HeinzTarifgeltung ohne Mitgliedschaft

Nomos Verlag, Baden-Baden 2014, 277 Seiten, broschiert, € 74,10

MARTINRISAK (WIEN)

Kollektivverträge gelten grundsätzlich für jene Personen, die zum Zeitpunkt des Kollektivvertragsabschlusses Mitglieder der diesen abschließenden Parteien sind oder waren (so § 8 Z 1 ArbVG und für Deutschland § 3 TVG). Hier wie dort kann ein133

Austritt aus einer einen KollV abschließenden AG-Vereinigung nicht dazu führen, den Rechtswirkungen eines KollV zu entkommen, dem ein/e AG einmal kraft Mitgliedschaft unterworfen war (§ 3 Abs 3 TVG). Während solche Austritte in einer Kollektivvertragslandschaft, die – wie in Österreich – auf AG-Seite wesentlich durch die mit Pflichtmitgliedschaft ausgestatteter Wirtschaftskammerorganisation geprägt ist, selten sind und nicht sehr intensiv diskutiert werden, ist die Lage in Deutschland eine andere: Hier sind einerseits einzelne AG kollektivvertragsfähig (§ 2 Abs 1 TVG, nach deutscher Terminologie: tariffähig) und andererseits bestehen keine tarifschließenden AG-Verbände mit Pflichtmitgliedschaft. Damit hat der Verbandsaustritt bzw -wechsel eine andere praktische Bedeutung und wird auch intensiver diskutiert.

Ein Sonderfall des Verbandsautritts ist der sogenannte „Blitzaustritt“, worunter die Konstellation verstanden wird, dass ein/e AG während laufender Verhandlungen kurzfristig aus dem AG-Verband ausscheidet, wobei der Verband und der/die Austretende ohne Rücksicht auf die satzungmäßige Frist die Mitgliedschaft mit sofortiger Wirkung aufheben. Ähnliches passiert beim sogenannten „Blitzwechsel“ bei dem die Mitgliedschaft von einer mit Tarifbindung in eine ohne Tarifbindung einvernehmlich geändert wird. Beide Vorgangsweisen wollen eine Bindung an den danach abgeschlossenen Tarifvertrag ausschließen. Das BAG (4 AZR 64/07 NZA 2008, 946; 4 AZR 419/07 NZA 2008, 1366; 4.6.2008, 4 AZR 316/07) sieht in diesem Fall den/die AG weiterhin an den Tarifvertrag gebunden und begründete dies damit, dass die AG-Seite während den laufenden Tarifverhandlungen um einen neuen Tarifvertrag der Gewerkschaft den Austritt/Wechsel nicht offenbart hatte. Argumentiert wird dabei, dass ohne eine derartige Transparenz hinsichtlich der kurzfristigen Veränderungen der Mitgliedschaft im AG-Verband die Verhandlungssituation stark verändern und den kollektiven Vertragsmechanismus stören würde und so die Tarifautonomie in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werde.

Die vorliegende Publikation, die Schriftfassung der von Christina Heinz bei Volker Rieble (einem scharfen Kritiker der BAG-Rsp) an der Ludwig-Maximilians-Universität München verfassten und im Sommer 2012 angenommenen Dissertation darstellt, setzt sich mit der, dieses Sonderproblem behandelnden Judikaturlinie kritisch auseinander.

Die Arbeit ist in sieben Kapitel gegliedert, wobei das erste die von der Rsp entwickelte Rechtsfigur des „Blitzaustritts“ bzw „Blitzwechsels“ behandelt. Hier wird herausgearbeitet, dass damit, weil der Verbandsaustritt selbst als wirksam angesehen wird, eine Loslösung der Tarifbindung des/der AG von dessen/deren Verbandsmitgliedschaft erfolgt, wobei diese aber letztlich auf der mitgliedschaftlichen Bindung beruhen soll. Auf dieser Basis wird dann im zweiten Kapitel auf die vereinsrechtliche Ausgangslage eingegangen, die einem Blitzaustritt bzw -wechsel eigentlich nicht entgegensteht. Im nächsten umfangreicheren Kapitel wird dann auf die tarifrechtliche Rechtfertigung der Tarifgeltung ohne Mitgliedschaft eingegangen, die ja eigentlich nur als „Nachbindung“ (§ 3 Abs 3 TVG) vorgesehen ist. Minutiös zerlegt Heinz die Argumentation des BAG in ihre Einzelteile, um darzulegen, dass diese mit der im deutschen Tarifrecht angelegten mitgliedschaftlich, individuell und freiheitlich konzipierten Tarifautonomie im Widerspruch steht. Ebenso gründlich wird dann im folgenden Kapitel unter zivilrechtlichen Gesichtspunkten das Bestehen von Informationspflichten bzw Erfüllungsansprüchen des AG-Verbandes geprüft und verneint. Das darauf folgende Kapitel behandelt die verfassungsrechtliche Frage, inwieweit die „Vorbindung“ wegen Informationspflichtverletzung auf die Drittwirkungsklausel des Grundrechtes auf Koalitionsfreiheit in Art 9 Abs 3 GG gegründet werden kann. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass das Koalitionsgrundrecht vom Individuum aus gegründet ist; die BAG-Rsp könne daher – egal ob mit der gewerkschaftlichen Rechtsposition oder der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie argumentiert wird – nicht überzeugen.

Das vorliegende Werk bietet eine gründliche und fundierte Aufarbeitung eines aktuellen und in der Fachwelt heiß diskutierten Spezialthemas des deutschen Tarifvertragsrechts, dem sogenannten „Blitzaustritt“ bzw „Blitzwechsel“. Der Befund der Autorin fällt dabei sehr kritisch aus und wird wohl vor allem von jenen LeserInnen geteilt werden, die das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit als dem Individuum eingeräumtes Recht ansehen; bei einer stärkeren Betonung kollektiver und systemischer Elemente könnte dieser hingegen auch anders ausfallen.