45Ungeklärter Sturz vom Monowheel ist kein Arbeitsunfall
Ungeklärter Sturz vom Monowheel ist kein Arbeitsunfall
Die Wahl des Verkehrsmittels steht dem Versicherten auf Arbeitswegen grundsätzlich frei. Die Freiheit des Fortbewegungsmittels besteht aber nicht unbegrenzt. Es ist eine Grenze zwischen allgemein üblichen Verkehrsmitteln einerseits und Spiel- und Sportgeräten andererseits zu ziehen.
Nach den Grundsätzen der Beweislastverteilung trifft den Kl auch in Sozialrechtssachen die objektive Beweislast für die rechtsbegründenden Tatsachen.
Der Anscheinsbeweis ist in Verfahren über Leistungen der UV modifiziert anzuwenden.
[1] Am Morgen des 22.3.2019 fuhr der damals 47-jährige Kl mit seinem Monowheel von seinem Wohnort zu seiner Dienststelle im Stadtgebiet von B*. Bei einem Monowheel handelt es sich um ein elektrisch angetriebenes Einrad. Der Fahrer platziert seine Füße auf die seitlich vom Rad angebrachten Pedale. Beschleunigt wird durch die Verlagerung des Körpergewichts nach vorne, gebremst (allein) durch die Verlagerung des Körpergewichts nach hinten. Im Unterschied zu anderen „üblichen“ Verkehrsmitteln bzw Fahrzeugen iSd Straßenverkehrsordnung [StVO] zeichnen sich Monowheels vor allem dadurch aus, dass sie über keine manuell zu betätigenden Bremsen oder Lenkeinrichtungen verfügen und auf das Halten des Gleichgewichts und die Steuerung durch Gewichtsverlagerung ausgelegt sind.
[2] Der Kl befuhr am Unfalltag mit dem Monowheel abwechselnd die Straße und den Gehsteig. Bei einer Geschwindigkeit von ca 20 km/h kam er zu Sturz und erlitt einen offenen Trümmerbruch des Oberarms links mit Gelenksbeteiligung. Der Hergang des Sturzes kann nicht festgestellt werden. Es ist weder feststellbar, ob der Sturz auf einen äußeren Einfluss zurückzuführen ist, noch, ob er auf dem Gehsteig oder auf der Fahrbahn erfolgte. Die Erwerbsfähigkeit des Kl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt war ab dem 22.6.2019 um 20 % vermindert. Ab 1.12.2019 beträgt die Minderung der Erwerbsfähigkeit auf Dauer 15 %. [...]
[4] Mit seiner Klage begehrt der Kl die Feststellung, dass der Vorfall vom 22.3.2019 einen Dienstunfall darstelle und die Bekl schuldig sei, ihm Leistungen aus der UV im gesetzlichen Ausmaß zu erbringen. Es liege ein Dienstunfall vor. Das Monowheel sei Fahrrädern oder anderen üblichen Verkehrsmitteln gleichgestellt. [...]
[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
[7] Über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus traf es noch die Feststellung, dass der Kl vor der Inbetriebnahme des Monowheels keinen Kurs absolviert hatte. Er nutzte das Gerät hauptsächlich für den Weg zu seiner Dienststelle sowie dazu, um in der Mittagspause seine Eltern zu besuchen. Gelegentlich verwendete er es auch in seiner Freizeit. [...]
[9] Das Berufungsgericht hob das Ersturteil auf und wies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Der Unfall sei vom Schutz der gesetzlichen UV umfasst. [...]
[10] Das Berufungsgericht ließ den Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss mit der Begründung zu, dass noch keine Rsp des OGH dazu bestehe, unter welchen Umständen die Verwendung eines Monowheels den Unfallversicherungsschutz ausschließe.
[11] Der Rekurs ist zulässig und iSd Wiederherstellung des abweislichen Ersturteils auch berechtigt.
[12] 1.1 Gem § 90 Abs 1 B-KUVG [Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz] sind Dienstunfälle Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen 432 und ursächlichen Zusammenhang mit dem die Versicherung begründenden Dienstverhältnis oder mit der die Versicherung begründenden Funktion ereignen. Nach § 90 Abs 2 Z 1 B-KUVG sind Dienstunfälle auch Unfälle, die sich auf einem mit dem Dienstverhältnis zusammenhängenden Weg zur oder von der Dienststätte ereignen.
[13] 1.2 Da § 90 Abs 1 und Abs 2 Z 1 B-KUVG im Wesentlichen § 175 Abs 1 und 2 Z 1 ASVG entsprechen, kann auf die dazu ergangene Rsp und Literatur zurückgegriffen werden (RS0110598 [T2]).
[14] 2.1 Versichert sind die typischen Gefahren eines Arbeitsweges (Dienstweges), dh jenes Risiko, dem sich die versicherte Person in ihrer Eigenschaft als Versicherte auf diesem Weg aussetzen musste (Tomandl in Tomandl, SV-System [33. ErgLfg] 297 [2.3.2.3.1.9]). Der Schutz erstreckt sich insb auf Wechselfälle der Witterung, Schnee- und Eisglätte, schlechte Sicht und spezifische Gefahren des Verkehrs. Auch die Gefahr, die ganz allgemein von Tieren oder Menschen ausgeht, ist auf dem Arbeitsweg (Dienstweg) grundsätzlich versichert (Müller in SV-Komm, § 175 ASVG [264. Lfg] Rz 172).
[15] 2.2 Für die Bejahung des Versicherungsschutzes ist somit ein hinreichender sachlicher Zusammenhang zwischen der realisierten Unfallgefahr und dem unter Versicherungsschutz stehenden Weg erforderlich. Wird etwa vom unmittelbaren Weg nach oder vom Ort der Tätigkeit aus Gründen abgewichen, die wesentlich dem privaten Bereich zuzuordnen sind, besteht – mit Ausnahme räumlich und zeitlich ganz kurzer Abweichungen oder Unterbrechungen – kein Versicherungsschutz, bis der unmittelbare Weg wieder erreicht wird.
[16] 2.3 Die Wahl des Verkehrsmittels bzw die Art der Fortbewegung steht dem Versicherten auf Arbeitswegen aber grundsätzlich frei (10 ObS 226/89 SSV NF 3/103 = RS0084159; 10 ObS 155/89SSV NF 3/71; Keller in Hauck, Sozialgesetzbuch SGB VII: Gesetzliche Unfallversicherung § 8 Rz 230). Ob zumutbare günstigere, raschere, ökologisch sinnvollere oder wie auch immer zu bewertende Alternativen (etwa öffentliche Verkehrsmittel zu verwenden oder zu Fuß gehen) in Frage kämen, ist für die UV nicht maßgeblich (Pfeil, Entscheidungsanmerkung zu 10 ObS 83/95, ZAS 1997/3, 22 [25]).
[17] 2.4.1 Nach der – zur Frage der Wahl einer bestimmten Wegroute – ergangenen E des deutschen Bundessozialgerichts vom 31.8.2017, AZ B 2 U 2/16 R, gilt die Freiheit der Routenwahl, der Fortbewegungsart und des Fortbewegungsmittels nicht unbegrenzt. Im deutschen Schrifttum vertritt Krasney (in Krasney/Burchardt/Kruschinsky/Becker/Heinz/Bieresborn, Gesetzliche Unfallversicherung [SGB VII] § 8 Rz 474) unter Bezugnahme auf diese Entscheidung die Ansicht, es stelle eine versicherungsrechtliche Obliegenheit dar, auch bei der Wahl des Verkehrsmittels für den Arbeitsweg ein deutlich risikoärmeres, zumutbares Verkehrsmittel zu wählen. Bei den für den Straßenverkehr zugelassenen Verkehrsmitteln werde das jedoch nur in Verbindung mit anderen Gegebenheiten (zB den Witterungsverhältnissen) relevant sein. [...]
[19] 2.5 In der österreichischen Lehre führt Müller (in SV-Komm [264. Lfg], § 175 ASVG Rz 170) aus, dass – auch bei grundsätzlicher Wahlfreiheit des Fortbewegungsmittels – für den Bereich der gesetzlichen UV eine Grenzziehung zum Sportgerät erforderlich sei. Als geeigneter Abgrenzungsmaßstab sei die Verkehrssitte heranzuziehen. Während das Fahrrad als Verkehrsmittel angesehen werden könne, handle es sich beispielsweise bei Inlineskates um Sportgeräte, deren Benutzung auf dem Weg daher im Allgemeinen aus Gründen erfolge, die dem privaten Lebensbereich zuzuordnen seien.
[20] 3.1 Auch nach Ansicht des OGH ist eine Grenze zwischen allgemein üblichen Verkehrsmitteln einerseits und den Spiel- und Sportgeräten andererseits zu ziehen. Bei Wegunfällen handelt es sich um eine rechtlich nicht zwingend gebotene, aus sozialpolitischen Überlegungen vorgenommene Erweiterung des Versicherungsschutzes auf Wegen von und zu der Arbeit, obwohl dieser Bereich dem Einfluss des Unternehmers weitgehend entzogen ist (Spitzlei, Grundstrukturen des Wegunfalls, NZS 2020, 609). Daraus folgt, dass nur die typischen (allgemeinen) Weggefahren und Risken versichert sein sollen, nicht aber mit dem Weg in irgendeinem Zusammenhang stehende andere Ereignisse, wie etwa auch Ereignisse, die im Zusammenhang mit Gefahren stehen, die typischerweise mit der Verwendung von Sport- und Spielgeräten verbunden sind und deren Verwirklichung bedingt, dass die Unfallfolgen kausal auf die Verwendung des Sportgeräts zurückzuführen sind (Müller in SV-Komm [264. Lfg] § 175 ASVG Rz 170).
[21] 3.2 Ganz allgemein geht es bei der Frage, ob vom Grundsatz der Wahlfreiheit des Fortbewegungsmittels auch noch die Verwendung eines Monowheels erfasst ist, oder ob dessen Verwendung dem privaten Lebensbereich zuzurechnen ist, um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen UV reicht. Nach der Rsp ist für diese Wertentscheidung maßgeblich, ob die Gesamtumstände dafür oder dagegen sprechen, das unfallbringende Verhalten dem geschützten Bereich oder der Privatsphäre des Versicherten zuzurechnen (vgl RS0084490). Ob Unfallversicherungsschutz vorliegt, ergibt sich nicht aus einer losgelösten Betrachtung allein des Verhaltens des Versicherten, sondern erst im Zusammenhang mit allgemein rechtlich-systematischen Überlegungen. Die subjektive Ansicht des Versicherten ist unfallversicherungsrechtlich nur dann relevant, wenn diese Meinung in den objektiven Verhältnissen eine ausreichende Stütze findet (10 ObS 83/95, SSV-NF 9/57).
[22] 3.3 Einen Anhaltspunkt für die Abgrenzung im konkreten Fall können auch die Bestimmungen der StVO bilden.
[23] Nach diesen gelten Einräder nicht als Fahrzeuge: § 2 Abs 1 Z 19 StVO 1960 idF der am 1.6.2019 in Kraft getretenen 31. Novelle (BGBl I 2019/37) nimmt „vorwiegend zur Verwendung außerhalb der Fahrbahn bestimmte Kleinfahrzeuge (etwa Mini- und Kleinroller ohne Sitzvorrichtung, mit Lenkstange, Trittbrett und mit einem äußeren Felgendurchmesser von höchstens 300 mm) sowie fahrzeugähnliches Spielzeug (etwa Kinderfahrräder mit einem äußeren Felgendurchmesser von 433 höchstens 300 mm und einer erreichbaren Fahrgeschwindigkeit von höchstens 5 km/h) vom Fahrzeugbegriff aus. In den Materialien zur 31. Novelle (ErläutRV 559 BlgNR 26. GP 1) sind als Beispiele für unter diese Ausnahme fallende Kleinfahrzeuge bzw fahrzeugähnliches Spielzeug neben Skateboards, Hoverboards, Scootern und Miniscootern auch Einräder angeführt, unabhängig davon, ob sie über einen elektrischen Antrieb verfügen. Dies wird damit begründet, dass Fortbewegungsmittel, die nicht vorrangig einem Verkehrsbedürfnis dienen, sondern auch einen Spiel- und Freizeitzweck verfolgen oder für die eine besondere Geschicklichkeit notwendig ist, keine Fahrzeuge sein können. Dies treffe auch auf Fortbewegungsmittel zu, die aufgrund ihrer technischen Ausführung nicht geeignet seien, ein sicheres Fahren zu gewährleisten, sodass sie den üblichen Anforderungen des Straßenverkehrs nicht gerecht werden können.
[24] 3.3.1 Einräder stellen somit vorwiegend zur Verwendung außerhalb der Fahrbahn bestimmte Kleinfahrzeuge dar, die fahrzeugähnlichem Spielzeug entsprechen (Pürstl, StVO-ON15.00 § 2 Anm 23b). Diese rechtliche Einordnung ist auch auf den Bereich der gesetzlichen UV übertragbar.
[25] 4.1 Die Verwendung derartiger Sport- bzw Spielgeräte auf dem Arbeits- bzw Dienstweg beseitigt allerdings von vornherein nicht den Schutz bei allen Weggefahren, sondern nur insoweit, als die Unfallfolgen kausal auf die Verwendung des Sportgeräts zurückzuführen sind (Müller in SV-Komm [264. Lfg] § 175 ASVG Rz 170).
[26] 4.2 Wie sich aus den Gesetzesmaterialien zur 31. StVO-Novelle ableiten lässt, geht der Gesetzgeber davon aus, dass auch bei der Benutzung eines Monowheel eine besondere Geschicklichkeit notwendig ist und aufgrund der technischen Eigenschaften (insb im Zusammenhang mit Lenken und Bremsen) ein sicheres Fahren nicht gewährleistet ist (ErläutRV 559 BlgNR 26. GP 1). Wenn sich die daraus ergebende besondere Gefahr verwirklicht und die Unfallfolge kausal auf die Verwendung eines solchen Geräts zurückzuführen ist (etwa in Form eines Sturzes infolge mangelnder Geschicklichkeit beim Halten der Balance), stellt dies keine typische Gefahr eines Dienstweges dar, die unter dem Schutz des gesetzlichen Unfallversicherungsschutzes stehen soll. Verwirklicht sich hingegen bei Benutzung eines Monowheel eine allgemeine (typische) Weggefahr, die mit der Verwendung dieses Sportgeräts in keinem Zusammenhang steht und für den Unfall ursächlich ist (zB in Form eines verkehrswidrigen Verhaltens eines Dritten, das auch beispielsweise bei der Benutzung eines Fahrrads eine unfallverhütende Reaktion nicht ermöglicht hätte), ist der Unfallversicherungsschutz zu bejahen (Müller in SV-Komm [264. Lfg], § 175 ASVG Rz 170).
[27] 4.3 Aus einer Zusammenschau der Ausführungen unter 4.1 und 4.2 ergibt sich, dass der Arbeitsweg, soweit er mit einem Monowheel zurückgelegt wird, nicht unter dem Schutz der gesetzlichen UV steht, außer es würde sich eine allgemeine Weggefahr verwirklichen, die nicht im Zusammenhang mit der Verwendung eines Monowheel steht.
Dieses Zwischenergebnis ist Grundlage für die Schlussfolgerungen zur Beweislast.
[28] 5.1 Im vorliegenden Fall konnten zum Unfallhergang keine Feststellungen getroffen werden, weil sich der Kl an den Unfall nicht mehr erinnert und keine Zeugen vorhanden (oder benennbar) waren. Ob und allenfalls welche äußeren Gründe für den Sturz ursächlich waren, ist daher ungeklärt geblieben. Weder konnte festgestellt werden, ob der Unfall seine Ursache in einer üblichen Gefahr des Arbeitsweges hatte, noch war feststellbar, ob der Unfall kausal auf die Verwendung des Monowheel und dessen typische Gefahren zurückzuführen ist. Der Umstand, dass nach der Aktenlage keine Anhaltspunkte für die Existenz eines weiteren Unfallbeteiligten bestehen, spricht nicht zwingend dafür, dass sich der Unfall auf eine Art ereignet hat, die für eine Verwirklichung der von Monowheels ausgehenden besonderen Gefahren typisch ist (etwa Verlust des Gleichgewichts).
[29] 5.2 Entsprechend den auch in Sozialrechtssachen geltenden Grundsätzen der Beweislastverteilung trifft den Kl die objektive Beweislast für die rechtsbegründenden Tatsachen (RS0039936 [T4]; RS0086050). Hat der Kl ein Spiel- bzw Sportgerät am Dienstweg verwendet und ist ohne Vorhandensein weiterer Unfallbeteiligter zu Sturz gekommen, trifft ihn die objektive Beweislast dafür, dass der Unfall nicht durch die Verwirklichung der von diesem Gerät ausgehenden spezifischen Gefahren ausgelöst wurde, sondern seine Ursache in den üblichen Gefahren des Dienstweges hatte. In diesem Sinn hat er einen kausalen Zusammenhang zwischen einer allgemeinen Weggefahr und dem Sturz nachzuweisen (vgl auch RS0109888 zu Verkehrsunfällen bei Alkoholbeeinträchtigung des Versicherten). Kann der Kl den Beweis, dass die Ursache des Sturzes in einer typischen (allgemeinen) Weggefahr lag, nicht erbringen, geht dies zu seinen Lasten.
[30] 5.3 Auch die Regeln über den Anscheinsbeweis kommen dem Kl nicht zugute.
[31] 5.3.1 Die Rsp wendet im Verfahren über einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch aus Arbeitsunfällen die Regeln des Anscheinsbeweises modifiziert an. Auch dann, wenn noch andere Ursachen in Betracht kommen, muss nur feststehen, dass die Körperschädigung eine typische Folge eines als Unfall zu wertenden Ereignisses ist, das im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung stand (RS0110571).
[32] 5.3.2 Der OGH hat den Anscheinsbeweis nicht nur bei der Zurechnung der Unfallfolgen modifiziert angewendet, sondern in der E 10 ObS 16/11t (SSV NR 26/10 = SZ 2012/31 = DRdA 2013/21, 237 [krit Müller]) auch bei der Frage der Zurechnung eines Unfalls zum Schutzbereich der UV. Ein Versicherter war unter ungeklärten Umständen an seinem Arbeitsplatz, an dem er zuletzt die versicherte Tätigkeit verrichtet hat, verunglückt. Nach der genannten Entscheidung entfällt der Versicherungsschutz, wenn vom Unfallversicherungsträger bewiesen wird, dass der Versicherte die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigen 434 wirtschaftliche Verrichtung unterbrochen oder beendet hat (RS0127743). Die Nichtfeststellbarkeit der Unfallursache würde demnach zu Lasten des Unfallversicherungsträgers gehen. [...]
[34] Der Kl war am Weg zu seiner Dienststelle. Die auf persönliche Gründe zurückgehende Verwendung eines Spiel- bzw Sportgeräts ist dem privaten Lebensbereich zuzuordnen. Zum Zeitpunkt des Sturzes befand er sich demnach im privaten Lebensbereich, so lange nicht bewiesen ist, dass sich eine allgemeine Weggefahr verwirklicht hat. Die Nichtfeststellbarkeit eines Zusammenhangs zwischen dem Sturz und einer typischen Weggefahr wirkt sich daher zu Lasten des Versicherten aus.
Die vorliegende E ist im Ergebnis und in den wesentlichen Teilen ihrer Begründung richtig und verdient Zustimmung (so auch Labner, EvBl 2021/67). Dies folgt aus der notwendigen Zurechnung von Wegunfällen zum geschützten Lebensbereich über das Kriterium der typischen Weggefahren (2.) und aus den Regeln zur Beweislastverteilung (3.).
§ 175 Abs 2 Z 2 ASVG bezieht Unfälle auf dem Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte und wieder zurück in den Schutzbereich der UV ein. Nach dem in Lehre und Rsp artikulierten Normzweck sollen damit jene Gefahren erfasst werden, denen sich Versicherte aussetzen müssen, um überhaupt ihre versicherte Tätigkeit ausüben zu können (OGH 8.3.1988, 10 ObS 24/88; Tomandl, Das Leistungsrecht der österreichischen Unfallversicherung [1977] 39). Versichert sind daher, wie der OGH auch in der vorliegenden E betont, nur die mit dem Arbeitsweg typischerweise verbundenen Gefahren („allgemeine Weggefahr“; zB R. Müller in SV-Komm § 175 ASVG Rz 172 mwN; Tomandl, Der Wegunfall in der österreichischen und deutschen Unfallversicherung – zugleich ein Beitrag zur Theorie der wesentlichen Bedingung, in Tomandl [Hrsg], Grenzen der Leistungspflicht [1975] 137 [145 f]).
Vom Versicherungsschutz erfasste Wegunfälle sind durch eine doppelte Finalität gekennzeichnet. Zum einen muss sich die Versicherte auf dem Weg zur bzw von der Arbeitsstätte befinden, zum anderen muss sie beim Zurücklegen des Weges auch von der Absicht getragen sein, dort ihre versicherte Tätigkeit auszuüben. Dh ihre innere Handlungstendenz muss auf die versicherte Tätigkeit ausgerichtet sein (Tomandl, System des Sozialversicherungsrechts 2.3.2.3.1.9.; R. Müller, Der doppelte Wegunfall,
mwN; jüngst ausführlich R. Müller, Die innere Handlungstendenz als Zurechnungskriterium der gesetzlichen Unfallversicherung, in FS Marhold [2020] 353).Die Zurechnung zum Schutzbereich der UV erfordert eine Abgrenzung des geschützten Lebensbereichs von der Privatsphäre der Versicherten. Eine in der Praxis wesentliche Fallgruppe betrifft gefahrenerhöhendes Verhalten der Versicherten (OGH 27.9.1988, 10 ObS 243/88 – Überqueren der Straße bei Rotlicht; R. Müller in SV-Komm, Vor §§ 174-177 ASVG Rz 62 ff; Tomandl, Leistungsrecht 64 ff jeweils mwN). Der Ausschluss des Versicherungsschutzes beruht dabei nicht auf dem gefährlichen oder sorglosen Verhalten an sich, da Verschulden die Qualifikation als Arbeitsunfall nicht ausschließt. Vielmehr ist bei entsprechend unvernünftigem Handeln die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Ursache des Unfalls zu sehen, weil der Zusammenhang zwischen innerer Handlungstendenz und Schutzbereich der UV gelöst oder zumindest erheblich gelockert ist (R. Müller in SV-Komm, Vor §§ 174-177 ASVG Rz 62 ff). Diese Abgrenzung zwischen geschütztem Lebensbereich und nicht versicherter Privatsphäre erfordert klarerweise eine Wertung.
Wenn Sie es noch nicht getan haben, dann sehen Sie sich jetzt mithilfe der Google Bildersuche oder Ähnlichem an, was ein Monowheel ist und wie es „gelenkt“ wird. Damit sollte die Richtigkeit der Ansicht des OGH zur wesentlichen materiellen Frage der vorliegenden Entscheidung außer Zweifel stehen (zum formellen Aspekt vgl 3.). Wer ein mindestens 20 km/h schnelles, elektrisch betriebenes Einrad fährt, das nur durch Gewichtsverlagerung (!) gebremst werden kann, hebt den am Arbeitsweg grundsätzlich gegebenen Zusammenhang mit dem geschützten Lebensbereich auf. MaW: Wer sich am Arbeitsweg als Gleichgewichtsakrobatin versucht, tut dies aus Privatinteresse und darf nicht auf den Schutz der Versichertengemeinschaft vertrauen.
Dagegen kann auch nicht vorgebracht werden, dass der OGH mehrfach obiter ausgesprochen hat, den Versicherten stehe die Wahl des Verkehrsmittels frei (zB OGH 12.9.1989, 10 ObS 226/89; Nw aus der älteren Judikatur – ua zum Arbeitsweg per Pferd – bei Barta, ZAS 1973, 73). Diese Aussagen sind vor dem Hintergrund der entschiedenen Fälle zu sehen, zB als Reaktion auf eine E des OLG Wien, in der ein Arbeitsunfall verneint wurde, weil ein 17-jähriger Lehrling bei abnehmendem Licht und (noch) leicht regennasser Fahrbahn mit einem Moped gefahren war (OGH 12.9.1989, 10 ObS 226/89). Eine Verabsolutierung der Abgrenzung zwischen Schutzbereich und Privatsphäre in Bezug auf die Wahl des Verkehrsmittels hat der OGH nie behauptet oder auch nur im Sinn gehabt.
Dh aber nicht, dass sich bei der Fahrt mit einem Monowheel keine allgemeine Weggefahr realisieren kann: Hält eine Versicherte etwa mit ihrem Monowheel ordnungsgemäß an einer Kreuzung und wird von einem anderen Verkehrsteilnehmer „abgeschossen“, liegt ein Arbeitsunfall vor (vgl Rz 26 der vorliegenden E; Labner, EvBl 2021/67). Die genaue Unfallursache konnte aber in concreto nicht festgestellt werden, weshalb es entscheidend auf die Beweislastverteilung ankam. 435
Laut § 2 ASGG gelten in Sozialrechtssachen subsidiär die Vorschriften für bürgerliche Rechtssachen, dh insb die ZPO. Die allgemeinen Regeln der Beweislast legen nun der Kl die objektive Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen auf, diese müssen „für wahr zu halten“ sein (§ 272 ZPO; vgl OGH 17.12.1991, 10 ObS 278/91; Neumayr in ZellKomm § 87 ASVG Rz 6 mwN; Engers, Behauptungs- und Beweislast in Sozialrechtssachen, in JB Arbeits- und Sozialrecht 2016, 151).
Daran ändert auch § 87 ASGG nichts. Nach dieser Bestimmung hat das Gericht in Sozialrechtssachen alle notwendigen Beweise von Amts wegen aufzunehmen. § 87 ASGG befreit die Parteien aber nur – teilweise – von der subjektiven Beweislast (Beweisführungslast). Die objektive Beweislast bleibt bestehen, dh nach Beweisaufnahme und -würdigung verbleibende Unklarheiten gehen zulasten der klagenden Versicherten. Einen Grundsatz, dass im Zweifel für die Versicherten zu entscheiden wäre, gibt es nicht (zB OGH 23.5.2018, 10 ObS 38/18p mwN).
In diesem Zusammenhang erwähnt der OGH aus Gründen der Sachnähe auch den Anscheinsbeweis, der aber im vorliegenden Fall nicht gelingen und damit am Ergebnis nichts ändern kann. Der Anscheinsbeweis (auch prima-facie-Beweis) wurde von Judikatur und Lehre entwickelt, um unbillige Beweisnotstände zu vermeiden (vgl die ausführliche Darstellung der Judikatur bei Reischauer in Rummel/Lukas § 1296 ABGB Rz 4 ff; Kodek/Klauser § 272 ZPO E4 ff). Der Anscheinsbeweis beruht auf allgemeinen Erfahrungssätzen über Kausalketten und ist nur zulässig, wenn es einen typischen Kausalverlauf gibt, der auch im jeweiligen Fall wahrscheinlich ist. Es handelt sich daher um keine Umkehr der Beweislast, sondern um eine Verschiebung des Beweisthemas von der unmittelbar anspruchsbegründenden Tatsache auf eine leichter zu beweisende Tatsache, die aufgrund der Erfahrung regelmäßig auf die anspruchsbegründende Tatsache schließen lässt (Rechberger/C. Gruber,
; terminologisch unsauber daher OGH 6.12.2011, 10 ObS 78/11k).In Sozialrechtssachen, insb in Verfahren über Ansprüche aus einem Arbeitsunfall, ist der Anscheinsbeweis modifiziert anzuwenden (zB OGH 17.12.1991, 10 ObS 278/91; OGH 10.7.2001, 10 ObS 165/01i; OGH 13.1.2004, 10 ObS 419/02v; ausführlich Albert, Der Anscheinsbeweis in Sozialgerichtsverfahren,
). Allgemein gilt der Anscheinsbeweis nach der Judikatur als entkräftet, wenn die Gegenseite nachweist, dass der typische Kausalverlauf in concreto nicht zwingend, sondern auch ein anderer Verlauf zumindest ernstlich möglich ist. In Sozialrechtssachen muss die Gegenseite (idR der Unfallversicherungsträger) dagegen beweisen, dass ein atypischer Verlauf zumindest gleich wahrscheinlich ist wie der nach allgemeiner Erfahrung anzunehmende.In der vorliegenden E unterscheidet der OGH verschiedene Fallgruppen der Anwendung des Anscheinsbeweises iZm Arbeitsunfällen (Rz 32). Häufig wird auf den Anscheinsbeweis zurückgegriffen, um nachzuweisen, dass eine bestimmte Gesundheitsschädigung Folge eines Arbeitsunfalls ist (OGH 16.4.2020, 10 ObS 134/19g; OGH 6.12.2011, 10 ObS 78/11k; OGH 13.1.2004, 10 ObS 419/02v; OGH 17.12.1991, 10 ObS 278/91). Hier steht der Arbeitsunfall fest, fraglich ist nur, ob bestimmte medizinische Folgen auf den Unfall zurückzuführen sind. In der Literatur werden diese Fälle auch unter dem Begriff der medizinischen Kausalität zusammengefasst (Albert,
). Der Anscheinsbeweis kann aber auch dazu dienen, den Zusammenhang des Unfalls mit dem geschützten Lebensbereich und damit das Vorliegen eines Arbeitsunfalls überhaupt zu beweisen (zB OGH 16.6.1992, 10 ObS 130/92; OGH 13.3.2012, 10 ObS 16/11t; OGH 23.5.2018, 10 ObS 38/18p; nach Albert, : rechtliche Kausalität). Da die Erwägungen, die für den Anscheinsbeweis sprechen, nicht auf bestimmte Ausschnitte der Realität beschränkt sind, handelt es sich dabei aber bloß um eine akademische Unterscheidung. Bei Berufskrankheiten fallen medizinische und rechtliche Kausalität ohnehin zusammen (zB OGH 10.7.2001, 10 ObS 165/01i; OGH 19.9.2000, 10 ObS 227/00f).Fest steht, dass dem Kl in concreto der Anscheinsbeweis nicht gelingen konnte. Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass der Sturz von einem besondere Geschicklichkeit erfordernden Sportgerät typischerweise gerade nicht auf die Eigenschaften dieses Geräts zurückzuführen ist (Labner, EvBl 2021/67: „kaum denkbar“). Die anspruchsbegründende Tatsache – konkret die Verwirklichung einer allgemeinen Weggefahr – konnte nicht als wahr festgestellt werden, was aus Gründen der objektiven Beweislastverteilung zulasten des Kl geht. Einen vergleichbaren Fall aus der jüngeren Rsp liefert die E des OGH vom 23.5.2018, 10 ObS 38/18p: Der Versicherte war nach durchzechter Nacht am frühen Morgen bewusstlos mit schwerem Schädel- Hirn-Trauma und bis zur Hälfte der Oberschenkel angezogener Hose am Fuß der Hausstiege gefunden worden. Die bloße – nicht von einem allgemeinen Erfahrungsschatz getragene – Möglichkeit, dass er sich im Unfallzeitpunkt bereits auf dem Weg zur Arbeit befunden hatte, reichte nicht aus, um den Anscheinsbeweis zu erbringen.
Die vorliegende E ist richtig und liefert eine wertvolle Präzision der Judikatur zur Wahl des Fortbewegungsmittels iZm Wegunfällen. 436