Das Streikrecht in der Daseinsvorsorge in Italien
Das Streikrecht in der Daseinsvorsorge in Italien
Um die umfassende Thematik, die dieser Beitrag behandelt, zu verstehen, sind einige einleitende Bemerkungen erforderlich. Diese beziehen sich auf die rechtliche Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses, die den Streikenden an seinen AG bindet und die rechtlichen Folgen, die das Arbeitsverhältnis mit sich bringt.
Dies erklärt auch, weshalb es falsch wäre, in Italien gegenwärtig von einer spezifischen Gesetzgebung zum Streikrecht im öffentlichen Dienst zu sprechen. Vielmehr ist das Streikrecht in der Gesetzgebung zur Daseinsvorsorge verankert.
Ausgehend von der unterschiedlichen Ausgestaltung des Arbeitverhältnisses, öffentlich oder privat, hat die Lehre über viele Jahre versucht, Unterschiede in der Arbeitsniederlegung herauszuarbeiten. Da Arbeiter oder Angestellte der öffentlichen Verwaltung, theoretisch und oft auch praktisch, bei der Bereitstellung der Daseinsvorsorge beteiligt und daher für diese Bereitstellung verantwortlich sind, bewirkt ihre Abwesenheit von der Arbeit durch einen Streik Einschränkungen und Nachteile für die Allgemeinheit.
Deshalb war es für lange Zeit wichtig, zwischen einem privatrechtlichen AN und einem Beamten zu unterscheiden. Im letzteren Fall unterlag der Beamte der Weisung der öffentlichen Verwaltung und befand sich in einem Arbeitsverhältnis, das nicht verhandelbar war und welches der Rsp der Verwaltungsgerichte unterstellt war.
Diese Differenzierung hat über einen langen Zeitraum einen erheblichen Teil der italienischen Arbeitswelt von der Anwendung des Arbeitsrechtes ausgeschlossen und führte zu einem System der Arbeitsverhältnisse, das als Pubblico Impiego (Beamtentum) bezeichnet wurde. Sie trug ebenfalls dazu bei, die Idee eines öffentlichen Sektors zu verstärken, der das öffentliche Interesse gewährleisten soll und deswegen anders als der Privatsektor geartet ist.
Diese Differenzierung gilt nicht mehr für die überwiegende Mehrheit der Beamten im Rahmen einer Reform des öffentlichen Dienstes durch das gesetzesvertretende Dekret Nr 29 aus 1993. Ihr Arbeitsverhältnis wird jetzt – mit unwesentlichen Ausnahmen – durch das private Arbeitsrecht geregelt.
Deshalb wird heutzutage in Italien jeder, der in einem abhängigen Arbeitsverhältnis zu einer öffentlichen Verwaltung oder einem privaten Unternehmen steht, als AN bezeichnet.
Tatsächlich konnte man auch vor 1993 keine Übereinstimmung zwischen einem Beamten und einem Arbeiter, der bei der Bereitstellung von Dienstleistungen öffentlichen Interesses tätig ist, feststellen. Wie wir im Folgenden sehen werden, musste und muss eine weitere Differenzierung angewandt werden, die sich auf die Art der erbrachten Leistung zwischen Beamten und Beauftragten einer öffentlichen Dienstleistung (incaricato di pubblico servizio) bezieht. Der Beamte arbeitet in der Staatsverwaltung und übt hoheitliche Aufgaben aus, die an den Vollzug der Verwaltung oder das Rechtswesen gebunden sind. Der Beauftragte einer öffentlichen Dienstleistung hingegen ist ein AN oder Beamter, der für die Bereitstellung einer Dienstleistung, welche den wesentlichen Bedarf der Allgemeinheit zufriedenstellt, verantwortlich ist. Diese Differenzierung musste bis 1990 als wichtig angesehen werden, um die Folgen einer Arbeitsniederlegung bei den eben erwähnten AN-Typen zu bewerten.
Indem wir uns an die eben beschriebene Differenzierung erinnern, wird es einfacher, die geschichtliche Entwicklung des Streikwesens generell zu verfolgen. Sie ist engstens mit der Entwicklung einer spezifischen Reglementierung des Streiks in der Daseinsvorsorge verbunden. Bei der Entstehung des italienischen Nationalstaates (1853-1892) wurde unter Einfluss liberaler und liberalistischer Prinzipien die Koalition von AN und Beamten als Druckmittel auf den AG, um bessere Arbeitsbedingungen zu erzielen, als Straftatbestand eingeführt.
Unter Berücksichtigung des Bestehens eines Koalitionsverbotes war es zu jener Zeit unmöglich, auch nur von Streik zu sprechen.
Die Lage begann sich 1892 zu ändern, nachdem ein neues Strafrecht ohne Koalitionsverbot eingeführt wurde. Auch im Zivilrecht werden Gewerkschaften erlaubt, insofern sie nicht für eventuelle Schäden, die dem Unternehmer durch den Streik entstehen, verantwortlich gemacht werden.
Da die einzelnen AN oder Beamten jedoch keinen Rechtsanspruch auf Streik hatten, befinden sie sich durch eine Teilnahme daran im Unrecht. Gleichzeitig wird die Arbeitsniederlegung vonseiten eines Amtsträgers (pubblico ufficiale) als Straftatbestand bewertet und gab damit der damaligen konservativen Rsp faktisch die Gelegenheit, im Streikfall der Beamten Strafmaßnahmen einzuführen, indem der Begriff des Amtsträgers weit ausgelegt wurde.
Die Überlappung der Begriffe Beamter und Amtsträger im Rahmen des Streiks veranlasste die damaligen Regierungen, viele Arbeiter, die mit einer öffentlichen Dienstleistung beauftragt waren (zB Schienenverkehr), als Beamte einzustufen, um so die Ausübung des Streiks zu verhindern.
Trotz der beschriebenen nachteiligen Regulierung wuchs nach dem Ersten Weltkrieg die Zahl der (Beamten-) Streiks. Das Fehlen einer klaren politischen Stellungnahme gegenüber diesem Phänomen war eine der Ursachen des Erstarkens des faschistischen Regimes.
Während der faschistischen Diktatur wurde ein spezifisches korporatives System (sistema corporativo) auferlegt, ein Modell in dem die Koalitionsfreiheit verboten wurde, da alle AN und alle AG jeweils in einer einzigen gemeinsamen faschistischen Gewerkschaft oder in einem AG-Verband im Rahmen einer Korporation vereint waren.
Zweck des korporativen Systems war es, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zu kontrollieren und zu bestimmen. Dies geschah durch Vorschriften, die von der faschistischen Partei erlassen wurden, um kollektive Beziehungen in der Arbeitswelt zu entwickeln.55
Daraus leitete sich das Verbot ab, Streitfragen in einen Konflikt ausarten zu lassen, da Streik und Aussperrung sowohl für die AN als auch für die Beamten eine strafbare Handlung waren. Die Streitfragen wurden deshalb vor Spezialgerichten verhandelt. Im Bereich eines solch restiktiven Rechtsrahmens überrascht es nicht, dass in das italienische Strafgesetzbuch aus 1942 die Art 330 und 333 aufgenommen wurden, die das Verlassen einer öffentlichen Dienststelle durch einen Beamten oder die Arbeitsniederlegung vonseiten eines Beauftragten einer öffentlichen Dienstleistung strafrechtlich verfolgten.
Nach dem Zusammenbruch des korporativen Systems im Jahre 1944 tritt 1948 die republikanische Verfassung in Kraft. Sie misst sowohl den Individual- als auch den Kollektivrechten der Arbeit eine große Bedeutung bei.
Die Koalitionsfreiheit und Streik als Recht werden in den Art 39 und 40 der Verfassung anerkannt. Von der Präambel der französischen Verfassung des Jahres 1946 inspiriert, definiert Art 40 zwar nicht den Streik, gibt jedoch dem Gesetzgeber die Befugnis, das Streikrecht näher auszugestalten.
Bis zum Jahre 1990 fand allerdings hierzu keine gesetzgeberische Regelung statt, teils wegen des Widerstandes der Gewerkschaften, teils mangels eines fehlenden politischen Einvernehmens.
Die Untätigkeit des Gesetzgebers hat bewirkt, dass die Rsp faktisch an die Stelle des Gesetzgebers getreten ist.
Sie war stark von der konservativen Lehre der damaligen Zeit beeinflusst und diktierte somit eine sehr restriktive Regelung des Streikrechts.
Es ist jedoch hervorzuheben, dass sich diese restriktive Formulierung in den 1980-iger Jahren grundlegend änderte, als die höchstrichterliche Rsp eine Theorie des Streikrechtes ohne Beschränkungen vornahm.
Zur Untätigkeit des Gesetzgebers fügten sich die noch in Kraft stehenden Art 330 und 333 des korporativen faschistischen Strafgesetzbuchs aus 1942 hinzu, die nie aufgehoben worden waren. Sollten diese Artikel auf eine Arbeitsniederlegung oder -unterbrechung durch die Teilnahme an einem Streik angewendet werden, stünden sie in offensichtlichem Gegensatz zu Art 40 der Verfassung. Die Entscheidung des Gesetzgebers, nicht tätig zu werden, um die in Frage stehenden Artikel abzuschaffen oder zu ändern, hat erneut die Wichtigkeit der Rsp unterstrichen. So legten die Richter mehrmals die Frage der Verfassungsgemäßheit der strafrechtlichen Bestimmungen aus 1942 dem italienischen Verfassungsgericht (Corte Costituzionale) vor.
Das Verfassungsgericht hat daher für ungefähr 20 Jahre (1958-1977) die Aufgabe übernommen, eine verfassungskonforme Auslegung der Art 330 und 333 in Hinblick auf Art 40 der Verfassung zu entwickeln.
Dabei hat das Verfassungsgericht die Gelegenheit wahrgenommen, die Unterscheidung zwischen dem Streik allgemein und dem Streik bei der Daseinsvorsorge auf eine neue und solide Basis zu stellen, beginnend mit der strafrechtlich relevanten Begriffsbestimmung des Amtsträgers und der öffentlichen Dienstleistungen.
Aufgrund des Einflusses, den die Rsp auf die zukünftige Gesetzgebung ausgeübt hat, muss diese hier extrem verkürzt dargestellt werden.
Zuerst kann laut dem Verfassungsgericht keine Strafverfolgung angedroht werden, wenn die Arbeitsniederlegung oder -unterbrechung aufgrund der Teilnahme an einem rechtmäßigen Streik erfolgt, dh dass die Ausübung der verfassungsmäßig geschützten Persönlichkeitsrechte, die mittels der Daseinvorsorge garantiert werden, nicht in Frage gestellt sind.*
Das Verfassungsgericht bezeichnet als Daseinsvorsorge jede Dienstleistung von allgemeinem sozialem Interesse, unabhängig von der rechtlichen Natur des Dienstleistungsverhältnisses. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Streik für Daseinsvorsorgeleister verboten ist, sondern, dass dem besonderen Umfeld, in dem er stattfindet, Rechnung getragen werden muss.*
Das Verfassungsgericht bestätigt zu diesem Zweck das Abwägungsprinzip, welches sowohl die Ausübung des Streikrechtes als auch der verfassungsmäßig geschützten Persönlichkeitsrechte im Kern gewährleisten soll.
Seiner Meinung nach ist es möglich, im Rahmen der Daseinsvorsorge einige Grundversorgungen festzustellen, die gewährleistet sein müssen, um den essentiellen Kern der von dem Streik betroffenen verfassungsmäßig geschützten Persönlichkeitsrechte zu gewährleisten.*
Wie das Verfassungsgericht in seinem Urteil aus 1977 unterstrich, war es offensichtlich, dass trotz der Klarheit des Abwägungsprinzips ein gesetzlicher Eingriff notwendig sei, um das Prinzip konkret anwenden zu können, vor allem in Hinblick auf die Begriffsbestimmung der Grundversorgungen.*
Trotz dieser Klarstellung durch die Rsp erließ der Gesetzgeber kurzfristig keine Vorschriften zum Streikrecht im Rahmen der Daseinsvorsorge, da die Gewerkschaften sich dazu entschieden, direkt zu agieren, mit dem Ziel, eine zukünftige gesetzliche Regelung zu vermeiden.
Dies geschah vor allem im öffentlichen Nah- und Fernverkehr mittels der sogenannten Selbstregulierungsvorschriften (codici di autoregolamentazione) vonseiten der größten Gewerkschaftsverbände. Diese Regeln wurden später auch auf andere Bereiche der Daseinsvorsorge ausgedehnt.
Auch in diesem Fall ist es interessant, die gemeinsamen Inhalte dieser Vorschriften zusammenzufassen, denn sie haben die kommende Gesetzgebung tief beeinflusst.
Erstens enthielten sie die Pflicht, den Streik zehn Tage vor seinem Beginn voranzukündigen. Zweitens konnte der Streik nicht zu bestimmten Zeiträumen des Jahres (Weihnachten, Ostern und Sommerferien) stattfinden.
Drittens musste ein Teil der Dienstleistungen wie zB Züge während der Stoßzeiten, Erste Hilfe und die Durchführung der Schul- und Universitätsabschlussprüfungen als Grundversorgungen gewährleistet sein. Auf diese Weise begann man auf freiwilliger und autonomer Basis, eine Anzahl von Regeln, inklusive derer für die Grundversorgung, festzulegen.
Der Gesetzgeber begrüßte diese Selbstregulierungsinitiativen der Gewerkschaftsverbände zur Reglementierung der Ausübung des Streikrechtes bei den für die Grundversorgung wichtigen Dienstleistungen. Als 1983 ein besonderes System der Kollektivverhandlungen für den öffentlichen Dienst eingeführt wurde,* forderte
56 der Gesetzgeber die Annahme einer Selbstregulierungsvorschrift als Voraussetzung für die Teilnahme der Gewerkschaften an den Verhandlungen.
Diese Erfahrung brachte trotzdem nicht die erhofften Auswirkungen, da die Regeln weder intern für die Mitglieder noch extern für die Gewerkschaften, die keine Vorschriften angenommen hatten, rechtlich bindend waren. Was den ersten Aspekt angeht, hatten die vorgesehenen Sanktionen für die einzelnen Gewerkschaftsmitglieder, die individuell gegen die Vorschriften verstießen, einen geringen Abschreckungseffekt. Was den zweiten Aspekt angeht, waren die Regeln offensichtlich nicht in der Lage, irgendeine Wirkung auf andere Gewerkschaften und ihre Mitglieder zu zeigen.
Sie gehörten oft Kategorien hochqualifizierter Arbeiter an und waren in der Lage, durch ihre Arbeitsniederlegung die Lähmung gesamter Dienstleistungsbereiche zu bewirken (zB Lokführer, Fluglotsen, Ärzte etc).
Das Scheitern der sogenannten „Periode der Selbstbeschränkung“ (stagione dell'autolimitazione), die zu einem Zeitpunkt stattfand (1980-1990), in dem die Zahl der Streiks im Bereich der Daseinsvorsorge stark zunahm, bot der politisch extremen Rechten die Gelegenheit, drastische rechtliche Eingriffe zu fordern, welche den Streik in der Daseinsvorsorge verbieten sollte.
Um eine solche Entwicklung zu vermeiden, beauftragten die Gewerkschaftsverbände eine Gruppe von Arbeitsrechtsprofessoren, eine Gesetzesvorlage zu erarbeiten, die auf dem Abwägungsprinzip basieren sollte.
Diese Gesetzesvorlage wurde 1990 von der Regierung übernommen und mit zwei anderen Vorschlägen, die von der Sozialistischen Partei und den Kommunisten im Parlament eingebracht worden waren, in kurzer Zeit zum Gesetz Nr 146 aus 1990 verabschiedet.
Die Prinzipien, die vom Verfassungsgericht und den Selbstreglementierungsvorschriften bestimmt worden waren, bilden die theoretische Basis des Gesetzes Nr 146 aus 1990 und sind derzeit einzigartig in Europa.
Sinn des Gesetzes ist es, die Ausübung des Streikrechtes mit den verfassungsmäßig geschützten Persönlichkeitsrechten abzuwägen, indem Regeln und Verfahren definiert werden, die dank der Identifizierung einiger Grundversorgungen die Beibehaltung des wesentlichen Kerns beider Rechte zum Ziel haben. So kann diese Abwägung gleichzeitig als Objektiv und Methode zur Garantie für den wesentlichen Kern der oben erwähnten Rechte angesehen werden.
Nicht zufälligerweise werden jene Dienstleistungen als Daseinsvorsorge definiert, die die Ausübung der verfassungsmäßig geschützten Persönlichkeitsrechte gewährleisten, unabhängig vom rechtlichen Status des Dienstleistungserbringers und der Art des Arbeitsverhältnisses der Beschäftigten. Auch schafft das Gesetz die Art 330 und 333 des Strafrechtsgesetzbuches ab.
Die verfassungsmäßig geschützten Persönlichkeitsrechte, welche die Kriterien der Abwägung anwenden müssen, sind bindend im Gesetz aufgeführt, wie das Recht auf Leben, Gesundheit, Sicherheit, Bewegungsfreiheit, soziale Beihilfe und Vorsorge, und die Bildungs- und Kommunikationsfreiheit.
Diesen Rechten steht im Gesetz eine beispielhafte Liste der Dienstleistungen gegenüber, welche die Daseinsvorsorge begründen. Dies ermöglicht, neue Dienstleistungen, die der technologische Fortschritt mit sich bringt, darunter zu fassen, um die Ausübung der eben erwähnten Rechte zu garantieren. Man kann daher feststellen, dass der Gesetzgeber sich für eine „dynamische Definition“ der Daseinsvorsorge entschieden hat, um die verfassungsmäßig geschützten Persönlichkeitsrechte zu garantieren.
Die Rechtmäßigkeit des Streiks in der Daseinsvorsorge, die auf diese Art und Weise vom Gesetz definiert worden ist, muss in Hinblick auf das Abwägungsprinzip verstanden werden.
Zunächst besteht für die Streikausrufer die Verpflichtung, den Streik mindestens zehn Tage voranzukündigen, um die Vorbereitung einer gewisser Grundversorgung zu ermöglichen.
Zweitens muss in der Vorankündigung angegeben werden, wie lange der Streik dauern wird, wann er beginnt und wann er endet. Dies soll dem Dienstleistungserbringer erlauben, die Bevölkerung zu informieren. Streiks ohne Zeitlimit sind daher als rechtswidrig anzusehen.
Die dritte Voraussetzung betrifft die Modalitäten des Streiks, welche ebenfalls in der Vorankündigung angegeben werden müssen.
Die vierte und wichtigste Voraussetzung, die im konkreten Fall am Schwierigsten zu verwirklichende, betrifft die Gewährleistung der Grundversorgung während des Streiks.
Der zentrale Aspekt der Abwägung wird jedoch von der Tatsache geprägt, dass ein rechtmäßiger Streik keine komplette Unterbrechung der Dienstleistungen verursachen darf. Allerdings muss man sich fragen, wie und von wem die Grundversorgung definiert und vorbereitet wird.
Ähnlich wie bei der dynamischen Definition der Daseinsvorsorge definiert das Gesetz die Grundversorgung nicht direkt und in statischer Form. Sie überlässt diese Definition der kollektiven Verhandlung zwischen dem Dienstleistungserbringer und den Gewerkschaften. Dies führt zu einer speziellen Art des Prinzips der vertikalen Subsidiarität, kraft dessen der italienische Gesetzgeber den Akteuren, die tagtäglich mit der Bereitstellung der Dienstleistungen beschäftigt sind, aufträgt, zu definieren, welche Leistungen in ihrem jeweiligen Bereich als Grundversorgung anzusehen sind, und welcher der essentielle Kern der zu gewährleistenden Rechte ist.
Das bedeutet auch, dass die Modalität und der Inhalt der Grundversorgung sich von Dienstleistung zu Dienstleistung unterscheiden können, je nachdem, welches Recht es zu gewährleisten gilt. ZB haben die Akteure im Eisenbahnsektor entschieden, dass ein Zug, der den Abfahrtsbahnhof verlassen hat, den Zielbahnhof zwangsläufig erreichen muss, selbst wenn der Streik inzwischen begonnen hat. Züge, welche zu bestimmten Tageszeiten geplant wurden, müssen gewährleistet57 sein, genauso wie Züge, welche die wichtigsten Städte Italiens verbinden. Dagegen könnte eine ähnliche Interpretation des Konzepts der Grundversorgung für andere Dienstleistungen nicht angemessen sein, wie beispielsweise Rechte, die nicht die Bewegungsfreiheit betreffen. So muss ein ärztlicher Notfalldienst immer und ohne zeitliche Einschränkung gewährleistet sein.
Die gesetzliche Ausgestaltung durch den italienischen Gesetzgeber bietet den großen Vorteil, dass die Erfahrung und Kompetenz, welche die Parteien während der Strukturierung und Ausführung der Dienstleistungen erworben haben, direkt zur Definition der Grundversorgung einbezogen werden.
Sie weist allerdings auch einige wichtige problematische Aspekte auf:
Erstens führte das Gesetz aus 1990 nur die Verpflichtung beider Parteien, im guten Glauben über die Grundversorgung zu verhandeln, ein. Der eigentliche Abschluss einer Vereinbarung war jedoch nicht zwingend. Zusätzlich gibt es keine Garantie, dass im Falle eines solchen Abschlusses die Dienstleistungen, die als unverzichtbar gelten, das Abwägungsprinzip effektiv verwirklichen.
Zweitens konnte aufgrund der Zersplitterung der italienischen Gewerkschaftsbewegung, vor allem im Bereich der Daseinsvorsorge, eine Vereinbarung nur sehr schwer alle Dienstleister erfassen, selbst wenn sie von den wichtigsten Gewerkschaften unterzeichnet wurde.
Selbstredend ist, dass die Grundversorgungen für die Gewerkschaften, die die Vereinbarung nicht unterzeichnet haben, nicht bindend sind.
Auf diese Fragen, die das Risiko mit sich bringen, die Bereitstellung der Grundversorgung zu unterlaufen, reagiert das Gesetz aus 1990 mit der Einführung einer Garantiekommission, welche die Anwendung dieses Gesetzes gewährleisten soll. Die Kommission ist eine unabhängige Verwaltungsbehörde, zusammengesetzt aus neun Experten aus den Bereichen des Arbeits- und Verfassungsrechts und der industriellen Beziehungen. Sie werden für einen Zeitraum von drei Jahren vom Präsidenten des Senats und des Parlaments ernannt und können nur einmal wiederbestellt werden.
Im Falle einer erzielten Vereinbarung muss die Kommission bewerten, ob die verhandelte Grundversorgung das Abwägungsprinzip verwirklichen kann. Sollte die Vereinbarung als nicht geeignet beurteilt werden oder die Parteien keinen Abschluss erreicht haben, wird die Kommission aufgefordert, die provisorischen Vorschriften (provvisoria regolamentazione) anzuwenden, welche für die Parteien solange bindend ist, bis eine neue Vereinbarung erzielt wird. Solche Vorschriften setzen ein Vorbild für die Vereinbarungen, die schon von der Kommission bewertet und als ungeeignet verworfen worden sind.
Diese Lösung, die im Gesetz aus 1990 nicht enthalten war, und welche die Kommission mit Unterstützung der Lehre und der Rsp im Laufe der Jahre ausgearbeitet hat, wurde vom Gesetzgeber mit dem Gesetz Nr 83 aus 2000 erlassen. Wir werden sehen, wie dieses neue Gesetz die ursprüngliche Regelung des Streikrechts in der Daseinsvorsorge tiefgreifend verändert hat.
Es ist angebracht, die Arbeit der Kommission seit ihrer Einführung hervorzuheben, welche hauptsächlich darin bestand, in allen Bereichen der Daseinsvorsorge geeignete Abschlüsse anzuregen und gleichzeitig zu vermeiden, dass die eigenen provisorischen Vorschriften verstetigt würden.
Um die eben beschriebenen Vorschriften effektiv auszugestalten, enthält das Gesetz aus 1990 umfassende Sanktionen gegen eventuelle Verstöße vonseiten der Gewerkschaften, die den Streik ausrufen, der teilnehmenden AN und der öffentlichen oder privaten Dienstleistungserbringer.
Schon allein die Tatsache, dass Sanktionen vorgesehen sind, ist innovativ, da es die Möglichkeit eines rechtswidrigen Streiks voraussetzt, welche bis zum Inkrafttreten des Gesetzes aus 1990 in der italienischen Rechtsordnung kaum existierte.
Da die rechtlichen Interessen der einzelnen Akteure sehr verschieden sind, unterscheiden sich die Sanktionen, denen sie potenziell unterworfen sind, erheblich, sowohl inhaltlich als auch in ihrer Art.
Der einzelne AN, der die bei den Kollektivverhandlungen oder in den provisorischen Vorschriften festgelegte Verpflichtung, die Grundversorgung zu gewährleisten, nicht einhält, wird disziplinären Sanktionen unterworfen. Diese werden vom AG bestimmt, wobei eine Entlassung ausgeschlossen ist. Dass eine Entlassung als Sanktion nicht möglich ist, bedeutet, dass die vom AN begangene Verletzung zwar den Streik rechtswidrig macht, jedoch weiterhin ein Recht bleibt, dessen Ausübung nicht zum Ende des Arbeitsverhältnisses führt.
Die Gewerkschaften, die die oben beschriebenen materiell- rechtlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften verletzen, werden mit einer Buße, in der Form des Verlusts der im Gesetz Nr 300 aus 1970 garantierten bezahlten Gewerkschaftsfreistellung für die leitenden Gewerkschaftsfunktionäre, bestraft. Es wird ebenfalls der Ausschluss von den Verhandlungen im öffentlichen Dienst für einen bestimmten Zeitraum vorgesehen.
Die Handhabung der Sanktionen gegenüber den Gewerkschaften hat zahlreiche Probleme hervorgerufen, da das Gesetz aus 1990 dem AG, der für die Dienstleistungserbringung verantwortlich ist, die Aufgabe zuteilte, Sanktionen anzudrohen. Damit wurde ihm eine einseitige Machtstellung bei der Beurteilung des gewerkschaftlichen Verhaltens verliehen.
Das Gesetz Nr 83 aus 2000 hat diesem Problem Abhilfe geschaffen, da die Sanktionsandrohung vonseiten des AG von einer vorausgehenden negativen Beurteilung des gewerkschaftlichen Verhaltens durch die Garantiekommission abhängig gemacht wird. Dasselbe gilt für die Sanktionsandrohung an die einzelnen AN.
Bußgelder sind schließlich für Dienstleistungserbringer vorgesehen, falls sie nicht iSd Gesetzes kooperieren oder nicht unmittelbar nach Beendigung des Streiks die Wiederaufnahme der Dienstleistungen vornehmen.
Über den Sanktionsbereich hinaus gibt das Gesetz aus 1990 der Regierung, den zuständigen Ministern, den Bürgermeistern und dem Präfekten die Macht, streikende Arbeiter zwangszuverpflichten. Man sollte jedoch erwähnen, dass lange bevor das Gesetz aus 1990 in58 Kraft trat, die staatlichen Behörden bereits über die Macht der Zwangsverpflichtung verfügten und sie oft in Anspruch nahmen, um zu vermeiden, dass bei der Ausübung nicht angemeldeter Streiks im Bereich der Daseinsvorsorge negative Folgen für die Allgemeinheit entstehen. Die Zwangsverpflichtung war also während des langen Zeitraums der Untätigkeit des Gesetzgebers das einzige Instrument zur Verteidigung der Persönlichkeitsrechte.
In der politischen Debatte, die der Einführung des Gesetzes aus 1990 vorausging, gab es Vorschläge, den Streik von der Zwangsverpflichtung auszuschließen.
Der Vorschlag wurde abgelehnt, aber das Gesetz räumt ein, die Zwangsverpflichtung nur im Falle einer großen und unmittelbaren Gefahr für den wesentlichen Kern der verfassungsmäßig geschützten Persönlichkeitsrechte auszuüben.
Auf alle Fälle müssen sich die zuständigen Behörden bei der Ausübung der Zwangsverpflichtung an den in den Kollektivverhandlungen ausgehandelten oder von der Garantiekommission bestimmten Inhalt richten.
Das Gesetz Nr 83 aus 2000 schreibt zusätzlich die Anwendung der Zwangsverpflichtung ausschließlich im Falle einer Notlage vor.
Wie gesagt, zehn Jahre nach seinem Inkrafttreten wurde das Gesetz aus 1990 in seiner Struktur durch das Gesetz Nr 83 aus 2000 tiefgreifend geändert.
Dies geschah aus zwei Gründen:
Erstens wird bei den hier durchgeführten Untersuchungen über die Bedingungen des legalen Streiks in der Daseinsvorsorge deutlich, dass das Gesetz aus 1990 nur Anwendung fand, nachdem die Auseinandersetzung in einen Konflikt ausgeartet war und der Konflikt den Streik hervorrief. Das bedeutet, dass das Gesetz aus 1990 nicht auf eine Verhinderung eines Streiks zielte, sondern nur auf die Regelung seiner Ausübung in der Daseinsvorsorge unter Beachtung des Abwägungsprinzips.
Zweitens erfolgte die Bereitstellung der öffentlichen Grundversorgung häufig durch selbständige Berufe (zB Rechtsanwälte) oder durch Kleinunternehmer (zB Apotheker oder Tankstellenwärter), auf die das Gesetz aus 1990 keine Anwendung fand. Es beschränkte sich darauf, den Streik für AN zu regulieren.
Obschon das Gesetz aus 1990 in gewissem Maße seinen Zweck erreicht hat, wies es jedoch vom Standpunkt der Dienstleistungsnehmer in der Daseinsvorsorge im Bereich der Streikverhinderung und seiner begrenzten Anwendung bemerkenswerte Lücken auf.
Zunächst führte das Gesetz aus 2000 neue Regeln und Verfahren ein, die darauf abzielen, auch mittels der Einbindung der Garantiekommission eine alternative Lösung zum Konflikt zu suchen, indem sie die Parteien verpflichtet, einen zwingenden Versuch zu einer Einigung vor dem Streik zu unternehmen.
Die Garantiekommission wurde auch befugt, den Beginn eines Streiks zu verschieben, falls dieser mit Streiks in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge zusammenfällt, die das verfassungsmäßig garantierte Persönlichkeitsrecht berühren (Prinzip der objektiven Ausdünnung – rarefazione oggettiva), wie zB die Bewegungsfreiheit bei Streiks, die am selben Tag den Flug- und Eisenbahnverkehr in einer Region betreffen.
Mit dem erklärten Ziel, den Dienstleistungsnehmern die Möglichkeit zu geben, die Forderungen des Streiks beurteilen zu können, wird den streikaufrufenden Organisationen auferlegt, in der Streikankündigung die Gründe für den geplanten Streik anzugeben.
Ferner hat das Gesetz aus 2000 den Anwendungsbereich des Gesetzes aus 1990 auf alle Bereiche der Arbeitsniederlegung ausgeweitet, die ein Risiko für den wesentlichen Kern des verfassungsmäßig geschützten Persönlichkeitsrechts darstellen, dh auch auf jene, die wegen der Selbständigkeit der Dienstleistungserbringer bisher nicht als Streik qualifizierbar waren.
Zu diesem Zweck sind sowohl die Berufskammern, bei denen der größte Teil der selbständigen Berufe eingeschrieben ist, als auch der Verband der Kleinunternehmer aufgefordert, Selbstreglementierungsvorschriften einzuführen. Die Garantiekommission prüft diese dann auf ihre Eignung, worauf sie im Falle einer positiven Bewertung für alle Mitglieder der Kategorie bindend werden. Sollte dies nicht der Fall sein, erlässt die Kommission provisorische Vorschriften.
Abschließend betrachtet, stellen die Bestimmungen über den Streik in der Daseinsvorsorge einen hohen Grad an Wirkung und Effizienz dar. Das Abwägungsprinzip, welches unabhängig vom Status des Leistungserstellers und der juristischen Natur des Arbeitsverhältnisses angewandt wird, verhindert einen Zusammenbruch der Dienstleistungen in der Daseinsvorsorge. Die Einbeziehung aller Parteien und die Überwachung durch die Garantiekommission ermöglichen es, die Daseinsvorsorge in Einklang mit dem Abwägungsprinzip zu gewährleisten. Die verfahrensrechtlichen Vorschriften gestatten eine alternative Lösung zum Streik und eine Reduzierung der Streiks. Das Prinzip der „objektiven Ausdünnung“ erlaubt es schließlich den Dienstleistungsnehmern, sich alternativer Dienstleistungen an Stelle der vom Streik betroffenen zu bedienen.
Zwei wichtige Fragen bleiben jedoch offen:
Die erste, verfahrensrechtliche, betrifft die Mitteilung aller Informationen an die Dienstleistungsnehmer, die den Streik und seinen Ablauf betreffen und deren Regelung bis heute mangelhaft und unangemessen ist.
Die zweite, materiell-rechtliche, betrifft das Funktionieren der Kollektivverhandlungen in vielen Bereichen der Daseinsvorsorge. Sie werden von chronischen wirtschaftlichen Schwierigkeiten behindert, in denen sich die öffentlichen oder privaten Verhandlungspartner befinden. Diese Schwierigkeiten führen häufig auf unbestimmte Zeit zu einer Blocka de bei der Erneuerung der Kollektivverträge und bewirken eine andauernde Konfliktsituation.59