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Insolvenz-Entgelt bei Hälfte der Arbeitsleistung im Ausland, sofern Arbeitsschwerpunkt und gewöhnlicher Arbeitsort im Inland

MARGITMADER
Art 13 Abs 1 lit a VO (EG) 833/2004;
Art 9 Abs 1 InsolvenzRL 2008/94/EG

Der Kl ist seit 1.7.2017 als Leiter der strategischen Geschäftsentwicklung bei der in Graz ansässigen Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Die Insolvenzschuldnerin bietet auch in Deutschland Leistungen an. Dafür beschäftigt sie dort einen freiberuflichen Vertriebsingenieur. Weitere Mitarbeiter werden nicht beschäftigt. Der Arbeitsschwerpunkt und der gewöhnliche Arbeitsort des Kl liegen laut seinem Dienstvertrag in Österreich. Er leitet zwei Abteilungen und trägt die Verantwortung für die Mitarbeiter des Büros in Graz. Tatsächlich arbeitet der Kl abwechselnd jeweils eine Woche im Büro in Graz und eine Woche in seinem Homeoffice in Deutschland, wo sich auch sein Hauptwohnsitz befindet. Die Arbeit, die der Kl im Homeoffice verrichtet, unterscheidet sich nicht signifikant von seiner Tätigkeit am Firmensitz. Der Kl verfügt über eine Bescheinigung gem Art 13 Abs 1 lit a VO (EG) 833/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (A1-Bescheinigung), wonach er der SV in Deutschland unterliegt. Nachdem über das Vermögen des AG ein Insolvenzverfahren eröffnet worden war, beantragte der Kl seine offenen Forderungen sowohl als Insolvenz-Entgelt bei der IEF-Service GmbH als auch bei der deutschen Garantieeinrichtung. Das Verfahren auf Insolvenzgeld in Deutschland ist offen. Die IEF-Service GmbH lehnte den Antrag des Kl auf Gewährung von Insolvenz-Entgelt mangels inländischer Sozialversicherungspflicht ab.

Der Kl brachte in seiner dagegen gerichteten Klage vor, die Bekl sei von einer veralteten Rechtslage ausgegangen. Der Anspruch auf Insolvenz-Entgelt sei von den Verordnungen VO (EG) 833/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sowie VO (EG) 987/2009 nicht erfasst. Zur Anwendung komme vielmehr die Insolvenz-Richtlinie (InsolvenzRL, neue Fassung) RL 2008/94/EG. Daraus ergebe sich, dass zur Bestimmung der zuständigen Garantieeinrichtung auf das zusätzliche Kriterium des Ortes der Tätigkeit des AN nur für den Fall, dass der AG mehrere Niederlassungen in verschiedenen Mitgliedstaaten habe, abzustellen sei. Wenn ein Unternehmen – wie die Schuldnerin – über keine weitere Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat verfüge, sei grundsätzlich jene Garantieeinrichtung zuständig, in deren Bereich sich der Unternehmenssitz befinde und das Insolvenzverfahren eröffnet worden sei. An den gewöhnlichen Arbeitsort sei nur dann anzuknüpfen, wenn ein Unternehmen im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig sei und sich die Tätigkeit in einer Niederlassung manifestiere. Maßgeblich sei daher der vereinbarte Arbeitsort in Graz, an dem sich auch der gewöhnliche Arbeitsort des Kl befinde. Der Umstand, dass die SV des AN in einem anderen Staat als jenem der Verfahrenseröffnung bestehe, ändere nichts an der Zuständigkeit der Bekl. 237Die Bestimmung des § 1 Abs 1 IESG, die vorsehe, dass eine Pflichtversicherung in Österreich bestehen müsse, komme – soweit sie Art 9 der InsolvenzRL widerspreche – nicht zur Anwendung.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung.

Die Frage der Anspruchsberechtigung sei gem § 1 IESG selbstständig und unabhängig von der tatsächlichen Versicherungszuständigkeit und Beitragsentrichtung zu prüfen. Nach den Sachverhaltsfeststellungen befinde sich der Tätigkeitsschwerpunkt des Kl eindeutig in Österreich. Es lägen daher ungeachtet der deutschen A1-Bescheinigung die grundsätzlichen Voraussetzungen für eine inländische Versicherungspflicht vor. Die Leistungspflicht der Bekl müsse daher bejaht werden. Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision mangels einschlägiger gefestigter Rsp des OGH für zulässig.

Der OGH hatte das Revisionsverfahren zunächst ausgesetzt und ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gestellt. Fraglich war dabei insb, inwieweit nach dem vorliegenden Sachverhalt von einer Tätigkeit des AG im Hoheitsgebiet zweier Mitgliedstaaten auszugehen ist und in welchem Verhältnis die dem Kl aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO (EG) 833/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung, die ihm eine Zugehörigkeit zum deutschen Sozialversicherungssystem bestätigt, zu den Kriterien für die Zuständigkeit der Sicherungseinrichtung nach der InsolvenzRL 2008/94/EG steht.

Der EuGH hat die ihm gestellten Vorlagefragen mit Urteil vom 16.2.2023, C-710/21, zusammengefasst wie folgt beantwortet:

Art 9 Abs 1 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.10.2008 über den Schutz der AN bei Zahlungsunfähigkeit des AG (InsolvenzRL 2008/94/EG) ist dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung des Mitgliedsstaats, dessen Garantieeinrichtung für die Befriedigung nicht erfüllter Arbeitnehmeransprüche zuständig ist, davon auszugehen ist, dass der AG, der zahlungsunfähig ist, nicht im Sinne dieser Bestimmung im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, wenn nach dem Arbeitsvertrag des betreffenden AN dessen Arbeitsschwerpunkt und gewöhnlicher Arbeitsort im Sitzmitgliedsstaat des AG liegen, der AN aber seine Aufgaben zu einem ebenso großen Teil seiner Arbeitszeit aus der Ferne von einem anderen Mitgliedsstaat aus verrichtet, in dem sich sein Hauptwohnsitz befindet.

Aus der Sicht des EuGH liegt somit keine Tätigkeit des AG in mehreren Mitgliedstaaten vor. Der EuGH stellt in seiner Entscheidungsbegründung (Rn 43) ausdrücklich klar, dass eine derartige Beschäftigung auch dann keine dauerhafte Präsenz des AG im anderen Mitgliedstaat iSd InsolvenzRL begründet, wenn dort neben dem Kl noch ein weiterer freiberuflicher Vertriebsmitarbeiter für den AG tätig ist.

Diese Schlussfolgerung werde auch durch die Ausstellung einer Bescheinigung iSd Art 19 Abs 2 der VO (EG) 987/2009 (A1-Bescheinigung) – die ihre Bindungswirkung lediglich in Bezug auf jene Verpflichtungen entfaltet, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit ergeben – nicht in Frage gestellt (Rn 45).

Das Revisionsverfahren war daher fortzusetzen. Nach der nun vorliegenden Entscheidung war die Revision zwar zulässig, jedoch nicht berechtigt.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen – deren Erwägungen bereits mit den Ausführungen des EuGH im Einklang stehen – erwiesen sich als zutreffend. Der Revision der Bekl war daher nicht Folge zu geben.