Meyer (Hrsg)Charta der Grundrechte der Europäischen Union

4. Auflage, Nomos Verlag (mit facultas.wuv und Helbing Lichtenhahn Verlag) Baden-Baden 2014, 859 Seiten, gebunden, € 128,–

SUSANNEAUER-MAYER (SALZBURG)

Die mit dem Vertrag von Lissabon am 1.12.2009 in Kraft getretene „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ hat für Österreich nicht zuletzt aufgrund der Anerkennung mancher ihrer Garantien als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte iSd Art 144 B-VG und Prüfungsmaßstab im Normenkontrollverfahren nach Art 139 und 140 B-VG durch den VfGH (vgl insb U 466/1164VfSlg 19.632) an Bedeutung gewonnen. Umso erfreulicher ist es, dass der – in der Rezension zur Vorauflage (vgl Bei, DRdA 2011, 500) bereits als „grund- und europarechtliches Standardwerk“ bezeichnete – von Jürgen Meyer (Professor an der Universität Freiburg; ua Delegierter des Deutschen Bundestages im Europäischen Grundrechte- und Verfassungskonvent) im deutschen Nomos-Verlag herausgegebene Kommentar zur Grundrechtecharta nunmehr in vierter Auflage erschienen ist. Literatur und Rsp befinden sich grundsätzlich auf dem Stand von Ende 2013, sind teilweise aber noch aktueller. Damit haben zahlreiche bedeutsame Entscheidungen, die seit der Vorauflage ergangen sind, in die Kommentierung Eingang gefunden. Exemplarisch genannt seien hier nur die zur Auslegung des Art 51 bzw zur Frage der Drittwirkung der Grundrechte ergangenen Rs Akerberg Fransson (C-617/10) und Association de médiation sociale (C-176/12). Das richtungsweisende Urteil in den verb Rs Digital Rights Ireland bzw Seitlinger ua (C-293/12 und C-594/12), mit dem der EuGH (ua aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens des österreichischen VfGH) die RL 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärt hat, kam für eine Berücksichtigung in der Kommentierung offenkundig zu spät, wurde aber noch in das Vorwort aufgenommen.

Das AutorInnen-Team ist auch bei der Neuauflage weitgehend gleich geblieben. Die bisher von Eibe Ridel besorgte Kommentierung der Grundrechte des IV. Titels („Solidarität“) wurde nunmehr jedoch von der Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte in Berlin, Beate Rudolf, übernommen, womit es auch bei den für das Arbeits- und Sozialrecht spezifisch relevanten Art 27 bis 35 zu einem Wechsel der Autorenschaft gekommen ist.

Sonst folgt die vierte Auflage dem bereits bewährten Modell: Der Präambel und den sieben Titeln der Grundrechtecharta werden jeweils sehr instruktive Vorbemerkungen vorangestellt. Die Bearbeitung der einzelnen Artikel wird sodann nach dem einheitlichen Muster vorgenommen, dass zunächst die maßgeblichen Vorgaben zum jeweiligen Grundrecht in einer rechtsvergleichenden Perspektive beleuchtet und die Diskussion im Europäischen Grundrechtekonvent dargestellt werden und erst im Anschluss daran die eigentliche Kommentierung erfolgt. Die jeweils abschließende, in „chartaspezifische“ und „sonstige“ Literatur gegliederte, Literaturübersicht bietet zudem eine Fülle an weiterführenden Hinweisen. Deren Hauptaugenmerk liegt zwar auf in Deutschland erschienenen Quellen, es finden sich aber durchaus auch hilfreiche Literaturnachweise aus anderen Staaten.

Inhaltlich wird von den BearbeiterInnen (in unterschiedlich starkem Ausmaß) sowohl auf Literatur als auch Judikatur (vor allem des EuGH, aber auch des EGMR, des deutschen BVerfG und anderer nationaler [Verfassungs-]Gerichte) eingegangen, wobei auch kritische Anmerkungen nicht unterbleiben. Wo es an Judikatur und Literatur fehlt, bemühen sich die AutorInnen ebenfalls, die erforderlichen Klärungen vorzunehmen. Die Darstellung der Vorgaben in den Mitgliedstaaten sowie der Diskussion im Grundrechtekonvent ermöglicht darüber hinaus nicht nur einen raschen Überblick über das Bestehen den Chartagrundrechten entsprechender Normierungen in den Verfassungen der Mitgliedstaaten, sondern gewährt vor allem auch Einblick in die Entstehung der einzelnen Grundrechte und die Motive für die schlussendlich in der Charta gewählten Formulierungen. Beides trägt nicht unwesentlich zum Verständnis bei.

Wenngleich das Wesen eines Kommentars naturgemäß Prägnanz erfordert, wären da und dort freilich auch einige zusätzliche Ausführungen sinnvoll gewesen. So etwa im Zusammenhang mit der Kommentierung der Diskriminierungsverbote nach Art 21 (S 398 ff), wo insb in Bezug auf die über die Gleichbehandlungs- RL hinausgehenden geschützten Merkmale, wie der „politischen oder sonstigen Anschauung“ oder des „Vermögens“, Aussagen zu möglichen Konstellationen einer (vor allem auch mittelbaren) Diskriminierung und deren Rechtfertigung sehr nützlich gewesen wären.

Alles in allem bietet jedoch auch die vierte Auflage des Kommentars einen sehr gelungenen, fundierten und umfassenden Überblick (nicht nur) über die Europäische Grundrechtecharta. Das vorliegende Werk stellt daher einen nützlichen Begleiter für alle mit der Charta im Speziellen, aber auch den Grundrechten im Allgemeinen befassten Personen dar.