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Keine Anwendbarkeit der Entsende-RL auf ungarische Arbeitskräfte in österreichischen Speisewägen

MICHAELAWINDISCH-GRAETZ (WIEN)
Entsende-RL 96/71/EG; Art 56, 58, 90 AUEV; § 7b AVRAG
  1. Die Dienstleistungen auf dem Gebiet des Verkehrs umfassen nicht nur jede körperliche Handlung der Beförderung von Personen oder Waren von einem Ort zum anderen mit Hilfe eines Transportmittels, sondern auch jede Dienstleistung, die naturgemäß mit einer solchen Handlung verbunden ist.

  2. In Zügen erbrachte Dienstleistungen wie Bordservice, Reinigung oder Verpflegung stellen sich zwar als Ergänzung der Beförderungsleistung von Fahrgästen in Zügen dar, jedoch sind sie mit dieser nicht naturgemäß verbunden.

  3. Auf solche Dienstleistungen, die nicht unter die Bestimmungen des Titels des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) über den Verkehr fallen, sind die Regelungen über die Dienstleistungsfreiheit gem Art 56 bis 62 AEUV anwendbar, so dass sie auch der Entsende-RL 96/71 unterliegen können.

  4. Ein AN kann nicht als in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsandt angesehen werden, wenn seine Arbeitsleistung keine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

[...]

9 Die Österreichischen Bundesbahnen (im Folgenden: ÖBB) vergaben für den Zeitraum 2012 bis 2016 einen Dienstleistungsauftrag für die Bewirtschaftung der Zugrestaurants bzw des Bordservice in bestimmten von ihr betriebenen Zügen an die D GmbH mit Sitz in Österreich. Die Erfüllung dieses Auftrags wurde allerdings im Wege einer Reihe von Subaufträgen über die ebenfalls in Österreich ansässige H GmbH an die Henry am Zug Hungary Kft. (im Folgenden: H. Kft.), eine Gesellschaft ungarischen Rechts mit Sitz in Ungarn, weitergegeben.

10 H. Kft. führte die Dienstleistungen in bestimmten Zügen der ÖBB, die Salzburg (Österreich) bzw München (Deutschland) mit Budapest (Ungarn) als Ausgangs- oder Endbahnhof verbanden, mittels in Ungarn wohnhafter Arbeitskräfte durch, von denen der Großteil der H. Kft. von einem anderen ungarischen Unternehmen überlassen wurde und die Übrigen unmittelbar bei H. Kft. beschäftigt waren.

11 Sämtliche zur Erbringung dieser Dienstleistungen herangezogenen Arbeitskräfte waren in Ungarn wohnhaft und sozialversichert und hatten dort ihren Lebensmittelpunkt, außerdem hatten sie auch ihren Dienst in Ungarn anzutreten und dort zu beenden. In Budapest mussten sie die dort gelagerten Waren, nämlich Speisen und Getränke, ausfassen und in die Züge bringen. Ebenfalls in Budapest hatten sie die Kontrollen des Warenstands und die Abrechnungen der Umsätze durchzuführen. Somit wurden alle im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitsleistungen mit Ausnahme jener, die in den Zügen durchzuführen waren, in Ungarn erbracht.

12 In Folge einer in Österreich auf dem Wiener Hauptbahnhof am 28.1.2016 durchgeführten Kontrolle wurde der Geschäftsführer der H. Kft., Michael Dobersberger, für schuldig erkannt, dass diese in ihrer Eigenschaft als AG von AN mit ungarischer Staatsangehörigkeit, die von dieser Gesellschaft nach Österreich zur Arbeitsleistung des Bordservice in Zügen der ÖBB entsandt worden seien,

  1. entgegen § 7b Abs 3 AVRAG bis eine Woche vor der Arbeitsaufnahme in Österreich keine Meldung an die zuständige österreichische Behörde betreffend die genannte Beschäftigung der entsendeten Arbeitnehmer erstattet habe,

  2. entgegen § 7b Abs 5 AVRAG am inländischen Einsatzort ... Unterlagen über die Anmeldung der Arbeitnehmer zur Sozialversicherung ... nicht bereitgehalten habe und

  3. entgegen § 7d Abs 1 AVRAG am genannten Einsatzort den Arbeitsvertrag, Lohnzahlungsnachweise und Unterlagen über die Lohneinstufung in deutscher Sprache nicht bereitgehalten habe.“

13 Infolgedessen wurden gegen Herrn Dobersberger Verwaltungsstrafen wegen Verstößen gegen verwaltungsrechtliche Verpflichtungen verhängt.

14 Dieser focht die Straferkenntnisse vor dem Verwaltungsgericht Wien (Österreich) an, das die Beschwerden abwies. Gegen das Erk des Verwaltungsgerichts Wien legte Herr Dobersberger Revision beim vorlegenden Gericht, dem österreichischen VwGH, ein.

15 Dieser ist der Auffassung, dass die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits Fragen nach der Auslegung der RL 96/71, konkret ihres Art 1 Abs 3 Buchst a, sowie der Art 56 und 57 AEUV aufwerfe.

16 Unter diesen Umständen hat der VwGH beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  • Erfasst der Anwendungsbereich der RL 96/71, insb deren Art 1 Abs 3 Buchst a, auch die Erbringung von Dienstleistungen, wie die Verpflegung der Fahrgäste mit Speisen und Getränken, den Bordservice oder Reinigungsleistungen durch die AN eines Dienstleistungsunternehmens mit Sitz im Entsendemitgliedstaat (Ungarn) zur Erfüllung eines Vertrages mit einem Schienenverkehrsunternehmen mit Sitz im Aufnahmemitgliedstaat (Österreich), 432 wenn diese Dienstleistungen in internationalen Zügen, die auch durch den Aufnahmemitgliedstaat fahren, erbracht werden?

  • Erfasst Art 1 Abs 3 Buchst a der RL 96/71 auch den Fall, dass das Dienstleistungsunternehmen mit Sitz im Entsendemitgliedstaat die in der ersten Frage genannten Dienstleistungen nicht in Erfüllung eines Vertrages mit dem im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Schienenverkehrsunternehmen, dem die Dienstleistungen letztlich zugutekommen (Dienstleistungsempfänger), erbringt, sondern in Erfüllung eines Vertrages mit einem weiteren im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Unternehmen, das seinerseits in einem Vertragsverhältnis (Subauftragskette) mit dem Schienenverkehrsunternehmen steht?

  • Erfasst Art 1 Abs 3 Buchst a der RL 96/71 auch den Fall, dass das Dienstleistungsunternehmen mit Sitz im Entsendemitgliedstaat zur Erbringung der in der ersten Frage genannten Dienstleistungen nicht eigene AN einsetzt, sondern Arbeitskräfte eines anderen Unternehmens, die ihm noch im Entsendemitgliedstaat überlassen wurden?

[...]

Zur Beantwortung der Fragen

23 Mit seinen ersten drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 1 Abs 3 Buchst a der RL 96/71 dahin auszulegen ist, dass er die Erbringung von Dienstleistungen wie den Bordservice, Reinigungsleistungen oder die Verpflegung der Fahrgäste im Rahmen eines Vertrags zwischen einem Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat [HUN] und einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat [AUT], das vertraglich an ein Schienenverkehrsunternehmen mit Sitz in demselben Mitgliedstaat [AUT: ÖBB] gebunden ist, durch AN des erstgenannten Unternehmens oder durch diesen von einem ebenfalls im erstgenannten Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen überlassene AN in internationalen Zügen, die durch den zweitgenannten Mitgliedstaat fahren, erfasst, wenn diese AN einen wesentlichen Teil der mit den betreffenden Dienstleistungen verbundenen Arbeit im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats leisten und ihren Dienst dort antreten bzw beenden.

24 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der freie Dienstleistungsverkehr im Verkehrsbereich nicht durch Art 56 AEUV geregelt wird, der den freien Dienstleistungsverkehr im Allgemeinen betrifft, sondern durch die Sondervorschrift des Art 58 Abs 1 AEUV, wonach „[f]ür den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs ... die Bestimmungen des Titels über den Verkehr [gelten]“ (Urteil vom 22.12.2010, Yellow Cab Verkehrsbetrieb, C-338/09, EU:C:2010:814, Rn 29 und die dort angeführte Rsp), dh die Art 90 bis 100 AEUV.

25 Die Dienstleistungen auf dem Gebiet des Verkehrs umfassen nicht nur jede körperliche Handlung der Beförderung von Personen oder Waren von einem Ort zum anderen mit Hilfe eines Transportmittels, sondern auch jede Dienstleistung, die naturgemäß mit einer solchen Handlung verbunden ist, auch wenn sie diese nur ergänzt (vgl in diesem Sinne Urteil vom 15.10.2015, Grupo Itevelesa ua, C-168/14, EU:C:2015:685, Rn 46 und 47, sowie Gutachten 2/15 [Freihandelsabkommen mit Singapur] vom 16.5.2017, EU:C:2017:376, Rn 61).

26 Nun stellen sich in Zügen erbrachte Dienstleistungen wie Bordservice, Reinigung oder Verpflegung zwar als Ergänzung der Beförderungsleistung von Fahrgästen in Zügen dar, jedoch sind sie mit dieser nicht naturgemäß verbunden. Eine solche Beförderungsleistung kann nämlich unabhängig von diesen ergänzenden Dienstleistungen durchgeführt werden.

27 Folglich sind auf solche Dienstleistungen, die nicht unter die Bestimmungen des Titels des AEUVertrags über den Verkehr fallen, die Art 56 bis 62 AEUV über die Dienstleistungen mit Ausnahme von Art 58 Abs 1 AEUV anwendbar, so dass sie als Dienstleistungen auch der RL 96/71 unterliegen können, die auf der Grundlage der Art 57 Abs 2 und Art 66 EG über die Dienstleistungen erlassen wurde.

28 Allerdings ist zu prüfen, ob solche Dienstleistungen gem Art 1 dieser Richtlinie in ihren Anwendungsbereich fallen, wenn sie unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erbracht werden.

29 In dieser Hinsicht ist die RL 96/71, wie sich aus ihrem Art 1 Abs 3 Buchst a, auf den sich das vorlegende Gericht in seinen ersten drei Fragen speziell bezieht, insb auf eine Situation anwendbar, in der ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen für eine staatenübergreifende Erbringung von Dienstleistungen AN in seinem Namen und unter seiner Leitung in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats im Rahmen eines Vertrags entsendet, der zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem in diesem Mitgliedstaat tätigen Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem AN besteht (Urteil vom 3.4.2008, Rüffert, C-346/06, EU:C:2008:189, Rn 19).

30 Gem Art 2 Abs 1 dieser Richtlinie „gilt als entsandter Arbeitnehmer jeder Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet“.

31 In diesem Sinne kann im Hinblick auf die RL 96/71 ein AN nicht als in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsandt angesehen werden, wenn seine Arbeitsleistung keine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist. Diese Auslegung folgt aus der Systematik der RL 96/71, insb ihres Art 3 Abs 2, iVm ihrem 15. Erwägungsgrund, der bei Leistungen von sehr beschränktem Umfang in dem Hoheitsgebiet, in das die betreffenden AN entsandt werden, vorsieht, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Mindestlohnsätze und den bezahlten Mindestjahresurlaub nicht anzuwenden sind.

32 Derselbe Gedanke liegt im Übrigen den fakultativen Ausnahmebestimmungen nach Art 3 Abs 3 und 4 der RL 96/71 zugrunde. 433

33 Nun unterhalten AN wie jene im Ausgangsverfahren, die einen wesentlichen Teil ihrer Arbeitsleistung, nämlich sämtliche Tätigkeiten im Rahmen dieser Arbeit mit Ausnahme des Bordservice während den Zugfahrten, im Sitzmitgliedstaat des Unternehmens erbringen, das sie für die Leistung von Diensten in internationalen Zügen einsetzt, und die ihren Dienst in diesem Mitgliedstaat antreten bzw beenden, keine hinreichende Verbindung zu dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats bzw der Mitgliedstaaten, das diese Züge durchqueren, um als dorthin „entsandt“ iSd RL 96/71 gelten zu können.

34 In diesem Zusammenhang ist es nicht von Bedeutung, dass die in Rede stehenden Dienstleistungen im Rahmen eines Vertrags erbracht werden, der zwischen diesem Unternehmen und einem Unternehmen mit Sitz in demselben Mitgliedstaat wie dem des Schienenverkehrsunternehmens, das wiederum mit diesem in vertraglicher Verbindung steht, abgeschlossen wurde, und dass das Dienstleistungsunternehmen diese Leistungen nicht durch seine eigenen AN, sondern durch ihm von einem in seinem eigenen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen überlassene Arbeitskräfte erbringen lässt.

35 Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen ist auf die ersten drei Vorlagefragen zu antworten, dass Art 1 Abs 3 Buchst a der RL 96/71 dahin auszulegen ist, dass er die Erbringung von Dienstleistungen wie Bordservice, Reinigungsleistungen oder die Verpflegung der Fahrgäste im Rahmen eines Vertrags zwischen einem Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, das vertraglich an ein Schienenverkehrsunternehmen mit Sitz in demselben Mitgliedstaat gebunden ist, durch AN des erstgenannten Unternehmens oder durch diesem von einem ebenfalls im erstgenannten Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen überlassene AN in internationalen Zügen, die durch den zweitgenannten Mitgliedstaat fahren, nicht erfasst, wenn diese AN einen wesentlichen Teil der mit den betreffenden Dienstleistungen verbundenen Arbeit im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats leisten und ihren Dienst dort antreten bzw beenden.

ANMERKUNG

Dem EuGH wird regelmäßig vorgeworfen, dass seine Entscheidungen zu knapp und wenig begründet seien, doch das Urteil in der Rs Dobersberger schlägt dem Fass den Boden aus. Man kann nur festhalten, dass es der Großen Kammer eines EuGH schlicht unwürdig ist. Dass sich der EuGH häufig nicht mit einschlägiger rechtswissenschaftlicher Literatur auseinandersetzt, mag dem Umstand geschuldet sein, dass es schwierig ist, diese über 27 Mitgliedstaaten hinweg zu erfassen. Dass er sich aber gegen jede unionsrechtliche Methodik nicht einmal mit seiner eigenen Vorjudikatur befasst – dabei gäbe es zum Entsenderecht nicht wenige Urteile –, macht einen schlichtweg fassungslos.

1.
Ausgangssachverhalt

Dabei wäre es die Rs Dobersberger wert gewesen, sie gründlich dogmatisch aufzuarbeiten. Hat sich ein Großteil der bisher ergangenen Urteile des EuGH zum Entsenderecht auf die Bauwirtschaft bezogen, liegt hier das erste Urteil zu Entsendefragen in der Transportwirtschaft vor. Das Tochterunternehmen des österreichischen Unternehmens Henry am Zug hat die Bewirtschaftung der Speisewägen auf Zügen der ÖBB von Budapest bis Salzburg bzw München übernommen; mit ungarischen MitarbeiterInnen zu ungarischen Löhnen. Die Sachverhaltskonstellationen und Rechtsfragen zur grenzüberschreitenden Transportwirtschaft sind komplex (vgl etwa Kozak, Trotz regelmäßigen Arbeitseinsatzes in Deutschland – keine Anwendung des Mindestlohngesetzes, DRdA 2017, 381; Niksova, Das deutsche Mindestlohngesetz in grenzüberschreitenden Sachverhalten, ZAS 2016, 165; Windisch-Graetz, Grenzüberschreitende Beschäftigung im Transportgewerbe, DRdA 2013, 13) und werden in nächster Zeit den EuGH mehrfach beschäftigen (vgl die Schlussanträge vom 30.4.2020 zu C-815/18, Van den Bosch Transporten). Der EuGH hätte die Rs Dobersberger dazu nutzen können, eine solide Ausgangsbasis für seine zukünftige Judikatur zu schaffen.

2.
Keine Anwendbarkeit der Entsende-RL auf Verkehrsdienstleistungen?

Zunächst befasst sich der EuGH mit der grundlegenden Frage, ob die Entsende-RL 96/71/EG, die auf die Kompetenzgrundlagen von Dienstleistungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit gestützt wurde, überhaupt auf Verkehrsdienstleistungen anwendbar ist. Gem Art 58 Abs 1 AEUV gelten für den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiete des Verkehrs die Bestimmungen des Titels über den Verkehr (Art 90 ff AEUV), womit ausdrücklich eine Bereichsausnahme für Verkehrsdienstleistungen aus dem Anwendungsbereich des Kapitels über den freien Dienstleistungsverkehr normiert wird. Der EuGH stellt zum vorliegenden Sachverhalt fest, dass das Bordservice, Reinigungsdienste und Verpflegung in Zügen keine „Dienstleistungen auf dem Gebiete des Verkehrs“ seien. Diese Tätigkeiten stellten zwar Ergänzungen der Beförderungsleistung von Fahrgästen in Zügen dar, seien jedoch mit dieser nicht naturgemäß verbunden (anders wäre es zB bei technischen Überprüfungen von Fahrzeugen: vgl EuGH 15.10.2015, Grupo Itevelesa ua, C-168/14). Da das Bordservice von Henry am Zug somit nicht als Verkehrsdienstleistung zu qualifizieren ist, kommt nach Ansicht des EuGH die Entsende-RL grundsätzlich zur Anwendung.

Im Umkehrschluss muss man dem Urteil Dobersberger (Rn 27) allerdings entnehmen, dass die Entsende-RL 96/71 auf Verkehrsdienstleistungen, die in den Geltungsbereich der Art 90 ff AEUV fallen, nicht anwendbar sein soll. Dies würde sämtliche grenzüberschreitende Personen- und Warenbeförderungen mit Kraftwagen (PKW, LKW, Bussen), Eisenbahnen, Schiffen und Flugzeugen betreffen. 434 Die Entsende-RL selbst nimmt jedoch in Art 1 Abs 2 lediglich Schiffsbesatzungen von Unternehmen der Handelsmarine aus ihrem Geltungsbereich aus. Eine systematische Auslegung der Entsende-RL deutet somit klar auf den Willen des europäischen Gesetzgebers hin, auch die Transportwirtschaft in den Anwendungsbereich der Entsende-RL einzubeziehen (ausführlich Windisch-Graetz, DRdA 2013, 15 ff). Auch die neue Entsende-RL (EU) 2018/957 geht von der bisherigen Anwendbarkeit des Entsenderechts auf den Transportsektor aus (vgl Windisch-Graetz/Studer, Änderungen der Entsenderichtlinie 2018, ZAS 2019, 147): Gem Art 3 Abs 3 Entsende-RL (EU) 2018/957 soll das neue Entsenderecht für den Straßenverkehrssektor erst mit Inkrafttreten einer Änderung der RL 2006/22/EG (Mobilitätspaket) gelten, da die Branche von hoher Mobilität gekennzeichnet ist, die komplexe Rechtsfragen aufwirft und daher gesonderter Regelung bedarf (ErwGr 15 RL 2018/957). Für das Entsenderecht im Straßenverkehr gelten bis dahin nach wie vor die Regelungen der Entsende-RL 96/71/EG (vgl auch Gagawczuk, Die Änderung der Entsenderichtlinie, DRdA-infas 2018, 330), wobei zu berücksichtigen ist, dass es im Transportsektor vielfach Konstellationen gibt, in denen kein Entsendetatbestand der Entsende-RL erfüllt ist (zB Transit). Für den Zug- und Flugverkehr ist die neue Entsende-RL dagegen von den Mitgliedstaaten bis zum 30.7.2020 umzusetzen, sofern bestimmte Transportvorgänge mangels Dienstleistungserbringung nicht ohnehin vom Geltungsbereich der Entsende-RL ausgenommen sind (Kellerbauer, Zur Reform der EU-Entsende-RL: AN-Schutz durch gleichen Lohn für gleiche Arbeit? EuZW 2018, 849).

3.
Unzulässige Einschränkung des Entsendetatbestands

Anschließend setzt sich der EuGH mit der Frage auseinander, ob die Erbringung von Dienstleistungen wie im vorliegenden Sachverhalt eine Dienstleistungsentsendung iSd Art 1 Abs 3 lit a Entsende-RL darstellt. Die Frage stellt sich dem EuGH insb in Anbetracht der Umstände der Leistungserbringung, wonach die AN einen wesentlichen Teil der mit den betreffenden Dienstleistungen verbundenen Arbeit (Ausfassen der Waren, Kontrollen des Warenstandes und Abrechnung des Umsatzes in Budapest) im Hoheitsgebiet des Entsendestaats leisten und ihren Dienst dort antreten bzw beenden. Im Ergebnis verneint der EuGH das Vorliegen einer Dienstleistungsentsendung, weil seiner Ansicht nach die Tätigkeit der AN in den Speisewägen auf österreichischem Territorium, dh die Tätigkeit des Verkaufens und Servierens von Speisen und Getränken, keine hinreichende Verbindung dieser Arbeitskräfte zu Österreich aufweise.

Der EuGH kommt zu diesem Ergebnis aufgrund einer – zweifelhaften – systematischen Auslegung der Entsende-RL. Zentrales Argument ist Art 3 Abs 2 Entsende-RL, iVm dem 15. ErwGr, der bei Leistungen von sehr beschränktem Umfang in dem Hoheitsgebiet, in das die betreffenden AN entsandt werden, vorsieht, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Mindestlohnsätze und den bezahlten Mindestjahresurlaub nicht anzuwenden sind. Der EuGH baut seine Argumentation demnach auf dem sogenannten Montageprivileg auf, das eine Ausnahme zur grundsätzlichen Regel der Anwendbarkeit der Mindestlohn- und Urlaubsregelungen des Empfangsstaats bei Entsendungen darstellt.

Die Frage der Ausnahme kurzer Entsendungen aus dem Anwendungsbereich der Entsende-RL war bereits zur Zeit der Entstehung der Richtlinie heiß diskutiert. Während typische Entsendestaaten wie Irland, Portugal oder Italien aus wirtschaftlichen Gründen gegen eine obligatorisch wirkende Erstreckung der Mindestlöhne opponierten und für eine Ausschlussfrist für kürzere Entsendungen von drei oder vier Monaten votierten, lehnten typische Empfangsstaaten wie Deutschland, Frankreich oder Belgien anwendungsfreie Zeiträume ab. Der 1. Richtlinienentwurf der Kommission nahm Entsendungen von weniger als drei Monaten Dauer aus dem Anwendungsbereich der Entsende-RL aus. Die Kommission ging davon aus, dass Entsendungen unter drei Monaten marginal seien, nur in geringer Anzahl vorkämen und bloß unwesentliche Bedeutung im Zusammenhang mit Praktiken hätten, die zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnten (ausführlich Rebhahn/Windisch-Graetz in Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum Europäischen Arbeitsrecht2, Art 3 RL 96/71/EG, Rn 34). Die typischen Empfangsstaaten vertraten demgegenüber die sogenannte Null-Option, die keine zeitlichen Ausnahmen von der Entsende-RL vorsah, und haben sich auch weitgehend durchgesetzt. Nur punktuell lässt die Entsende-RL Ausnahmen von ihrer sofortigen Anwendbarkeit auch bei kurzfristigen Entsendungen zu.

Dazu gehört das Montageprivileg für Entsendungen von maximal acht Tagen, das im Zusammenhang mit der Erstmontage und Inbetriebnahme von gelieferten Gütern geregelt ist. Der Ausnahmecharakter des Montageprivilegs wird dadurch betont, dass er nicht für die Bauwirtschaft gilt und damit ein großer Wirtschaftssektor, auf dem entsandte AN tätig sind, ausgenommen wird. Außerdem ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die Lieferleistungen von Waren als Begleitleistungen unter die Warenverkehrsfreiheit und nicht unter die Dienstleistungsfreiheit fallen könnten. Insofern vermeidet das Montageprivileg kompetenzrechtliche Streitfragen. Darüber hinaus ermächtigen Art 3 Abs 3 und Abs 5 Entsende-RL die Mitgliedstaaten, Ausnahmen von der Erstreckung der Mindestlöhne und der Höchstarbeitszeiten bzw des Urlaubs vorzusehen, wenn die Dauer der Entsendung einen Monat nicht übersteigt bzw wenn der Umfang der zu entrichtenden Arbeiten gering ist. Hier sind es daher die Empfangsstaaten, die darüber entscheiden, ob marginale Entsendungen vom Geltungsbereich der Entsende-RL ausgenommen sein sollen.

Entstehungsgeschichte und Systematik der Entsende- RL zeigen somit, dass grundsätzlich auch kurzfristige Entsendungen in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, und lediglich im Ausnahmefall – der nach der Rsp des EuGH grundsätzlich eng 435 auszulegen ist – marginale Entsendungen aus dem Geltungsbereich fallen (können). Die Ansicht des EuGH, dass Entsendungen, die keine hinreichende Verbindung zum Empfangsstaat haben, nach einem systematischen Verständnis der Entsende-RL grundsätzlich aus deren Anwendungsbereich fallen, ist damit grundlegend falsch. Aber selbst wenn das richtig wäre, wäre die Frage zu stellen, wieso der EuGH die Tätigkeiten des Zubereitens, Verkaufens und Servierens der Speisen und Getränke während eines Großteils der Arbeitszeit in den Zügen auf österreichischem Territorium als unwesentlich bezeichnet. In jedem sonstigen Gastbetrieb würde man diese Tätigkeiten als die zentralen erachten und demgegenüber das Ausfassen der Waren, die Kontrolle des Warenstandes und die Abrechnung als untergeordnet qualifizieren. Betrachtet man die Gesamtdauer der Arbeitsverhältnisse der entsandten AN, verbringen diese regelmäßig einen großen Teil ihrer Gesamtarbeitszeit im Empfangsstaat Österreich.

Die Kriterien, die der EuGH in Rn 33 heranzieht, um die mangelnde hinreichende Verbindung der ungarischen Arbeitskräfte mit dem Empfangsstaat Österreich zu begründen, sind jene Kriterien, mit denen der EuGH üblicherweise den gewöhnlichen Arbeitsort iSv Art 8 Abs 2 Rom I-VO 593/2008/EG zur Festlegung des Vertragsstatuts definiert (vgl insb EuGH 15.3.2011, C-29/10, Koelzsch; vgl dazu etwa Krebber in Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum Europäischen Arbeitsrecht2, Art 8 VO 593/2008/EG, Rn 37). Anhand dieser Kriterien kommt man auch im Fall Dobersberger richtigerweise zum Ergebnis, dass der gewöhnliche Arbeitsort der ungarischen Arbeitskräfte in Ungarn liegt. Grundsätzlich kommt daher auf deren Arbeitsverträge ungarisches Recht zur Anwendung. Damit ist der Fall aber nicht gelöst. Anschließend wäre anhand des Sonderkollisionsrechts der Entsende-RL zu entscheiden, ob nicht punktuell die in Art 3 Entsende-RL kodifizierten Eingriffsnormen wie insb die Mindestlöhne des Empfangsstaats zur Anwendung kommen. ME hat der EuGH neben der Systematik der Entsende-RL auch die Grundsätze des Zusammenspiels von Rom I-VO und Entsende-RL verkannt.

4.
Künftige Gestaltungen

Die Idee der Maßgeblichkeit einer „ausreichenden Verbindung“ grenzüberschreitend tätiger AN findet sich im Vorschlag der Europäischen Kommission vom 8.3.2016 COM(2016) 128, ErwGr 10, zur Änderung der Entsende-RL: „Da die Arbeit im internationalen Straßenverkehr durch besonders hohe Mobilität gekennzeichnet ist, wirft die Umsetzung der Entsenderichtlinie in diesem Bereich besondere rechtliche Fragen und Schwierigkeiten auf (insbesondere in Fällen, in denen keine ausreichende Verbindung mit dem betreffenden Mitgliedstaat gegeben ist).“ Es mag sein, dass eine entsprechende Richtlinie für den Straßenverkehr in Zukunft das Kriterium einer „ausreichenden Verbindung“ der im internationalen Straßenverkehr tätigen Arbeitskräfte berücksichtigt. Für die im Verfahren anzuwendende Entsende-RL 96/71 durften solche Überlegungen allerdings keine Rolle spielen.