersphäre

      1. Lehre

      2. Rechtsprechung

  3. Die anlassbezogene Neuregelung in § 1155 Abs 3 und 4 ABGB

    1. Inhalt der Neuregelung

    2. Bedeutung der Neuregelung für die Auslegung der Arbeitgebersphäre

  4. Verhältnis des § 1155 Abs 1 ABGB zum allgemeinen Zivilrecht

  5. Vertragliche Aufgabenverteilung und Risikotragung

    1. Schuldinhalt beim Arbeitsvertrag

    2. Vergleich mit dem Werkvertrag

  6. Wortlaut

    1. Entstehungsgeschichte

    2. Gesetzesmaterialien

  7. Abstrakte Beherrschbarkeit des Risikos

  8. Arbeitsrechtliche Wertungen

  9. Wegfall der Geschäftsgrundlage?

  10. Fehlende Arbeitsbereitschaft

  11. Abgrenzungsprobleme der neutralen Sphäre

  12. Zusammenfassung

1.
Fragestellung

Die Corona-Krise hat die große Bedeutung der Entgeltfortzahlung gezeigt, wenn aufgrund eines unerwarteten Ereignisses eine große Zahl von AN von ihren AG nicht zur Arbeit eingesetzt werden kann. Für diesen Anlassfall hat der Gesetzgeber eine bis zum 31.12.2020 befristete Sonderregelung geschaffen (siehe zu dieser Pkt 3.).
Der nachfolgende Beitrag untersucht die dahinterstehende und nach wie vor umstrittene Frage, für welche Umstände der AG gem § 1155 Abs 1 ABGB grundsätzlich das Risiko trägt.*
Ausgeklammert bleibt in diesem Beitrag, ob die Besonderheiten des Arbeitskampfrechts abweichende Risikotragungsregeln bei fehlender Beschäftigungsmöglichkeit infolge eines Streiks rechtfertigen.

2.
Einführung: Die Regelung des § 1155 Abs 1 ABGB
2.1.
Allgemeines

Der dispositive* § 1155 Abs 1 ABGB bestimmt: „Auch für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen sind, gebührt dem Dienstnehmer das Entgelt, wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seite des Dienstgebers411liegen, daran verhindert worden ist; er muss sich jedoch anrechnen, was er infolge Unterbleibens der Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung erworben oder zu erwerben absichtlich versäumt hat.“ Der um die Anrechnungsposten gekürzte Entgeltfortzahlungsanspruch des § 1155 Abs 1 ABGB stellt die AN wirtschaftlich so, wie sie bei Erbringung der Arbeitsleistung stünden.*
Voraussetzung für den Anspruch gem § 1155 Abs 1 ABGB ist erstens, dass der AN arbeitsbereit ist, dh willens und fähig, die geschuldete Arbeitsleistung vereinbarungsgemäß zu erbringen.* Die Arbeitsbereitschaft fehlt insb dann, wenn der AN den Dienst nicht antreten kann, weil er erkrankt ist* oder weil er infolge einer Naturkatastrophe den Betrieb nicht erreichen kann* (siehe jedoch zum Zusammentreffen mehrerer Entgeltfortzahlungstatbestände unter Pkt 10.).
Zweitens ist § 1155 Abs 1 ABGB nur anwendbar, wenn die Arbeitsleistung unterbleibt. Da AN sich im Arbeitsvertrag (lediglich) dazu verpflichten, dem AG ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen,* erfüllen sie grundsätzlich ihre Arbeitspflicht bereits dadurch, dass sie während der Arbeitszeit arbeitsbereit am Arbeitsort auf Anweisungen warten.* Das von § 1155 Abs 1 ABGB geforderte Unterbleiben der Dienstleistung liegt nur dann vor, wenn der AG dem AN bekannt gibt, dass er die Arbeitsleistung endgültig nicht in Anspruch nimmt, dh den AN „nachhause schickt“ bzw freistellt* oder wenn es aufgrund der Umstände evident ist, dass die Arbeitsleistung nicht erbracht werden kann.* Anwendungsvoraussetzung des § 1155 Abs 1 ABGB ist überdies, dass die Arbeitsleistung aufgrund von Umständen „auf Seiten des Arbeitgebers“ unterbleibt. Über die Frage, wann das Leistungshindernis der AG-Sphäre zuzuordnen ist, scheiden sich die Geister (siehe dazu näher 2.2.).
Die Anwendungsfälle des § 1155 Abs 1 ABGB in der Judikatur sind vielfältig. Ein großer Teil der OGH-Urteile zu § 1155 Abs 1 ABGB betrifft Zeiträume, in denen der AG zu Unrecht die Auffassung vertreten hatte, dass kein aufrechtes Arbeitsverhältnis bestand und den AN infolgedessen nicht beschäftigte (zB während eines Kündigungsschutzverfahrens).* Ein praktisch häufiges Anwendungsbeispiel für § 1155 Abs 1 ABGB sind auch Dienstfreistellungen während des Laufs der Kündigungsfrist.
Im Grundsatz ist auch unumstritten, dass § 1155 Abs 1 ABGB ebenso zur Anwendung gelangt, wenn die Arbeitsleistung aus wirtschaftlichen Gründen (zB Auftragsmangel) oder aufgrund von organisatorischen oder technischen Störungen des Betriebs (zB Stromausfall, Rohstoffmangel für die Produktion) unmöglich wird. Viele AutorInnen befürworten jedoch unter gewissen – unterschiedlich weit gefassten – Bedingungen Ausnahmen von diesem Grundsatz (siehe gleich 2.2.).

2.2.
Meinungsstand zur Arbeitgebersphäre
2.2.1.
Lehre

Allgemein anerkannt ist, dass § 1155 Abs 1 ABGB eine Gefahrtragungsregel ist und dementsprechend der Anspruch des AN auf Entgeltfortzahlung kein Verschulden des AG voraussetzt.* Es herrscht also Konsens, dass grundsätzlich auch unverschuldete (= zufällige) Ereignisse der AG-Sphäre zuzurechnen sein können.
Nach hM sollen zur AG-Sphäre aber nicht alle Zufälle gehören, die Arbeitsausfälle bewirken.* Für jene zufälligen Leistungshindernisse, die außerhalb der AG-Sphäre liegen und bei denen kein Entgeltfortzahlungsanspruch bestehe, wird häufig der Begriff „neutrale Sphäre“ verwendet.*
Die Lehre entwickelte zur Abgrenzung der AG-Sphäre verschiedene Thesen. In älterer Zeit vertrat Gottesfeld die Auffassung, dass der AG-Sphäre nur solche Zufälle angehören, die im Betrieb des AG eingetreten seien (zB Fabriksbrände und Schäden der Betriebsmittel), aber nicht Zufälle, die von außen auf den Betrieb einwirken (zB Krieg, Epidemie und Unmöglichkeit des Rohstoffbezugs 412 infolge Verkehrsunterbrechung).*Tomandl kritisierte Gottesfelds lokalisierenden Zugang und entwickelte – in Zusammenhang mit dem Arbeitskampfrisiko – die seither oft zitierte* Zurechnungstheorie.* Gemäß der Zurechnungstheorie sei das Auftreten des Leistungshindernisses im Betrieb des AG nur ein Indiz für die Zugehörigkeit zur AG-Sphäre. Die Zurechnung ergebe sich aus den Wertungen der gesamten Rechtsordnung und sei letztlich durch Interessenabwägung anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden.* Auf Basis der Zurechnungstheorie sollen nach Tomandl aus dem Anwendungsbereich des § 1155 Abs 1 ABGB insb Fälle ausscheiden, in denen der Betrieb durch die Entgeltfortzahlung in seiner Existenz gefährdet wäre, und Fälle, in denen der AG aus dem neutralen Raum auf den Betrieb einwirkende Hinderungsgründe trotz Einhaltung aller zumutbaren Sorgfaltsanforderungen nicht abwenden hätte können.* Ua schloss sich Schnorr der Zurechnungstheorie an. Schnorr verlangte für die Zugehörigkeit zur AG-Sphäre, dass das Risiko in den Herrschaftsbereich des AG fällt.* Kritik erfuhr die Zurechnungstheorie für die Unbestimmtheit der Zurechnungskriterien und dafür, dass sie die Norm des § 1155 ABGB so auflöse, dass ihr nicht mehr entnommen werden könne, wann ihr Tatbestand erfüllt sei.*
In der aktuellen Kommentar- und Lehrbuchliteratur werden im Wesentlichen zwei Auffassungen zur Reichweite der Ausnahme von der AG-Sphäre vertreten. Im Anschluss an Tomandl vertreten auch heute mehrere AutorInnen die – weitreichendere – Ausnahme, dass eine Zurechnung an den AG bereits dann ausscheide, wenn das Leistungshindernis trotz aller zumutbarer Maßnahmen eingetreten ist und nicht vorhersehbar war.* Die überwiegende Auffassung hingegen nennt die Verhinderbarkeit oder Vorhersehbarkeit des Arbeitshindernisses nicht als Kriterium, sondern erlaubt nur eine engere Ausnahme vom Anwendungsbereich des § 1155 ABGB für sogenannte „allgemeine Kalamitäten“.* Unter allgemeinen Kalamitäten werden Ereignisse höherer Gewalt verstanden, die so umfassend sind, dass sie nicht der Sphäre einer der beiden Vertragsparteien zuzurechnen sind, sondern die Allgemeinheit betreffen.* Eine Kalamität ist nach hM nur dann allgemein, wenn sie nicht speziell den Betrieb des AG betrifft und auch nicht für den Standort oder die Branche des AG typisch ist.* Als Beispiele für allgemeine Kalamitäten werden in der Literatur und vom OGH uA Krieg, Seuchen und Terror genannt.*
Dass dem AN außerhalb des Anwendungsbereichs des § 1155 Abs 1 ABGB (bzw innerhalb der neutralen Sphäre) kein Entgelt zustehe, wird von der hM mit dem allgemeinen Zivilrecht begründet. Gemäß der zivilrechtlichen Regelung in § 1447 ABGB entfalle der Entgeltanspruch bei zufälliger Unmöglichkeit der Vertragserfüllung.* Von diesem Grundsatz weiche § 1155 Abs 1 ABGB zugunsten der AN ab und entlaste AN aus sozialpolitischen Gründen von unternehmerischen Risiken.* Soweit § 1155 Abs 1 ABGB nicht anwendbar sei, bleibe es bei § 1447 ABGB bzw der allgemeinen Regel, dass ohne Arbeitsleistung das Entgelt entfalle.*
Zur These der allgemeinen Kalamitäten räumen selbst deren VertreterInnen ein, dass aus Sicht der Parteien die Unterscheidung nach der Ausbreitung des Leistungshindernisses überraschend sei.* Sie begründen den Entgeltentfall – neben der Berufung auf § 1447 ABGB* – mit dem Wegfall der Geschäftsgrundlage* und mit dem Gedanken, dass es volkswirtschaftlich vorteilhafter sei, „bei allgemeinen Störungen die Folgen durch temporäre Entgeltausfälle von AN zu streuen, als die Überforderung einer größeren Zahl413 von Unternehmen und deren Folgeprobleme zu riskieren“.*

2.2.2.
Rechtsprechung

In Fällen, in denen ausgedehnte Schneefälle die Arbeitsleistung verhinderten, gab das Höchstgericht die Lehre zur neutralen Sphäre zwar wieder, im Ergebnis bejahte es jedoch die Entgeltfortzahlungsansprüche, weil das Naturereignis nicht jenes Ausmaß erreichte, das erforderlich sei, damit von einer allgemeinen Kalamität gesprochen werden könne, und verwies auch darauf, dass der betroffene Betrieb in einem Gebirgstal der oberen Steiermark liege, in dem erfahrungsgemäß im Winter mit starken Schneefällen zu rechnen sei.*
In keiner E hat der OGH jemals im konkret zu entscheidenden Fall den Entgeltanspruch aufgrund des Vorliegens einer allgemeinen Kalamität verneint.

3.
Die anlassbezogene Neuregelung in § 1155 Abs 3 und 4 ABGB
3.1.
Inhalt der Neuregelung

Wie bereits eingangs erwähnt, war in der Corona-Krise das Bestehen von Entgeltfortzahlungsansprüchen gem § 1155 Abs 1 ABGB für eine sehr große Zahl von AN von entscheidender Bedeutung. Das EpidemieG sieht zwar Sonderregelungen und auch Entgeltfortzahlungsansprüche bei behördlich angeordneten Betriebsschließungen vor. Hinsichtlich Betriebsschließungen, die aufgrund der Verordnung zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus* erfolgten, sah der Gesetzgeber jedoch in § 4 Abs 2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes (BGBl I 2020/12BGBl I 2020/12) vor, dass die Sonderregelungen des EpidemieG für Betriebsschließungen nicht zur Anwendung gelangen. Daher sind auch in diesem Fall die Entgeltansprüche der AN nach § 1155 ABGB zu beurteilen.
Vor dem Hintergrund der Kontroversen zu § 1155 Abs 1 ABGB sah der Gesetzgeber in der Corona-Krise die Notwendigkeit, in der Frage der Entgeltfortzahlung Rechtssicherheit zu schaffen. Er traf eine anlassbezogene Sonderregelung durch Erweiterung des § 1155 ABGB um die neuen Abs 3 und 4. § 1155 Abs 3 ABGB regelt, dass „Maßnahmen auf Grundlage des COVID-19-Maßnahmengesetzes, BGBl I 2020/12BGBl I 2020/12, die zum Verbot oder zu Einschränkungen des Betretens von Betrieben führen“, als Umstände iSd § 1155 Abs 1 „gelten“. AG sind somit in diesen Fällen grundsätzlich zur Entgeltfortzahlung verpflichtet, wobei diese Verpflichtung jedoch erstens zeitlich beschränkt ist (nämlich bis zum 31.12.2020) und zweitens dadurch eingeschränkt ist, dass der Gesetzgeber dem AG gestattet, in bestimmtem Umfang einseitig den Verbrauch von Urlaubsund Zeitguthaben anzuordnen (im Ausmaß von bis zu zwei Wochen aus dem laufenden Urlaubsjahr und insgesamt im Ausmaß von maximal acht Wochen). Von der Verbrauchspflicht ausgenommen sind „Zeitguthaben, die auf der durch kollektive Rechtsquellen geregelten Umwandlung von Geldansprüchen beruhen“.

3.2.
Bedeutung der Neuregelung für die Auslegung der Arbeitgebersphäre

Was bedeutet diese Neuregelung für die Auslegung der AG-Sphäre?
Auch wenn sonst die Voraussetzungen für das Vorliegen einer allgemeinen Kalamität im Detail ungeklärt sind (siehe unter 11.), liegt im speziellen Fall der Corona-Krise unbestrittenermaßen eine allgemeine Kalamität vor.*
Durch die Einfügung der Abs 3 und 4 zu § 1155 sehen mehrere AutorInnen die Ansicht bestätigt, dass bei allgemeinen Kalamitäten kein Entgeltfortzahlungsanspruch gegeben sei.* Nach Meinung dieser AutorInnen lasse die Formulierung des Gesetzgebers, dass Maßnahmen auf Grundlage des COVID-19-Maßnahmengesetzes bloß als Umstände iSd Abs 1 „gelten“, erkennen, dass die Corona-Krise und andere allgemeine Kalamitäten eben kein Fall des § 1155 Abs 1 sind.* Der Gesetzgeber ordne eine gesetzliche Fiktion an.*
Die Neuregelung lässt sich jedoch auch für die gegenteilige Ansicht ins Treffen führen, weil die Regelung die gesetzgeberische Wertung zeigt, dass ein Entgeltfortzahlungsanspruch sozialpolitisch gewünscht ist.*
ME erlauben § 1155 Abs 3 und 4 ABGB keine Rückschlüsse auf die umstrittene Auslegung des § 1155 Abs 1 ABGB. Der Gesetzgeber traf nur eine anlassbezogene und befristete Sonderregelung. Wie auch in den Medien berichtet wurde,* war dem Gesetzgeber die Rechtsunsicherheit in dieser Frage durchaus bewusst, sodass in der Corona-Krise eine rasche Klarstellung erforderlich war. Da der Gesetzgeber den Umfang der AG-Sphäre bewusst nicht generell geregelt hat, kann aus der Sonderregelung die allgemeine Risikozuordnung nicht abgeleitet werden.414

4.
Verhältnis des § 1155 Abs 1 ABGB zum allgemeinen Zivilrecht

Die arbeitsrechtliche Literatur geht davon aus, dass § 1155 Abs 1 ABGB zum Vorteil des AN von der zivilrechtlichen Regel in § 1447 ABGB abweicht, die vorsehe, dass die zufällige Unmöglichkeit der Vertragserfüllung zum Erlöschen des Entgeltanspruchs führe.*
Richtigerweise privilegiert § 1155 ABGB die AN nicht gegenüber den allgemein-zivilrechtlichen Gefahrtragungsregeln. Vielmehr stimmt § 1155 ABGB mit den zivilrechtlichen Gefahrtragungsregeln überein: § 1447 ABGB betrifft nur Fälle, in denen die Unmöglichkeit der Sphäre des Erbringers der Leistung (Schuldner) zuzurechnen ist, und nicht die dem Leistungsempfänger (Gläubiger) zurechenbare Unmöglichkeit. Das ABGB enthält in § 1168 ABGB für Werkverträge eine Parallelbestimmung zu § 1155 ABGB; auch Werkunternehmer behalten den um Vorteile gekürzten Entgeltanspruch, wenn sie das Werk aufgrund von Umständen auf Seiten des Werkbestellers nicht erbringen können. Darüber hinaus sind die §§ 1155, 1168 ABGB im allgemeinen Zivilrecht analog anzuwenden.* Der Gesetzgeber hat wohl deswegen nur in § 1155 und § 1168 die Gefahrtragung des Gläubigers für Umstände auf seiner Seite geregelt, weil bei diesen Vertragstypen – aufgrund der für die Erfüllung notwendigen Mitwirkung des Gläubigers bei der Erfüllung – solche Fälle häufig auftreten.* Bei anderen Verträgen, wie zB Kaufverträgen, erschöpft sich die Mitwirkung des Abnehmers zumeist in der Entgegennahme des Leistungsobjekts. Im allgemeinen Zivilrecht ist geregelt, dass bei Unterbleiben der Annahme des Leistungsobjekts der Gläubiger die Nachteile und Risiken zu tragen hat, die sich aus einer – auch unverschuldeten – verspäteten Annahme ergeben (siehe § 1419 ABGB). Da die Annahme des Kaufgegenstands zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden kann (sofern nicht ein Fixgeschäft gegeben ist), führt der Annahmeverzug beim Kaufvertrag selten zur Unmöglichkeit der Leistungserbringung. Tritt jedoch aufgrund von Umständen auf Seiten des Käufers Unmöglichkeit ein (wie insb durch Annahmeverzug beim Fixgeschäft), so kann der Verkäufer gem §§ 1155, 1168 ABGB analog den Kaufpreis verlangen. § 1447 ABGB ist auch im allgemeinen Zivilrecht nur anwendbar, wenn die Unmöglichkeit der Sphäre des Schuldners zuzurechnen ist.

5.
Vertragliche Aufgabenverteilung und Risikotragung

Die Zuordnung der Risiken zu den Vertragsparteien ist eine Frage des Vertragsinhalts.*

5.1.
Schuldinhalt beim Arbeitsvertrag

Im Rahmen eines Arbeitsvertrags verpflichtet sich der AN (lediglich) dazu, dem AG seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen.* Bietet der AN dem AG die Arbeitsleistung vertragskonform an und ist also arbeitsbereit, so hat er von seiner Seite her alles getan, um den Vertrag zu erfüllen.
Aus diesem Grund wird zuweilen sogar vertreten, dass die Arbeitsbereitschaft alleine bereits die Vertragserfüllung darstellt.* Richtigerweise kommt es jedoch trotz Arbeitsbereitschaft dann nicht zur Erfüllung der Arbeitsleistung, sondern zu deren Unterbleiben, wenn der AG dem AN bekannt gibt, dass er die Arbeitsleistung endgültig nicht in Anspruch nimmt (siehe auch oben 2.1.).*
Eine bestimmte Einsatz- oder Verwendungsmöglichkeit der Arbeitskraft ist nicht Gegenstand der Verpflichtung des AN. Vielmehr ist es der vertragliche Aufgaben- und Risikobereich des AG, den AN zur Arbeit einzusetzen. Dementsprechend zählt zu den typischen Wesensmerkmalen des Arbeitsvertrags zB auch die Bereitstellung der Arbeitsmittel durch den AG* und die Einordnung in einen vom AG geschaffenen betrieblichen Organisationsbereich.*
Nach hM und nach der Rsp besteht im Allgemeinen zwar kein Recht des AN auf tatsächliche Beschäftigung, sodass der AN vom AG nicht verlangen kann, tatsächlich zur Arbeit eingesetzt zu werden.* Fehlt dem AG eine Beschäftigungsmöglichkeit für den AN, so ist dieser Hinderungsgrund aber nicht „neutral“, sondern betrifft den vertraglichen Aufgabenbereich des AG. Die Arbeitsleistung unterbleibt stets aufgrund von Umständen auf Seiten des AG, wenn der AG den AN nicht zur Arbeit einsetzen kann. Zusätzlicher Zurechnungselemente bedarf es nicht. Es reicht, dass die Dienstleistung deshalb nicht zustande kommt, weil der AG die angebotene 415 Arbeitsleistung nicht annimmt oder nicht annehmen kann.
Die Risikoverteilung beim Arbeitsvertrag entspricht dem allgemeinem Zivilrecht. Auch dort gilt, dass der Gläubiger nicht zur Annahme der Leistung verpflichtet ist, aber das Risiko dafür trägt, dass die Leistung infolge des Fehlens der Annahme unmöglich wird. ZB hat auch ein Käufer, der – egal aus welchen Gründen – den Kaufgegenstand zum vereinbarten Zeitpunkt nicht entgegennehmen kann, die Nachteile zu tragen, die sich aus der verspäteten oder fehlenden Annahme des Leistungsgegenstands ergeben (§ 1419 ABGB) und den Kaufpreis zu zahlen.

5.2.
Vergleich mit dem Werkvertrag

Im Werkvertragsrecht wird der Begriff der neutralen Sphäre für Leistungshindernisse verwendet, die außerhalb der Ingerenz der Parteien liegen. Bei solchen Leistungshindernissen steht dem Werkunternehmer kein Entgelt zu.* Im Werkvertragsrecht wird der Entgeltentfall bei Hinderungsgründen aus der neutralen Sphäre einhellig mit der Erfolgsverpflichtung des Werkunternehmers begründet.*
AN sagen – anders als Werkunternehmer – gerade nicht die Herbeiführung eines bestimmten Erfolgs zu, sondern nur sorgfältiges Bemühen.* Wenn nun die Erfolgshaftung der Grund für die Risikotragung des Werkunternehmers ist, so gilt dies – im Umkehrschluss – für AN nicht. Die Rechtslage im Werkvertragsrecht spricht somit gegen eine Risikotragung des AN.
Unterbleibt bei einem Werkvertrag der Erfolg, so ist es dem Werkunternehmer nicht gelungen, jene Leistung zu erbringen, die er versprochen hat und für deren Erbringung ihm das Entgelt zugesagt wurde. Arbeitsbereite AN hingegen sind vollständig dazu in der Lage, das zu leisten, was sie versprochen haben, nämlich dem AG ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen; kann der AG sie nicht zur Arbeit einsetzen, so fällt dies in seine Risikosphäre.

6.
Wortlaut

Die hM legt die Textpassage im Tatbestand des § 1155 Abs 1 ABGB, dass der AN an der Arbeitsleistung „durch Umstände, die auf Seiten des Dienstgebers liegen“, verhindert wurde, so aus, dass arbeitsbereite AN nicht nur durch Umstände, die auf Seiten des AG liegen, an der Arbeitsleistung verhindert werden können, sondern auch durch außerhalb der AG-Sphäre liegende Umstände. Infolgedessen erfasse die in § 1155 Abs 1 ABGB angeordnete Risikotragung des AG nicht alle, sondern nur bestimmte Gründe für das Unterbleiben der Beschäftigung trotz Arbeitsbereitschaft des AN.*

6.1.
Entstehungsgeschichte

§ 1155 Abs 1 ABGB entstammt in der auch heute noch geltenden Fassung der 3. Teilnovelle zum ABGB aus dem Jahr 1916. Die 3. Teilnovelle erweiterte die Risikotragung des AG.
Vor der 3. Teilnovelle gestand § 1155 ABGB dem AN nur dann Ansprüche zu, wenn das Unterbleiben der Dienstleistung vom AG verschuldet war oder auf einem Zufall beruhte, der in der Person des AG eintrat. An die Stelle dieser Voraussetzung trat die hier untersuchte Formulierung „durch Umstände, die auf Seiten des Dienstgebers liegen“.

6.2.
Gesetzesmaterialien

Die Materialien zur 3. Teilnovelle erläutern, dass es zuvor unklar gewesen sei, ob § 1155 nur ieS die Person des AG betreffende Zufälle oder auch „äußere“ Zufälle, wie zB die Betriebseinstellung oder die Zerstörung des Gegenstands der Bearbeitung, erfasse. Die 3. Teilnovelle bringe nun den leitenden Gedanken, dass der AG alle Risiken auf seiner Seite zu tragen hat, vollständig zur Geltung.*
Die Materialien betonen also den umfassenden Charakter der Risikotragung. Als Beispiel für einen Umstand auf Seiten des AG wird die Betriebseinstellung genannt – ohne dies auf bestimmte Einstellungsgründe einzuschränken oder die Erfüllung weiterer Voraussetzungen zu verlangen. Das zeigt mE klar, dass dem AG gem § 1155 Abs 1 ABGB das Risiko für die Beschäftigung arbeitsbereiter AN umfassend zugewiesen wird.
Gegen die These von der neutralen Sphäre spricht auch, dass sich weder im Gesetzestext noch in den Materialien Anhaltspunkte dafür finden lassen, dass oder wie eine Abgrenzung der neutralen Sphäre vorzunehmen sei. Ebenso fehlen in den Gesetzesmaterialien Hinweise auf § 1447 ABGB oder auf Fallvarianten ohne Entgeltfortzahlung. Auch die in der Lehre vertretenen Kriterien der Beherrschbarkeit oder der Allgemeinheit eines Leistungshindernisses werden nirgends auch nur angedeutet. Wenig plausibel ist es, dass § 1155 eine Abgrenzung der AG-Sphäre zur neutralen Sphäre erforderlich mache, aber die Sphärenzuordnung völlig offen lasse. 416
Die Materialien zu § 1155 ABGB beginnen mit dem Satz, dass die vorhergehende Bestimmung § 1154b ABGB die Sphäre des AN betreffe und nun § 1155 Abs 1 ABGB Zufälle in der Sphäre des AG regle. Diese Einleitung spricht dafür, dass der Gesetzgeber eine Zweiteilung der Risikosphären vor Augen hatte.* Vor allem aber ist nicht erkennbar, dass und warum ein Gesetzgeber, der AN aus sozialpolitischen Gründen in § 1154b ABGB sogar von Risiken in ihrem eigenen persönlichen Bereich entlastet, den AN in gewissen Fällen das Risiko der Beschäftigbarkeit aufbürden sollte (siehe dazu auch unten 8.).
Die gesetzliche Formulierung, dass die Arbeitsleistung durch Umstände auf Seiten des AG unterbleibt, wird mE durch die Entstehungsgeschichte verständlich, weil die Risikotragung zuvor auf bestimmte Gründe auf DG-Seite beschränkt war. Sie verdeutlicht nur, dass die Erbringung der Dienstleistung daran gescheitert ist, dass der AG den arbeitsbereiten AN nicht beschäftigt hat, ohne dass dadurch die Risikotragung auf bestimmte Gründe für das Unterbleiben der Beschäftigung eingeschränkt wird.*

7.
Abstrakte Beherrschbarkeit des Risikos

§ 1155 Abs 1 ist unstrittigerweise eine Gefahrtragungsregel. Für den Entgeltfortzahlungsanspruch ist daher nicht Voraussetzung, dass den AG ein Verschulden am Arbeitsausfall trifft oder dass er diesen verhindern hätte können.*
Die Zuordnung des Beschäftigungsrisikos zum AG in § 1155 ABGB steht in Einklang mit dem Zurechnungsprinzip der abstrakten Beherrschbarkeit eines Risikos.* Das Prinzip der abstrakten Beherrschbarkeit bedeutet, dass jene Vertragspartei ein Risiko tragen soll, die dieses – abstrakt – besser beherrschen kann, verlangt jedoch nicht für den konkreten Fall, dass das Hindernis für die Partei kontrollier- oder vorhersehbar war.
In der Regel kann jene Partei, die bei der Vertragserfüllung eine bestimmte Mitwirkungshandlung zu setzen hat, Risiken für Störungen dieser Mitwirkungshandlung besser abwehren oder dafür Vorkehrungen treffen als die andere Vertragspartei. Dies gilt auch für das Risiko des Unterbleibens der Beschäftigung. Der Standort, die Lieferkette, die Produktionstechnik, die Absatzstrategie und die gesamte betriebliche Struktur und Organisation der Arbeitsaufgaben beruhen auf unternehmerischen Entscheidungen, die der AG trifft. Diese betrieblichen Weichenstellungen des AG können das Risiko für Arbeitsausfälle beeinflussen. Da rüber hinaus entscheidet der AG auch, ob und in welchem Umfang Vorsorgemaßnahmen für mögliche Störungen getroffen werden (zB durch Vorratshaltung oder Verfahren und Anlagen zum Schutz und zur Ausfallsicherheit von Notstromaggregaten bis zur Cyber Security). Bei Eintritt einer Störung hängt es vom AG ab, wie schnell und welche Maßnahmen ergriffen werden, um die Funktionsfähigkeit des Betriebs wiederherzustellen. Der AG entscheidet zB auch, ob der Betrieb geschlossen wird oder gegebenenfalls trotz vorübergehender Verluste aufrecht erhalten wird. Dementsprechend sind AG generell eher in der Lage als AN, das Risiko für Arbeitsausfälle zu steuern und abzuwehren.
Auch in Hinblick auf die Corona-Krise wiesen mehrere AutorInnen darauf hin, dass eine Beschäftigung der AN (zB im Homeoffice oder durch Umstellung auf Versandhandel) jedenfalls in vielen Fällen nicht vollkommen ausgeschlossen war, und es die unternehmerische Entscheidung des AG war, ob er die AN beschäftigte.*
Die Notarbeitspflicht erleichtert es dem AG, die AN auch in Ausnahmesituationen tatsächlich zu beschäftigen. Aus der Treuepflicht wird abgeleitet, dass der AG den AN in Notfällen auch zu anderen Tätigkeiten einsetzen kann, als vertraglich vereinbart wurde. In Katastrophenfällen ist sogar der Einsatz zu minderwertigen Tätigkeiten möglich.* Auch in diesem Fall entscheidet freilich nicht der AN, sondern der AG darüber, ob und wie der AN eingesetzt wird.
Darüber hinaus weist das Zurechnungsprinzip der Absorbierbarkeit des Risikos auf den AG. Auch wenn Betriebsunterbrechungsversicherungen die Schäden infolge allgemeiner Kalamitäten nicht immer decken,* so ist doch eine Versicherung des AG für Betriebsausfälle eher denkbar als eine des individuellen AN. Darüber hinaus ist in vielen Fällen eine teilweise Entlastung des AG von dem Beschäftigungsrisiko durch die Vereinbarung von Kurzarbeit möglich.

8.
Arbeitsrechtliche Wertungen

Wie oben gezeigt wurde, fußt die in § 1155 Abs 1 ABGB normierte Gefahrtragungsregel nicht auf arbeitsrechtlichen Schutzgedanken, sondern beruht auf allgemein-zivilrechtlichen Grundsätzen. Eine Einschränkung der in § 1155 Abs 1 ABGB angeordneten umfassenden Gefahrtragung des AG würde aber arbeitsrechtlichen Grundwertungen wider417sprechen.* Die Lehre von der neutralen Sphäre bewirkt, dass die AN – ohne vertragswidrig gehandelt zu haben – von einem Tag auf den anderen ihr Arbeitseinkommen zur Gänze verlieren. Schon allein dies widerspricht arbeitsrechtlichen Wertungen. Überdies wären die AN jedoch weiterhin an den Arbeitsvertrag gebunden und wären – ohne dafür irgendeine Entlohnung zu erhalten – dazu verpflichtet, sich bereit zu halten, um bei Wegfall des Leistungshindernisses den Dienst wieder anzutreten. Sie stünden somit in gewisser Hinsicht schlechter als bei einer Entlassung.
Vor einem unverschuldeten Entgeltentfall werden AN ua dadurch geschützt, dass AN aus sozialpolitischen Gründen zeitlich befristet sogar von der Risikotragung für Umstände in ihrer eigenen Sphäre gem § 1154b Abs 5 ABGB und § 8 Abs 3 AngG befreit werden. § 1154b Abs 5 ABGB und § 8 Abs 3 AngG kommen zB dann zur Anwendung, wenn der AN aufgrund von Hochwasser oder starken Schneefällen den Betrieb unverschuldet erst verspätet erreicht, obwohl der AN in diesem Fall die eigene Verpflichtung zum pünktlichen Erscheinen am Arbeitsort nicht einhalten konnte und dieses Risiko auch von Faktoren auf Seiten des AN, wie dessen Wohnort, abhängen kann. Auch andere Bestimmungen schützen AN davor, dass das Entgelt ohne ihr Verschulden entfällt. Die Verpflichtung zur Festsetzung von Ausmaß und Lage der Arbeitszeit in § 19d Abs 2 AZG, die Arbeit auf Abruf verhindert,* zeigt die arbeitsrechtliche Wertung, dass die zu entlohnende Arbeitszeit im Vorhinein feststehen muss. Schließlich können AG den Arbeitsvertrag nur bei Vorliegen eines Entlassungsgrundes mit sofortiger Wirkung beenden. Das Fehlen einer Beschäftigungsmöglichkeit ist kein Entlassungsgrund.
Die Bezeichnung der Sphäre als „neutral“ verdeckt, dass in diesem Fall das Risiko nicht etwa auf beide Parteien verteilt wird, sondern der arbeitsbereite AN das Risiko in vollem Umfang und zeitlich unbefristet tragen soll. Die arbeitsbereiten AN hätten – trotz aufrechten Arbeitsvertrags – keinen Entgeltanspruch. Überdies könnten sie – aufgrund des aufrechten Arbeitsvertrags – auch kein Arbeitslosengeld beanspruchen, weil Voraussetzung für das Vorliegen von Arbeitslosigkeit gem § 12 AlVG die Auflösung oder Unterbrechung des Vertrags ist.*

9.
Wegfall der Geschäftsgrundlage?

Zur Begründung der Ausnahme der allgemeinen Kalamitäten von der AG-Sphäre wird in der Lehre auch auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage verwiesen.* Dieses Rechtsinstitut kommt als „letztes Mittel“* nur dann zur Anwendung, wenn die Parteien mit wesentlich veränderten und unvorhersehbaren Umständen konfrontiert sind, für die sie im Rahmen ihrer Vereinbarung keine Vorsorge getroffen haben.*
Der Wegfall der Geschäftsgrundlage vermag mE den Entgeltentfall bei allgemeinen Kalamitäten aus mehreren Gründen nicht zu rechtfertigen:
Zunächst ist zu beachten, dass dieses Rechtsinstitut nur subsidiär anwendbar ist, wenn keine vertragliche oder gesetzliche Regelung besteht.* Auch zum Werkvertragsrecht wurde daher im Zusammenhang mit der Corona-Krise darauf hingewiesen, dass das Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage nur bei Fehlen sowohl vertraglicher als auch gesetzlicher Regelungen zur Anwendung kommt.* Das Risiko des zufälligen Fehlens der Beschäftigungsmöglichkeit ist jedoch in § 1155 Abs 1 ABGB ausdrücklich iS einer Risikotragung des AG geregelt.* Die für die Anwendung der Geschäftsgrundlagenlehre erforderliche vertragliche Lücke liegt daher nicht vor.
Eine weitere Voraussetzung für den Wegfall der Geschäftsgrundlage ist es, dass das Festhalten am unveränderten Vertrag unzumutbar ist. Im Arbeitsrecht regelt das Entlassungsrecht, unter welchen Umständen dem AG die Zahlung des Arbeitsentgelts bis zum nächsten Kündigungstermin nicht zumutbar ist, und erlaubt dem AG bei Betriebsstilllegungen nicht die sofortige Vertragsbeendigung.* Das Instrument der außerordentlichen Kündigung bei Dauerschuldverhältnissen beruht auf denselben Erwägungen, die für den Wegfall der Geschäftsgrundlage maßgeblich sind,* sodass die fehlende Unzumutbarkeit auch einen Wegfall der Geschäftsgrundlage ausschließt.
Selbst wenn ein Wegfall der Geschäftsgrundlage vorläge, so würde sich daraus nicht automatisch das von den Vertretern der neutralen Sphäre befürwortete Ergebnis ableiten lassen. In Geschäftsgrundlagenfällen ist die vertragliche Lücke durch ergänzende Vertragsauslegung zu füllen. Die ergänzende Vertragsauslegung kann zur Vertragsanpassung oder Vertragsauflösung führen. Die von den Vertretern der neutralen Sphäre befürwortete Rechtsfolge ist nicht die Vertragsauflösung, 418 sondern der Verlust des Entgeltanspruchs für die Dauer des Arbeitsausfalls unter Aufrechterhaltung des Arbeitsvertrags; der AN müsste sich also zur jederzeitigen Wiederaufnahme des Dienstes bereithalten, ohne ein Entgelt zu erhalten. Eine derartige Vertragsanpassung trägt einseitig den Interessen des AG Rechnung und widerspricht arbeitsrechtlichen Wertungen (siehe oben 8.)

10.
Fehlende Arbeitsbereitschaft

§ 1155 Abs 1 ABGB setzt voraus, dass der AN seine Leistung vertragskonform anbietet. Aus sozialpolitischen Gründen bestehen im Arbeitsrecht aber auch für Fälle, in denen AN ihre Leistung nicht anbieten können, Entgeltfortzahlungsansprüche. Trotz fehlender Arbeitsbereitschaft besteht insb im Fall einer Erkrankung ein Entgeltfortzahlungsanspruch. Auch bei wichtigen persönlichen Verhinderungsgründen räumt das Gesetz dem AN für einen gewissen Zeitraum Entgeltfortzahlungsansprüche ein (§ 1154b Abs 5 ABGB; § 8 Abs 3 AngG). Ist ein solcher Entgeltfortzahlungstatbestand erfüllt und besteht gleichzeitig auf AG-Seite ein Dienstverhinderungsgrund, so treffen zwei Entgeltfortzahlungstatbestände aufeinander und der AN behält seinen Entgeltanspruch. Die mangelnde Arbeitsbereitschaft hindert in solchen Fällen den Entgeltanspruch nicht, wenn der Gesetzgeber für diesen Fall (zB Krankheit) das Entgelt trotz Arbeitsbereitschaft zugesteht.*

11.
Abgrenzungsprobleme der neutralen Sphäre

Da eine Rechtfertigung dafür fehlt, dass die Allgemeinheit einer Störungsursache den AG entlasten soll, erstaunt es mE nicht, dass unklar bleibt, welches Ausmaß eine Störung erreichen muss, um eine allgemeine Kalamität zu sein.* Umstritten ist zB, ob und ab welcher räumlichen Ausbreitung Hochwasser, das ja nur niedriger liegende Betriebe treffen kann, eine allgemeine Kalamität darstellt.* Nicht geklärt ist auch, ob die Ansicht zutrifft, dass nur länger dauernde Störungen allgemeine Kalamitäten sein können, weil der AG mit kurzen Störungen rechnen müsse.* Vor allem aber bleibt unklar, in welcher Weise der AG von der allgemeinen Kalamität betroffen sein müsste, um von der Verpflichtung zur Zahlung des Arbeitsentgelts befreit zu sein. Auch bei den Paradebeispielen für allgemeine Kalamitäten, nämlich Krieg, Terror und Seuche, ist die Erbringung der Arbeitsleistung ja in den meisten Fällen keineswegs faktisch vollkommen ausgeschlossen. Vielmehr führt die allgemeine Kalamität zumeist (bloß) zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten, zB weil der Absatz der Produkte erheblich erschwert ist. Nach der hier vertretenen Ansicht erübrigen sich diese Abgrenzungsprobleme, weil stets ein Entgeltfortzahlungsanspruch besteht.
Wie schwierig eine Differenzierung ist, zeigt auch die Diskussion, die in Bezug auf die im neuen, anlassbezogenen § 1155 Abs 3 ABGB angeordnete Verpflichtung zum Verbrauch von Urlaubs- und Zeitguthaben sofort aufgeflammt ist: Es stellt sich die Frage, „wie unmöglich“ die Verrichtung von Arbeiten sein muss und ob die Regelung sich auch auf Betriebe, die von den Betretungsverboten nur mittelbar betroffen sind (zB Zulieferer), bezieht.*

12.
Zusammenfassung

Die Untersuchung gelangt zu dem Ergebnis, dass der AG zur Entgeltfortzahlung gem § 1155 Abs 1 ABGB stets und auch bei allgemeinen Kalamitäten verpflichtet ist, wenn er arbeitsbereite AN bei aufrechtem Vertrag nicht zur Arbeit einsetzen kann. Da AN sich in Arbeitsverträgen lediglich dazu verpflichten, dem AG ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, ist es das Risiko des AG, ob er über Einsatzmöglichkeiten für die AN verfügt. Diese weite Risikotragung des AG entspricht nicht nur der vertraglichen Aufgabenverteilung zwischen den Parteien, sondern auch dem Willen des historischen Gesetzgebers und allgemein-zivilrechtlichen Risikotragungsgrundsätzen. Überdies würde der sofortige und unbefristete Entgeltentfall arbeitsrechtlichen Wertungen diametral widersprechen. 419