Maßnahmen der Arbeitsmarktaktivierung und Koordinationsrecht*
Maßnahmen der Arbeitsmarktaktivierung und Koordinationsrecht*
Von der passiven zur aktiven Arbeitsmarktpolitik
Koordinierungsrechtliche Behandlung
Begriff der Leistungen bei Arbeitslosigkeit
Rechtsprechung des EuGH
Koordinierungsregeln
Zuständiger Staat/Träger
Anrechnung und Zusammenrechnung von Zeiten (Art 61)
Grenzgänger (Art 65)
Leistungsinanspruchnahme allein aufgrund nationalen Rechts
Export
In der zweiten Hälfte der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts kam es zu einer Neuorientierung staatlicher Intervention in den Arbeitsmarkt. Allgemein werden die neuen Konzepte unter dem Begriff der aktiven Arbeitsmarktpolitik zusammengefasst.* Man könnte das politische Konzept der früheren Jahre als passive Arbeitsmarktpolitik bezeichnen.* Gelegentlich wird von passiven Leistungen bei Arbeitslosigkeit gesprochen.* Kennzeichnend für das überkommene Modell war die Kompensation des durch Arbeitslosigkeit ausgefallenen Arbeitseinkommens, die tatbestandlich an das Fehlen eines Arbeitsverhältnisses und die Verfügbarkeit des Antragstellers anknüpfte. Demgegenüber setzt die aktive Arbeitsmarktpolitik auf eine stärkere Eigenverantwortlichkeit des Arbeitslosen. Bloße Verfügbarkeit gegenüber den Trägern der Arbeitsförderung soll nicht ausreichen. Vielmehr soll ein wesentliches Element der Begründung von Arbeitslosigkeit die Eigenaktivität des Arbeitslosen darstellen.*
Parallel zu den Eigenaktivitäten des Arbeitslosen entsteht eine besondere Verantwortung der Arbeitsverwaltung, durch Förderung der Beschäftigungsfähigkeit (employability) des Arbeitslosen dessen Integration in den Arbeitsmarkt zu betreiben. Wenn sie dieser Strategie folgen wollen, müssen Mitgliedstaaten ein Bündel von Maßnahmen vorsehen, rechtstechnisch gesprochen: Sach- und Dienstleistungen, die geeignet sind, die Qualifikation des Arbeitslosen und damit die Chancen zur (Wieder-)Erlangung eines Arbeitsplatzes zu verbessern. Dass eine solche Strategie sich europaweit Bahn brechen konnte, ist vor allem den Bemühungen der europäischen Beschäftigungspolitik zu verdanken. Die zunehmende Massenarbeitslosigkeit in Europa hat die Mitgliedstaaten3 der EU in den 90er-Jahren veranlasst, einen neuen Titel VIII „Beschäftigung“ in den Vertrag von Amsterdam aufzunehmen (Art 125-130 EG). Seither haben beschäftigungspolitische Leitlinien (Art 128 EG) versucht, die Arbeitsmarktpolitik der Mitgliedstaaten zu beeinflussen. Das Modell der europäischen Beschäftigungspolitik ist auch durch den Vertrag von Lissabon übernommen worden. In den Richtlinien werden aktive und präventive Maßnahmen für Arbeitslose und Nichterwerbspersonen eingefordert.* Dies verlangt, die Bedürfnisse aller Arbeitsuchenden in einem Frühstadium ihrer Arbeitslosigkeit zu ermitteln und ihnen Dienstleistungen wie Beratung, Unterstützung bei der Arbeitssuche und individuelle Aktionspläne zur Verfügung zu stellen. Auf der Grundlage des genannten ermittelten Bedarfs müssen sie den Arbeitsuchenden die Möglichkeit bieten, an wirksamen und effizienten Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Beschäftigungsfähigkeit und ihrer Eingliederungschancen teilzunehmen, wobei besonderes Augenmerk denjenigen gelten sollte, die auf dem Arbeitsmarkt mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind.
Ein weiterer bedeutsamer Ideenstrang ist den Entwicklungen im Vereinigten Königreich nach dem Regierungswechsel 1997 zuzuschreiben. In Anlehnung an die Reformära des amerikanischen Präsidenten Roosevelt wurde der neue Welfare-Approach auf den Titel New Deal getauft.* Plakativ ist der Wechsel zur neuen Politik in der Ersetzung der Frage „What money can we pay you?“ durch die Frage „How can we help you become more independent?“* Was die arbeitsmarktpolitische Komponente dieser neuen sozialpolitischen Ausrichtung anbelangt, wird das Hauptaugenmerk auf die aktive Rolle der früher mit passiven Leistungen bedienten Betroffenen gerichtet. Dies schlägt sich notgedrungen in der Ausgestaltung der Voraussetzungen von Leistungen an Arbeitslose nieder. Dies zeigt sich deutlich an der beitragsunabhängigen, einkommensabhängigen Arbeitslosenunterstützung. Gegenüber den üblichen Kriterien der Verfügbarkeit zum Bezug von Leistungen bei Arbeitslosigkeit treten jetzt ganz entscheidend zwei neue Elemente hinzu. Der Antragsteller muss sich selbst aktiv um Beschäftigung bemühen und er muss mit der zuständigen Behörde eine Vereinbarung abgeschlossen haben, in der die einzelnen Schritte des Wiedereintritts in das Arbeitsleben festgelegt sind. Gleichzeitig richtete die Regierung zahlreiche Programme ein, um durch Maßnahmen der Aus- und Fortbildung und der Schaffung von Arbeitsgelegenheiten diesen Prozess zu begleiten.*
Wenn wir uns nach dem Begriff der Leistungen bei Arbeitslosigkeit iSv Art 3 Abs 1 lit h VO 883/2004 und in der Rsp des EuGH* umsehen, finden wir in näheren Entscheidungen die Aussage, dass eine Leistung dann dem Risiko der Arbeitslosigkeit zugeordnet ist, wenn sie den auf Grund der Arbeitslosigkeit verlorenen Arbeitslohn ersetzen soll und deshalb für den Unterhalt des arbeitslosen AN bestimmt ist.* Diese Aussage treffen wir in zahlreichen Entscheidungen aus den 90er-Jahren an, aber ebenso in bekannten Urteilen in den Jahren 2006 und 2007, wenn wir an die Entscheidungen de Cuyper* und Petersen* denken. Es ist also ein klarer bias in Richtung Geldleistungen erkennbar.
Diese Definition hilft uns sicherlich nicht bei den typischen Leistungen aktiver Arbeitsmarktpolitik weiter, wenn wir unter „typisch“ diejenigen Leistungen verstehen, bei denen der betroffene Arbeitslose an einer, ich sage einmal ganz untechnisch und im weitesten Sinne Qualifizierungsmaßnahme teilnimmt, deren Kosten von der jeweils zuständigen Institution getragen werden. Andererseits fehlt eine Legaldefinition aktiver Maßnahmen. Zunächst einmal hat die Feststellung zu erfolgen, ob es sich um Leistungen der sozialen Sicherheit handelt. Hierbei kann man auf die übliche vom EuGH immer wieder herangezogene Formulierung zurückgreifen, wonach eine Leistung dann als Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden kann, wenn sie erstens den Empfängern ohne jede auf Ermessen beruhende individuelle Bedürftigkeitsprüfung auf Grund eines gesetzlichen Tatbestands gewährt wird und sich zweitens auf eines der in Art 3 Abs 1 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht.* Das erste Merkmal dient der Abgrenzung von Leistungen der sozialen Fürsorge iSd Art 3 Abs 5 lit a) VO 883/2004. Die Risikobezogenheit der aktiven Maßnahmen dürfte außer Streit stehen. Dass solche Maßnahmen bzw Leistungen häufig beitragsunabhängig gewährt werden, ist im Hinblick auf Art 3 Abs 2 VO 883/2004 ohne Belang.
Schwieriger ist die Abgrenzung dieser aktiven Maßnahmen von Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit. Wenn man zu einer zutreffenden Einordnung als Geld- oder Sachleistung gelangen will, empfiehlt es sich, vorhandene Definitionen von Sach- und Dienstleistungen in anderen Bereichen zum Ausgangspunkt der Betrachtung zu machen. Wesentliche Hilfe leistet dabei etwa Art 1 lit va) VO 883/2004, eine Vorschrift, welche die Sachleistungen bei Krankheit, Mutterschaft und Vaterschaft definiert. Es sind dies Sachleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehen sind und die den Zweck verfolgen, die ärztliche Behandlung und die diese Behandlung ergänzenden Produkte und Dienstleistungen zu erbringen bzw zur Verfügung zu stellen oder direkt zu bezahlen oder die diesbezüglichen Kosten zu erstatten. Diese Definition gilt auch für die Sachleistung bei Pflegebedürftigkeit4 und bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten.* Hieraus ist klar erkennbar, dass der Verordnungsgeber für die definitorische Klärung den Aspekt der Finanzierung von Sach- und Dienstleistungskosten als ausschlaggebend ansieht, Einkommensdefizite und Unterhaltsfragen, die durch die Verwirklichung des Risikos Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit verursacht sind, aber außer Betracht bleiben.
Wir können dieses Definitionsmodell reibungslos auch für Leistungen bei Arbeitslosigkeit und speziell auch für Leistungen im Rahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik übertragen. Auch hier werden je nach Maßnahmentyp dem Einzelnen Sachen zur Verfügung gestellt, zB Lernmaterialien, und wird Unterricht und Training vermittelt, deren Kosten die Träger übernehmen. Diese Maßnahmen sind risikoorientiert, sie zielen auf die Überwindung des Zustandes von Arbeitslosigkeit.
Wir können uns weiterhin auch auf eine sehr spezifische definitorische Klärung des Unterschieds von Geldleistungen und Sach- bzw Dienstleistungen in der Rsp des EuGH zu Leistungen bei Pflegebedürftigkeit berufen. Hierzu verweise ich auf die definitorische Klärung in der Rs Molenaar.* In dieser E war der Gerichtshof veranlasst, Geldleistungen und Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit in ihrem Unterschied herauszuarbeiten. * Und klar erkennbar ist die Zielrichtung. Dort wo Leistungen benötigt werden, um einen ganz spezifischen Bedarf der Pflegeperson abzudecken, zB die Kosten für die ärztliche Behandlung, Pflegehilfsmittel und Dienstleistungen gegenüber dem Pflegebedürftigen, handelt es sich eindeutig um Sachleistungen. Dagegen zielen die Geldleistungen auf einen Beitrag, um den täglichen Lebensunterhalt wenigstens teilweise zu ersetzen. Dieses Modell hat nunmehr Eingang in die Legaldefinition des Begriffs der Sachleistungen in der VO 883/2004 gefunden.
Wir können deshalb auch bei den Leistungen bei Arbeitslosigkeit Geldleistungen, iSv Einkommensersatzleistungen, und die aktivierenden Maßnahmen unterscheiden, also Sachleistungen, welche sachliche Mittel (Materialien) oder Dienstleistungen (Unterricht) beinhalten, um die Integration in den und die Attraktivität des Einzelnen auf dem Arbeitsmarkt zu fördern oder – im EU-Jargon – einen Beitrag zur employability zu leisten. Etwas anderes hätte zu gelten für Leistungen, die begleitend zu den Qualifizierungsmaßnahmen erfolgen und die das Ziel haben, Arbeitseinkommen zu ersetzen bzw den Unterhalt sicherzustellen.
Die Unterscheidung beider Leistungstypen ist kein akademisches Begriffsspiel. Vielmehr benötigen wir klare Zuordnungen, weil auch einzelnen Vorschriften der Koordinierung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit im 6. Kapitel der VO 883/2004 die Unterscheidung in Geld- und Sachleistungen zu Grunde liegt.
In dem hier zu erörternden Kontext gehört nun auch ein Hinweis auf das ihnen alle bekannte Urteil in der Rs Campana.* In aller Kürze rufe ich den Sachverhalt in Erinnerung. Kl war ein italienischer Staatsbürger, der in der Bundesrepublik Deutschland im Fernsehreparaturgewerbe tätig war. Nachdem er den Beruf des Radio- und Fernsehtechnikers einige Jahre in Italien ausgeübt hatte, wurde er wieder in der Bundesrepublik Deutschland tätig. Er nahm an einem Vorbereitungslehrgang für die Meisterprüfung im Radio- und Fernsehhandwerk teil, legte auch die Meisterprüfung ab und verlangte von dem deutschen zuständigen Träger, damals noch die Bundesanstalt für Arbeit, die Übernahme der hierfür anfallenden Kosten sowie die Gewährung von Unterhaltsgeld.
Die Ablehnung dieses Antrags war Gegenstand eines Verfahrens, das schließlich das Bundessozialgericht erreichte.* Es ging zum einen um die Frage der Anrechnung von Vorversicherungszeiten, diese Frage lasse ich in diesem Zusammenhang beiseite. Ganz wesentlich konzentrierte sich die Vorlage an den EuGH auf den Aspekt, ob eine Leistungsgewährung der beantragten Art als eine Leistung bei Arbeitslosigkeit angesehen werden kann, wenn der Betroffene gar nicht arbeitslos ist. Dass es sich schon damals um eine sehr aktuelle Fragestellung handelte, hat nicht zuletzt der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen betont, mit dem Hinweis, dass immer mehr Staaten beginnen, präventiv Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen.* Diese Aktualität gilt umso mehr in Zeiten einer forciert proklamierten und betriebenen aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die rechtlichen Voraussetzungen oder besser gesagt die Hürden, die zu nehmen waren, um hierbei zu einer Subsumtion unter den Begriff der Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu gelangen, waren aber beträchtlich. Schon begrifflich ist es schwierig, Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu bejahen, obwohl der Betroffene gar nicht arbeitslos ist. Die Bundesregierung hatte ferner auf die Besonderheiten bei Berufsbildungsmaßnahmen hingewiesen.* Leistungen zur Förderung der beruflichen Fortbildung dienten auch anderen Zwecken als der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, nämlich insb der Verbesserung der persönlichen Verhältnisse der Leistungsempfänger oder bestimmten spezifischen Bedürfnissen der Wirtschaft. Außerdem sei ein Ausufern zu befürchten, da letztlich jede Bildungsmaßnahme in einer immer anspruchsvoller werdenden Arbeitswelt das Risiko der Arbeitslosigkeit verringere, damit aber schon immer auch gleichzeitig eine Leistung bei Arbeitslosigkeit vorliege.
Sowohl der Generalanwalt wie auch letztlich dann der Gerichtshof selbst haben diese Argumentation nicht einfach abgetan, sondern versucht, einen Kompromiss zu finden. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Einwände der Bundesregierung hat der Gerichtshof Leistungen zur Förderung der beruflichen Bildung nur dann als Leistungen bei Arbeitslosigkeit angesehen, wenn sie entweder bereits arbeitslose AN oder aber solche AN betreffen, die zwar noch in Arbeit stehen, für die aber eine konkrete Gefahr, arbeitslos zu werden, bestehe. Und der Gerichtshof überlässt es den nationalen Behörden, unter der Kontrolle der zuständigen Gerichte in jedem Einzelfall zu beurteilen, ob für den in Arbeit stehenden AN eine konkrete Gefahr, arbeitslos zu werden, besteht.*
Über dieses Urteil ist viel geschrieben worden, ablehnender und zustimmender Natur.* Die befürchteten5 Probleme wegen der Ungewissheit in der Anwendung hat es aber offensichtlich nicht gegeben, jedenfalls ist kein weiterer Fall bekannt geworden, in dem die Problematik eine zentrale Rolle gespielt hätte. Ich möchte im Rahmen dieser Veranstaltung die Frage in den Raum stellen, ob die in der Entscheidung des Gerichtshofs vorgenommene Einschränkung konkret drohender Arbeitslosigkeit noch aufrechterhalten werden soll. Hat nicht ein grundlegender Wandel in der Arbeitsmarktpolitik stattgefunden, der seinen Niederschlag im Recht der Mitgliedstaaten gefunden hat? Ferner postulieren die Dokumente der europäischen Sozialpolitik die Notwendigkeit dieses Wandels. Dann ist es naheliegend und folgerichtig, dem auch bei der Bestimmung des Begriffs der Leistungen bei Arbeitslosigkeit Rechnung zu tragen und unter ihm auch Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung zu subsumieren.
Wenn es sich bei den Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik um Leistungen bei Arbeitslosigkeit iSv Art 3 Abs 1 h) handelt, greifen die Mechanismen der Koordinierung nach dem 6. Kapitel der VO 883/2004 (Art 61 ff).*
Zuständiger Staat und dessen Träger ist grundsätzlich der Mitgliedstaat der Beschäftigung bzw selbständigen Erwerbstätigkeit.*
Soweit der geltend gemachte Anspruch von der Zurücklegung bestimmter Zeiten (Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten, Zeiten selbständiger Erwerbstätigkeit) abhängig ist, muss nach dem Schema des Art 61 Abs 1 VO 883/2004 verfahren werden.* Eine Zusammenrechnung von Zeiten kommt nur unter den Voraussetzungen des Art 61 Abs 2 in Betracht.* Die relevanten Zeiten müssen also unmittelbar zuvor nach den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistung beantragt wird, zurückgelegt sein.
Bei der Geltendmachung von Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik durch Grenzgänger stoßen wir auf eine erste große Schwierigkeit. Zum einen sind manche Bestimmungen des Art 65 VO 883/2004 eindeutig nur für Geldleistungen geeignet. Dies gilt etwa für Art 65 Abs 5 lit b VO 883/2004. Die eigentliche Schwierigkeit resultiert aber aus den Bestimmungen über die Verfügbarkeit des Arbeitslosen. Der echte Grenzgänger muss sich an die Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats wenden, er kann sich zusätzlich aber auch der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats der letzten Beschäftigung zur Verfügung stellen.* Nach Abs 3 der Vorschrift muss er dann jeweils den Rechtsvorschriften beider Mitgliedstaaten nachkommen. Nehmen wir das Beispiel des in Aachen wohnenden, in Lüttich arbeitenden Grenzgängers. Primärer Melde- und Ansprechpartner ist die Bundesagentur in Aachen, er kann sich aber auch in Lüttich der dortigen Stelle zur Verfügung stellen.
Welchen Inhalt hat das Tatbestandsmerkmal „zur Verfügung stellen“ in Art 65 VO 883/2004? Üblicherweise denkt man dabei an die vom jeweiligen Träger kontrollierte Arbeitssuche. Schließt Zurverfügungstellung aber auch Ansprüche ein, Ansprüche auf Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik in unserem Falle? Soweit es sich um den originär zuständigen Träger handelt, in unserem Falle Aachen, besteht kein Zweifel, dass das deutsche Arbeitsmarktinstrumentarium uneingeschränkt zur Verfügung steht. Wie ist es aber in Lüttich? Dort kann er sich zusätzlich als Arbeitsuchender melden, muss dann auch den in diesem Mitgliedstaat geltenden Verpflichtungen nachkommen. Mit Verpflichtungen sind allemal solche gemeint, die sich unmittelbar auf die Arbeitssuche beziehen. Dabei kann es zu Überschneidungen zwischen Verpflichtungen im Wohnmitgliedstaat und im Beschäftigungsstaat kommen. Deshalb sieht Art 56 Abs 2 VO 987/2009 vor, dass in einem solchen Falle die Pflichten des Arbeitslosen im Wohnmitgliedstaat und/oder seine dort zur Arbeitssuche zu unternehmenden Schritte Vorrang haben. Auch hier sieht man wieder deutlich die Konzentration auf die Arbeitssuche. Beinhaltet dies aber auch einen Leistungsanspruch im Beschäftigungsstaat? Ich neige dazu, dies zu verneinen, jedenfalls de lege lata. Durch die in Art 65 VO 883/2004 enthaltene zusätzliche Möglichkeit, sich dem Beschäftigungsstaat zur Verfügung zu stellen, kann nicht das Leistungsspektrum des Beschäftigungsstaates eröffnet werden. Dagegen spricht zum einen der Wortlaut des Art 65 Abs 3 VO 883/2004, in dem nur von Verpflichtungen des Arbeitslosen die Rede ist. Zum anderen6 würde die Bestimmung in eine Art Kollisionsnorm umgedeutet werden, eine Konsequenz, die systemwidrig wäre. Ich neige also der Auffassung zu, dass Art 65 VO 883/2004 und die darin enthaltene Möglichkeit, sich wahlweise einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat zur Verfügung zu stellen, keine Leistungsansprüche eröffnet.
Wir müssen aber unabhängig von Art 65 VO 883/2004 die Frage aufwerfen, ob und inwieweit jenseits der Bestimmung des kollisionsrechtlich zuständigen Leistungsträgers Leistungen allein auf Grund nationalen Rechts erbracht werden können oder müssen.* Die Relevanz dieses Fragenkreises ergibt sich insb daraus, dass in den einzelnen Mitgliedstaaten arbeitsmarktpolitische Instrumente und Maßnahmen und deren Gewährung nicht immer an die Zurücklegung bestimmter Zeiten gebunden sind. Es mag zB die bloße Eignung und Berufsperspektive des betroffenen Arbeitslosen ausreichen. Kann sich ein Arbeitsloser in diesem Falle auch an den koordinationsrechtlich nicht zuständigen Staat wenden. Bis vor einigen Jahren hätte man diese Frage ohne Weiteres verneinen können. Dies hat sich aber durch die Entscheidungen in den Rs Bosmann* und noch stärker in der Rs Hudzinski* geändert.
In diesen beiden Urteilen hat ja der Gerichtshof die Frage aufgeworfen und beantwortet, ob das Unionsrecht der Möglichkeit der Gewährung einer Leistung durch den unzuständigen Staat nach dessen Recht im Wege steht. Er hat zu dieser Frage Art 48 AEUV bemüht, der die Freizügigkeit der AN erleichtern soll und ua impliziert, dass Wander-AN nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben. Außerdem sollen die Vorschriften der Koordinierungsverordnungen als Bestandteil der Freizügigkeit von Personen betrachtet werden und dienten zur Verbesserung von deren Lebensstandard und Arbeitsbedingungen.* Im Lichte dieser Erwägungen hat der Gerichtshof im Urteil Bosmann die Befugnis des für die Erbringung von Familienleistungen unzuständigen Wohnmitgliedstaates bejaht, dennoch Familienleistungen nach seinem Recht zu gewähren. Genau diese Grundsätze greift der Gerichtshof in dem Urteil Hudzinski auf und entwickelt sie fort. Er sagt, dass man über das Ziel der Koordinierungsverordnung hinausginge und die Zwecke und den Rahmen von Art 48 AEUV außer Betracht ließe, legte man die Verordnung so aus, dass sie einem Mitgliedstaat verbiete, AN sowie deren Familienangehörigen einen weitergehenden sozialen Schutz zu gewähren, als sich aus der Anwendung dieser Verordnung ergibt.* Die unionsrechtlichen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit seien insb in Anbetracht der mit ihnen verfolgten Ziele so anzuwenden, dass sie dem Wander-AN oder dem ihm gegenüber Berechtigten nicht Leistungen aberkennen, die allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats gewährt werden.*
Man kann den Sachverhalt in der Rs Hudzinski/Wawrzyniak leicht umformulieren und daraus einen Fall von Leistungen bei Arbeitslosigkeit machen. Der entsandte polnische AN W wird arbeitslos. Kollisionsrechtlich ist für ihn ein polnischer Träger zuständig. Kann er aber eine aktive Arbeitsförderungsmaßnahme auch von einem deutschen Träger fordern, wenn er die nach deutschem Recht geforderten Voraussetzungen erfüllt? Folgt man dem Duktus der Argumentation in der vorbezeichneten Entscheidung des Gerichtshofs, so wird man den Anspruch nicht versagen können. Jedenfalls dürfte die Staatsangehörigkeit dabei wegen Art 18 und 21 AEUV keine Rolle spielen.
Im Folgenden geht es um Konstellationen und Fragestellungen, bei denen der Arbeitslose Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik nicht im zuständigen Staat, in dem er Ansprüche auf Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik hat, sondern in einem anderen Staat durchführen will.* Nehmen wir einen französischen Staatsangehörigen, der seine Arbeitssuche in Deutschland vornehmen will, mit dem Ziel, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, zB aus familiären Gründen (Partnerschaft, beabsichtigte Eheschließung etc). Und nehmen wir an, er benötigt zur Verbesserung seiner Vermittlungschancen die Durchführung einer bestimmten qualifizierenden Maßnahme, die nach französischem Recht auf französischem Gebiet förderungsfähig wäre. Der Betreffende würde aber eine vergleichbare Maßnahme lieber in Deutschland durchführen lassen. Ist ein solcher Export möglich? Der Begriff Export passt als solcher nicht. Bei Sach- und Dienstleistungen kennt die Koordinierungsverordnung grundsätzlich keinen Export, sondern das, was wir in der deutschen Terminologie „Sachleistungsaushilfe“ nennen. Regeln hierzu gibt es aber im Kapitel über Leistungen bei Arbeitslosigkeit nicht. Man könnte sich deshalb Gedanken machen, ob hier nicht Art 64 VO 883/2004 weiterhelfen könnte. Soweit die Geldleistung bei Arbeitslosigkeit betroffen ist, läuft alles in den gewohnten Bahnen dieser Vorschrift. Für Maßnahmen der Arbeitsmarktaktivierung scheidet aber eine direkte Anwendung aus, denn expressis verbis ist die Vorschrift auf Geldleistungen zugeschnitten. Kann man sich auf einen Analogieschluss einlassen? Ich will jetzt hier nicht eine intensive Diskussion über7 die Voraussetzungen einer Analogie generell und ihre besondere Anwendbarkeit auf die hier zu diskutierende Fallgestaltung anstellen. Ich will aber nicht verhehlen, dass ich zu einer ablehnenden Auffassung neige. Angesichts klarer Regeln über Dienstleistungserbringung in der Koordinierungsverordnung und angesichts der Kenntnis aktiver Arbeitsmarktpolitik in Mitgliedstaaten hätte der Verordnungsgeber 2004 allemal eine Regelung finden können, wenn er dies gewollt hätte.
Auf der Basis des geltenden Rechts kann eine Lösung dieses Problems schwerlich gefunden werden. In gewisser Weise ähnelt die Problematik strukturell jener der Auslandskrankenbehandlung. Nach dem Verständnis des Verordnungsgebers ist die Auslandskrankenbehandlung von einer Genehmigung des Trägers abhängig, wobei die in Art 20 VO 883/2004 genannten Voraussetzungen bestehen müssen. Bekanntlich hat aber der EuGH eine weitere Anspruchsgrundlage durch den Rekurs auf das Recht der Dienstleistungsfreiheit zur Verfügung gestellt.* Ob der Gerichtshof, wenn ihm eine entsprechende Frage gestellt würde, einen ähnlichen Lösungsweg befürworten würde, ist fraglich. Zwar hat der EuGH auch die Tätigkeit der Arbeitsvermittlung als in den Anwendungsbereich des Art 56 AEUV fallend betrachtet.* Diese Entscheidung betraf jedoch den Dienstleistenden, der eine Vermittlung ins Ausland tätigte. Die Durchführung aktiver Maßnahmen und damit der Realisierung eines inländischen Anspruchs auf eine solche Maßnahme stellt indes substanziell etwas Anderes dar. Diese Maßnahmen, die nach inländischem Recht begründet sind, sind sehr häufig in ihrer Ausgestaltung mit dem nationalen Arbeitsmarkt verknüpft. Außerdem sind diese Maßnahmen oft der Budgetierung unterworfen. Auch wenn man davon ausgehen wollte, dass die Dienstleistungsfreiheit das Recht des Arbeitslosen auf Durchführung der Maßnahme im Ausland gibt, wäre immer noch zu überlegen, ob dies nur auf der Basis einer Genehmigung gelten kann. Insoweit scheint es durchaus nicht ausgeschlossen, dass der EuGH Gründe akzeptieren würde, die etwa auch bei der stationären Auslandskrankenbehandlung die Voraussetzung einer Genehmigung eine gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit darstellen könnte.* Die Klärung dieses Fragenkreises ist beim gegenwärtigen Stand des Rechts und der Diskussion noch nicht möglich. Hierzu scheint es geboten, dass das Bemühen um eine Lösung zunächst eine Verständigung der Mitgliedstaaten voraussetzen würde. Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass zum Teil nach nationalem Recht Vorkehrungen für die Durchführung von Maßnahmen im Ausland getroffen sind. So sieht zB das deutsche Recht die Förderung einer Berufsausbildung im Ausland unter bestimmten Voraussetzungen vor.*8