6Koordinierung von Pflegegeld bei Mitversicherung in Österreich
Koordinierung von Pflegegeld bei Mitversicherung in Österreich
Nach Art 29 iVm Art 4 VO (EG) 883/2004 ist der rentenzahlende Staat für Pflegegeld bei Rentenbezieher:innen zuständig, die keinen Anspruch auf (Sach-)Leistungen bei Krankheit nach dem Recht ihres Wohnmitgliedstaats besitzen, aber nach den Rechtsvorschriften des rentenzahlenden Staats solche Leistungen erhalten könnten, wenn sie dort wohnen würden.
Die Mitversicherung als Angehörige nach dem ASVG vermittelt keinen Anspruch auf Leistungen der österreichischen KV; der Anspruch steht vielmehr den Versicherten selbst für sich und ihre Angehörigen zu. Es handelt sich damit auch um keinen abgeleiteten Anspruch iSd VO (EG) 883/2004.
[1] Der Kl ist slowakischer Staatsbürger und hält sich seit 2012 ständig in Österreich auf. Der Kl bezieht vom slowakischen Versicherungsträger eine – nach dem insofern nicht bestrittenen Vorbringen der Bekl – Invaliditätsrente (Invaliditätspension). In Österreich erhält er – unstrittig seit 1.1.2013 – eine Ausgleichszulage. In der Slowakei war der Kl von 1.1.2010 bis 31.12.2011 krankenversichert, seither besteht keine KV in der Slowakei. In Österreich ist der Kl bei R* in der KV als Angehöriger – unstrittig nach § 123 ASVG – mitversichert.
[2] Mit Bescheid vom 25.7.2018 lehnte die bekl Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Kl vom 5.7.2018 auf Zuerkennung von Pflegegeld ab.
[...]
[3] Mit seiner dagegen gerichteten Klage begehrt der Kl die Zuerkennung von Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß. [...]
[4] Die Bekl wandte dagegen im Wesentlichen ein, dass der Bezug einer Ausgleichszulage allein keinen Anspruch auf Pflegegeld vermittle. [...]
[5] Das Erstgericht sprach dem Kl Pflegegeld der Stufe 1 ab dem 1.8.2018 zu und wies das Mehrbegehren ab.
[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl gegen dieses Urteil Folge und wies das Klagebegehren ab. Der Kl beziehe keine österreichische Pensionsleistung, sondern eine slowakische Rente und eine Ausgleichszulage in Österreich, die keinen Anspruch auf Pflegegeld gem § 3 Abs 1 BPGG vermittle. Bei der vom Kl bezogenen slowakischen Invaliditätsrente handle es sich um eine Rente iSd Art 29 Abs 1 VO (EG) 883/2004, sodass die Zuständigkeit zur Gewährung von Leistungen bei Krankheit – wozu das Pflegegeld zähle – gem Art 29 Abs 1 iVm Art 21 VO (EG) 883/2004 bei der Slowakei liege. Dafür spiele keine Rolle, dass der Kl in der Slowakei nicht krankenversichert sei. Der Anspruch auf Pflegegeld richte sich nach dem BPGG und nicht nach den Bestimmungen über die Mitversicherung nach dem ASVG. Die Revision sei zulässig, weil Rsp zur Frage fehle, ob eine aufrechte österreichische Kranken-(mit-)versicherung zu einem Anspruch auf Pflegegeld führe, auch wenn Österreich nach der VO (EG) 883/2004 nicht zur Gewährung von Pflegegeld zuständig sei.
[7] Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Bekl nicht beantwortete Revision des Kl, mit der dieser die Stattgebung der Klage anstrebt.
[8] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.
[9] Die Revision argumentiert, dass der Kl in Österreich krankenversichert sei und in keinem anderen Mitgliedstaat der Union eine KV existiere. Der Kl sei daher anspruchsberechtigt gem § 3a Abs 1 BPGG. Auch eine Mitversicherung in der KV und die damit verbundene Leistungsverpflichtung führe zur Zuständigkeit Österreichs. Dem kommt keine Berechtigung zu:
[10] 1. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass der Kl nicht anspruchsberechtigt gem § 3 Abs 1 BPGG ist, weil er keine der dort genannten Grundleistungen bezieht, ist zutreffend und wird in der Revision nicht mehr in Frage gestellt.
[11] 2.1 Auf den Anspruch des Kl ist daher § 3a BPGG anwendbar. Unstrittig hat der Kl seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und ist infolge seines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts österreichischen Staatsbürgern gem § 3a Abs 2 Z 3 BPGG gleichgestellt.
[12] 2.2 Weitere – negative – Anspruchsvoraussetzung gem § 3a Abs 1 BPGG ist, dass nicht ein anderer Mitgliedstaat nach der VO (EG) 883/2004 für Pflegeleistungen zuständig ist. Der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der Verordnung ist im vorliegenden Fall unstrittig eröffnet. Für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach § 3a Abs 1 BPGG sind nach stRsp allein die Kollisionsregeln nach Art 11 ff VO (EG) 883/2004 heranzuziehen (RS0131205).
[13] 2.3 Der Kl geht als Pensionist keiner Beschäftigung nach. Nach der allgemeinen Regelung des Art 11 Abs 3 lit e VO (EG) 883/2004 wäre für den Kl Österreich dann als Wohnmitgliedstaat zuständig, wenn dem nicht anders lautende Bestimmungen der Verordnung entgegenstehen.
[14] 2.4 Eine Leistung bei Krankheit, wie das Pflegegeld nach dem BPGG, zählt nach der Rsp des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den in Art 19 Abs 1 lit a der VO (EWG) 1408/71 genannten Geldleistungen (EuGHC-215/99, ECLI:EU:C:2001:139, Jauch, Rn 35). Es ist daher auch als Geldleistung iSd Art 21 ff VO (EG) 883/2004 anzusehen. Nach Art 29 Abs 1 iVm Art 21 VO (EG) 883/2004 ist für die Gewährung von Pflegegeld an Pensionisten (Rentner) mit einer Pension (Rente) eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union in der Regel daher der pensionsauszahlende Staat und nicht der Wohnmitgliedstaat zuständig (10 ObS 123/16k SSV-NF 31/9; Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld4 Rz 3.46).
[15] 3.1 Geldleistungen (bei Krankheit) werden einer Person, die eine Rente nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats erhält, gem Art 29 Abs 1 VO (EG) 883/2004 vom zuständigen Träger 53 des Mitgliedstaats gewährt, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat, der die Kosten für die dem Rentner in dessen Wohnmitgliedstaat gewährten Sachleistungen zu tragen hat.
[16] 3.2 Die Mitversicherung des Kl als Angehöriger nach dem ASVG vermittelt diesem keinen eigenen oder abgeleiteten Anspruch auf Leistungen der österreichischen KV; der Anspruch steht vielmehr dem Versicherten selbst für sich und seine Angehörigen zu. Die Angehörigen selbst können Leistungen aus der KV – abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmefällen – nicht beanspruchen (10 ObS 305/99x SSV-NF 13/145; Windisch-Graetz in SV-Komm [284. Lfg] § 123 ASVG Rz 1 mwH)
[17] 3.3 Den zuständigen Staat für Rentenbezieher, die – wie der Kl – keinen Anspruch auf (Sach-)Leistungen bei Krankheit oder Mutterschaft nach dem Recht ihres Wohnmitgliedstaats besitzen, jedoch nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften sie eine Rente (Pension) beziehen, solche Leistungen erhalten könnten, wenn sie dort wohnten, bestimmt Art 24 VO (EG) 883/2004 (Janda in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 24 VO [EG] 883/2004 Rz 1). Dies ist nach den vorliegenden Verfahrensergebnissen die Slowakei, weil der Kl eine Invaliditätspension nach slowakischem Recht bezieht (Statut der Rentenleistung; vgl Art 24 Abs 1 und Abs 2 lit a VO [EG] 883/2004; 10 ObS 34/20b SSV-NF 34/43; Janda in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 24 VO [EG] 883/2004 Rz 3 und Vorbem Art 23 ff VO [EG] 883/2004 Rz 8 lit b). Auf das tatsächliche Bestehen einer KV in der Slowakei – mangels ständigen Wohnsitzes in der Slowakei (vgl die Länderinformation der Europäischen Kommission, Slowakei, https://ec.europa.eu/social/ main.jsp?catId=1127&langld=de&intPageld=4772https://ec.europa.eu/social/ main.jsp?catId=1127&langld=de&intPageld=4772; abgerufen am 20.4.2022) – kommt es daher, worauf das Berufungsgericht zutreffend hingewiesen hat, nach der hier ausschließlich kollisionsrechtlich vorzunehmenden Beurteilung nicht an.
[18] 4. Der vom Kl ins Treffen geführte Sachverhalt der E 10 ObS 101/18b SSV-NF 33/8 ist schon deshalb nicht vergleichbar, weil die damalige Kl nicht Bezieherin einer Rente (Art 1 lit w VO [EG] 883/2004) war, sodass die Sonderkoordinierungsvorschriften der Art 23 ff VO (EG) 883/2004 auf sie nicht anwendbar waren. Sie war überdies über ihren Ehegatten, der in Spanien selbständig erwerbstätig war, in Spanien in der KV mitversichert und bezog Sachleistungen in Österreich nur im Rahmen der Sachleistungsaushilfe (Art 17 VO [EG] 883/2004).
[19] Da Österreich nicht iSd § 3a Abs 1 BPGG zur Gewährung von Pflegeleistungen international zuständig ist, hat das Berufungsgericht den Anspruch des Kl auf Zuerkennung von Pflegegeld mangels Anspruchsberechtigung zu Recht verneint.
[20] Der Revision ist daher nicht Folge zu geben.
[...]
Der OGH behandelt hier das bekannte Spannungsverhältnis zwischen § 3a BPGG und dem Unionsrecht, insb den Kollisionsregeln der VO 883/2004. Er befasste sich in den letzten Jahren häufig mit der Gewährung von Pflegegeld an Unionsbürger:innen. § 3a BPGG bezieht pflegebedürftige österreichische Staatsbürger:innen auch ohne bundesgesetzliche Grundleistung (iSd § 3 BPGG) in den Anwendungsbereich des BPGG ein. Unionsbürger:innen sind den österreichischen Staatsbürger:innen gleichgestellt (§ 3a Abs 2 Z 1 BPGG).
In einer Reihe von Entscheidungen ging der OGH zunächst davon aus, dass nach § 3a BPGG (idF vor BGBl I 2015/12) auch dann Pflegegeld zusteht, wenn Österreich nach der VO 883/2004 (oder der VorgängerVO 1408/71) gar nicht zuständig ist (RISJustiz RS0129521). Der OGH baute dabei auf der Bosmann-Rsp des EuGH auf, wonach das Prinzip einer einzigen anwendbaren Rechtsordnung (Art 11 Abs 1 VO 883/2004) den unzuständigen Mitgliedstaat nicht daran hindert, zusätzliche Leistungen zu erbringen (EuGHC-352/06, Bosmann, ECLI:EU:C:2008:290). Die EuGH-Rsp ist insoweit stringent, als das Prinzip einer einzigen anwendbaren Rechtsordnung bei positiven Kollisionsfällen vor allem vor mehrfacher Beitragslast schützen soll (so bereits EuGH50/75, Massonet, ECLI:EU:C:1975:159, Rn 15/17). Verlangt der unzuständige Mitgliedstaat für die Leistung lediglich einen Wohnsitz, aber keine Beitragspflicht, wirkt die Normenhäufung rein begünstigend und nicht belastend (EuGH Rs Bosmann, Rn 32; vgl auch Becker, ZESAR 2020, 170 [177]). Der EuGH betonte dabei aber stets, dass es den Mitgliedstaat nur nicht verboten sei, zusätzliche Leistungen zu erbringen (etwa EuGHC-208/07, von Chamier-Glisczinski, ECLI:EU:C:2009:455, Rn 56). Der österreichische Gesetzgeber ging daher nicht von einer unionsrechtlichen Pflicht aus, Pflegegeld zu gewähren. Um weitere Leistungen einzuschränken, stellte er das Pflegegeld unter den Vorbehalt der Zuständigkeit Österreichs nach der VO 883/2004 (BGBl I 2015/12). Die Unionsrechtskonformität der Bestimmung wurde sowohl von Lehre als auch Rsp bejaht (Pfalz, DRdA 2015, 186 [189]; OGH10 ObS 83/16b SSV-NF 30/80) und letztlich auch vom EuGH bestätigt (EuGHC-95/18 und C-96/18, van den Berg, ECLI:EU:C:2019:767, Rn 66). Dies führt aber zum paradoxen Ergebnis, dass Mitgliedstaaten den Anwendungsbereich ihrer nationalen Bestimmungen ausdrücklich an die Koordinierungsregeln koppeln müssen, um eine Leistungspflicht als unzuständiger (Wohnsitz-)Mitgliedstaat zu vermeiden. Eigentlich kommt der VO 883/2004 aber Anwendungsvorrang zu und entzieht damit den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, festzulegen, „inwieweit ihre eigenen Rechtsvorschriften oder die eines anderen Mitgliedstaats anwendbar sind“ (EuGH 276/81, Kuijpers, ECLI:EU:C:1982:317, Rn 14; Felten, DRdA 2017, 312 [317]).
Hier und in einer Reihe anderer aktueller Entscheidungen (OGH10 ObS 3/22x ÖZPR 2022/63, 113; OGH 21.6.2022, 10 ObS 31/22i) widmet sich der OGH einer besonderen Konstellation: Es geht um den Pflegegeldanspruch von Personen, die eine Rente aus einem anderen Mitgliedstaat erhalten, zusätzlich aber auch in Österreich mitversichert sind (§ 123 ASVG, § 56 B-KUVG). 54
Welcher Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist, bestimmt sich nach den Koordinierungsregeln der VO 883/2004 für Leistungen bei Krankheit (Art 17 bis 35; EuGH C-215/99, Jauch, ECLI:EU:C:2001:139, Rn 28). Diese Bestimmungen gliedern sich in drei Abschnitte: Neben den allgemeinen Regeln (Art 17 bis 22) bestehen besondere für Rentner:innen (Art 23 bis 30) und gemeinsame Bestimmungen für die beiden ersten Abschnitte (Art 31 bis 35). Der Abschnitt für Rentner:innen koordiniert zunächst Sachleistungsansprüche (Art 23 bis 28) und sieht zudem eine spezielle Regel für Geldleistungen vor (Art 9).
Weil der Kl eine Rente aus der Slowakei bezog und vom österreichischen Sozialversicherungsträger eine Geldleistung wollte, ist der Art 29 heranzuziehen. Diese Bestimmung hat aber selbst wenig Inhalt, sondern weist – mit der für die Sozialkoordinierung typischen Eleganz – gleich zwei Querverbindungen auf. Beide beziehen sich auf andere Bestimmungen des Kapitels über Leistungen bei Krankheit:
Zunächst verweist Art 29 auf die allgemeine Geldleistungsregel des Art 21, modifiziert diese aber. Während nach Art 21 jener Staat Geldleistungen erbringt, der nach dem Titel II (Art 11 bis 17) zuständig ist, hängt die Zuständigkeit nach Art 29 von der Rentengewährung ab. Art 21 baut also auf den allgemeinen Kollisionsregeln des Titels II auf und präzisiert diese, hingegen weicht Art 29 von ihnen ab. Nach Eichenhofer seien die Sonderregeln für die KV für Rentner:innen daher „systematisch unzutreffend angeordnet“ und gehörten vielmehr selbst in den Titel II (Sozialrecht der Europäischen Union8 [2022] Rz 195). Das ist indes falsch, schafft der Titel II (Art 11 ff) doch einen umfassenden Verweis, der für das gesamte Versicherungsverhältnis gilt. Die Bestimmungen der Art 23 ff betreffen hingegen nur das Leistungsrecht eines Versicherungszweiges, eben jenes bei Krankheit (vgl EuGHC-345/09, van Delft, ECLI:EU:C:2010:610, Rn 47). Im Übrigen richtet sich die Zuständigkeit hier im Fall weiterhin nach Art 11 Abs 3 lit e, wie auch der OGH zutreffend feststellt (Rz 13). Prinzipiell ist also Österreich als Wohnmitgliedstaat zuständig.
Zudem orientiert sich die Zuständigkeit für Geldleistungen an den Regeln über Sachleistungen (Art 23 bis 25 VO 883/2004; vgl OGH10 ObS 34/20b SSV-NF 34/43). Für Geldleistungen ist jener Staat zuständig, der auch die Kosten bei den Sachleistungen (endgültig) trägt. Das ist nicht zwangsläufig jener Staat, der die Leistung auch erbringt: Das koordinierende Sozialrecht kennt die Sachleistungsaushilfe, bei der ein aushelfender Mitgliedstaat die Leistungen nach seinem Recht erbringt, die dabei entstandenen Kosten aber vom eigentlich zuständigen Mitgliedstaat ersetzt erhält (dazu grundlegend Windisch-Graetz, Europäisches Krankenversicherungsrecht [2003] 165 ff).
Hier im Fall ist Art 24 maßgeblich. Die Bestimmung greift aber nur unter zwei Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen:
Erstens müssen im rentenzahlenden Staat Sachleistungen bei Krankheit zustehen, wenn die Person im rentenzahlenden Staat wohnen würde. Vorausgesetzt werden also generell Sachleistungen bei Krankheit, nicht zwingend Pflegesachleistungen. Fingiert wird allein der Wohnsitz. Würden trotz Wohnsitzes im rentenzahlenden Staat dennoch keine Krankensachleistungen zustehen, ist die Voraussetzung nicht erfüllt.
Insofern ist es zumindest missverständlich, wenn der OGH auch bei Krankenleistungen für Rentner:innen wiederholt auf seine E 10 ObS 83/16b verweist (SSVNF 30/80; so etwa in OGH10 ObS 56/21iDRdA-infas 2021/242, 495; OGH 21.6.2022, 10 ObS 3/22x). Sie behandelt einen Fall, der nach den allgemeinen Kollisionsregeln des Titels II (Art 11 ff) zu beurteilen war und nicht nach den Sonderkollisionsregeln für Rentenbezieher:innen. Nach OGH10 ObS 83/16b sei es für die kollisionsrechtliche Beurteilung unerheblich, ob aus der Zuständigkeit eines Mitgliedstaats ein Leistungsanspruch oder überhaupt eine Versicherung folge. In diesem Zusammenhang ist das auch richtig, bleibt es doch den Mitgliedstaaten selbst überlassen, wie sie ihr System der sozialen Sicherheit ausgestalten (EuGH 70/95, Sodemare, ECLI:EU:C:1997:301, Rn 32). Aus der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates kann nicht dessen Pflicht abgeleitet werden, bestimmte Leistungen zu gewähren. Die Sonderkollisionsregeln des Titels III (wozu auch die Art 23 bis 25 zählen) waren in diesem Fall ausdrücklich nicht einschlägig. Art 23, 24 setzen aber sehr wohl einen konkreten Sachleistungsanspruch voraus. Bestünde ein Wohnsitz, muss auch tatsächlich eine Leistung – nicht bloß dem Grunde nach – zustehen (vgl Janda in Fuchs/Janda [Hrsg], Europäisches Sozialrecht8 [2022] Art 23 VO 883/2004 Rz 5). Die Bestimmungen stellen schließlich nicht bloß auf einen (abstrakten) Anschluss an ein System der sozialen Sicherheit ab, sondern konkret auf einen „Anspruch auf Sachleistungen“.
Der OGH greift damit aber zu kurz: Es ist richtig, dass es auf eine konkrete KV im rentenzahlenden Staat nicht ankommt. Es hätte aber sehr wohl festgestellt werden müssen, ob Sachleistungen zumindest dann zustehen, wenn die Person im rentenzahlenden Staat wohnen würde, was der OGH aber unterlassen hat. Stünden trotz Wohnsitzfiktion keine Sachleistungen zu, wäre hier im Fall Österreich als Wohnsitzmitgliedstaat nach Art 11 Abs 3 lit e zuständig.
Zweitens darf im Wohnmitgliedstaat kein Anspruch auf Sachleistungen bestehen. Hier im Fall war zu klären, ob bei einer Mitversicherung nach § 123 55ASVG doch ein solcher Anspruch vorliegt und Art 24 VO 883/2004 damit unanwendbar wird. Laut OGH bestand trotz einer Mitversicherung nach § 123 ASVG kein solcher Sachleistungsanspruch (Rz 16).
Die Koordinierungsregeln erfassen aber durchaus Familienangehörige mit sogenannten abgeleiteten Ansprüchen (EuGH40/76, Kermaschek, ECLI:EU:C:1976:157, Rn 9; Schreiber in BeckOGK Art 2 VO 883/2004 Rn 5 [Stand 1.9.2019, beck-online. beck.debeck.de]). Abgeleitete Ansprüche wären daher prinzipiell genauso zu berücksichtigen. Nach dem OGH vermittelt die Mitversicherung nicht einmal einen abgeleiteten Anspruch. Leistungen stehen bei der Mitversicherung nämlich nicht den Angehörigen selbst zu, sondern den Versicherten für diese (dazu auch RIS-Justiz RS0113003). Nach dem EuGH sind abgeleitete Rechte aber solche, die Angehörige selbst erworben haben; wenngleich wegen ihrer Eigenschaft als Familienangehörige (EuGHC-308/93, Cabanis-Issarte, ECLI:EU:C:1996:169, Rn 19). Zwar überzeugt damit diese – besonders differenzierte – Betrachtung des OGH, es ist aber nicht auszuschließen, dass der EuGH doch zum entgegengesetzten Ergebnis käme, wenn man ihn denn danach fragt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch eine E des VwGH, der sehr wohl davon ausgeht, dass sich auch aus einer Mitversicherung nach § 123 ASVG abgeleitete Ansprüche ergeben (VwGHRa 2017/08/0019 DRdA-infas 2017/208, 372).
Auch die Annahme eines abgeleiteten Anspruchs muss allerdings nicht zwangsläufig zu einem anderen Ergebnis führen: Bei einer Mitversicherung nach § 56 B-KUVG wird den Angehörigen ein eigener Anspruch auf Leistungen der KV eingeräumt (RIS-Justiz RS0086022). Hier geht der OGH daher sehr wohl von einem abgeleiteten Anspruch iSd VO 883/2004 aus (OGH 21.6.2022, 10 ObS 3/22x). Um einen abgeleiteten Anspruch handelt es sich, weil der Anspruch zwar der Person selbst, aber immer noch wegen ihrer Eigenschaft als Familienangehörige zusteht.
Hier zieht der OGH aber Art 32 Abs 1 Satz 1 VO 883/2004 heran, um Art 24 weiterhin anwenden und die Zuständigkeit Österreichs verneinen zu können. Die Bestimmung sieht eine eigene Kollisionsregel vor, wenn gleichzeitig ein eigenständiger Sachleistungsanspruch (etwa im Zusammenhang mit dem Rentenbezug) und ein abgeleiteter Anspruch (etwa aufgrund der Mitversicherung) aus verschiedenen Mitgliedstaaten zusammentreffen. In diesem Fall geht der eigenständige Sachleistungsanspruch dem abgeleiteten vor.
Stünde nun gleichzeitig ein eigenständiger Sachleistungsanspruch im rentenzahlenden Mitgliedstaat und ein abgeleiteter Sachleistungsanspruch in Österreich als Wohnsitzmitgliedstaat zu, geht der OGH davon aus, dass der österreichische Anspruch hinter jenem des rentenzahlenden Staats zurücktritt. Im Ergebnis liege damit wiederum kein Sachleistungsanspruch in Österreich vor und Art 24 VO 883/2004 könne weiterhin angewendet werden (so OGH10 ObS 3/22x).
Die Lösung des OGH ist aber mit Vorsicht zu genießen: Er geht davon aus, dass Art 32 auch dann Anwendung findet, wenn ein eigenständiger Sachleistungsanspruch im rentenzahlenden Mitgliedstaat nur hypothetisch zusteht. Es spiele keine Rolle, ob die Person dort tatsächlich versichert sei oder ihr eine Leistung gewährt werde (OGH10 ObS 3/22x, Rn 21). Tatsächlich reicht es für Art 32 aber nicht, dass die Person bloß abstrakt dem System der sozialen Sicherheit des rentenzahlenden Mitgliedstaats angeschlossen ist, vielmehr muss ein konkreter Sachleistungsanspruch bestehen (Bieback in Fuchs/Janda [Hrsg], Europäisches Sozialrecht8 Art 32 VO 883/2004 Rz 6; vgl auch Zaglmayer/Pöltl in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [85. Lfg] Art 32 VO 883/2004 Rz 6). Auch in diesem Zusammenhang zieht der OGH seine E 10 ObS 83/16b heran, was aber nicht passt, weil sie die Kollisionsregeln des Titels II betrifft. Art 32 löst nur tatsächlich bestehende Sachleistungskollisionen. Er enthält gerade keine Wohnsitzfiktion, wie etwa Art 24. Art 32 ist also nicht einschlägig, wenn sich ein bloß hypothetischer eigenständiger Anspruch und ein tatsächlicher abgeleiteter Anspruch gegenüberstehen. Andernfalls wäre der Regelungszusammenhang mit Art 24 missachtet, der diesen Fall ja gerade selbst abdeckt; wenn auch nur im Umkehrschluss: Die kumulativen Voraussetzungen der Bestimmung sind in einem solchen Fall eben nicht erfüllt. Die spezielle Rechtsfolge des Art 24 soll dann gerade nicht eintreten, sondern es sind wieder die allgemeinen Kollisionsregeln des Titels II maßgeblich (etwa der Wohnsitzmitgliedstaat nach Art 11 Abs 3 lit e).
Im Gegensatz dazu prüft der VwGH bei Anwendung des Art 32 zutreffend, ob auch tatsächlich Leistungen im anderen Mitgliedstaat zustehen (VwGH 23.6.2017, Ra 2017/08/0019). Im Ergebnis wäre Österreich daher in Fällen der Mitversicherung nach dem B-KUVG sehr wohl zuständig, wenn im rentenzahlenden Staat keine konkreten Sachleistungen zustehen.
Eine weitere Kollisionsnorm enthält Art 25. Stehen den Rentenbezieher:innen auch im Wohnsitzmitgliedstaat Sachleistungen zu, weil der Wohnsitzmitgliedstaat in Form eines Einwohner:innensystems organsiert ist, in dem Leistungen unabhängig von einer Versicherung oder Erwerbstätigkeit zustehen (häufig sogenannte Beveridge-Systeme). In diesem Fall ist der rentenzahlende Staat zuständig.
Anders verhält es sich hingegen, wenn Sachleistungsansprüche aus dem rentenzahlenden Mitgliedstaat mit Sachleistungsansprüchen aufgrund einer Erwerbstätigkeit zusammentreffen. In diesem Fall sind die Sonderkollisionsnormen für Rentenbezieher:innen unanwendbar und die allgemeinen Krankenleistungsregeln der Art 17 bis 21 maßgeblich (Art 31). Damit haben die Leistungen aus einer Beschäftigung wieder Vorrang.
Letztlich ist der E 10 ObS 202/21k des OGH nur eingeschränkt zuzustimmen: Der OGH macht es sich stellenweise zu leicht. Dass etwa der konkrete Leistungsanspruch keine Rolle spiele, mag auf den Titel II der VO 883/2004 zutreffen, kann aber nicht unbesehen auf die Bestimmung des 56 Titels III übertragen werden. Dies gilt schon für den Art 24, der ausschließlich den Wohnsitz fingiert, aber ganz besonders für den Art 32. Den Rechtsanwender:innen wird damit nicht nur die Auslegung der recht verworrenen Koordinierungsregeln abverlangt, zusätzlich müssen in einem vorgelagerten Schritt auch fremde Sozialrechtsordnungen einer näheren Prüfung unterzogen werden.