Grabenwarter (Hrsg) Europäischer Grundrechteschutz

Nomos Verlag, Baden-Baden 2014, 874 Seiten, gebunden, € 148,–

SUSANNEAUER-MAYER (SALZBURG)

Seit dem Abschluss, vor allem aber seit dem Inkrafttreten der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ (EGC) mit dem Vertrag von Lissabon am 1.12.2009 sind zahlreiche Kommentare zur Europäischen Grundrechtecharta erschienen (so etwa jüngst Holoubek/Lienbacher [Hrsg], Charta der Grundrechte der Europäischen Union [Manz 2014]; Meyer [Hrsg], Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 [Nomos 2014]; Peers/Hervey/Kenner/Ward [Hrsg], The EU Charter of Fundamental Rights. A Commentary [Beck/Hart/Nomos 2014]; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union2 [Beck 2013]). Diesen ist gemeinsam, dass sich die Darstellung letztlich zwangsläufig nicht auf die Vorgaben der EGC und die Rsp des EuGH beschränken kann. Denn wenngleich erst seit Inkrafttreten der Charta auch auf Ebene der EU ein eigener verbindlicher Grundrechtekatalog existiert, waren grundrechtliche Garantien nach dem Unionsrecht auch vorher zu beachten (vgl insb ex- Art 6 EUV) und wurden vom EuGH insb unter Rückgriff auf die „Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ und die Vorgaben der EMRK konkretisiert. Auch nach Inkrafttreten der EGC kommt vor allem der EMRK und der Rsp des EGMR herausragende Bedeutung zu. Dies nicht nur wegen der vielfach korrespondierenden Garantien, sondern vor allem angesichts der ausdrücklichen Anordnung des Art 6 Abs 3 EU-Vertrag, wonach die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind. Dies wird sich durch den von Art 6 Abs 2 EU-Vertrag vorgesehenen Beitritt der EU zur EMRK noch verstärken.

Schon der Titel „Europäischer Grundrechteschutz“ des von Christoph Grabenwarter (Wirtschaftsuniversität Wien) im deutschen Nomos Verlag herausgegebenen Bandes 2 der von Peter-Christian Müller-Graff (Universität Heidelberg) und Armin Hatje (Universität Hamburg) herausgegebenen zehnbändigen „Enzyklopädie Europarecht“ macht deutlich, dass dieser – im Lichte des Ausgeführten völlig überzeugend – nicht nur bzw vorwiegend auf eine Bearbeitung der Chartagrundrechte abstellt. Es handelt sich vielmehr um eine Darstellung des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes unter spezifischer Berücksichtigung der für deren Entwicklung maßgeblichen Determinanten, also der nationalen Verfassungen und vor allem der EMRK (idS auch der Herausgeber im Vorwort, S 7).

Ziel der vorliegenden Enzyklopädie war es dem Vorwort zufolge einen Beitrag zum Erwerb möglichst großer Kenntnisse dieser, auch für die Rsp des EuGH relevanten, Rechtsschichten sowie zur wissenschaftlichen Durchdringung der Wechselbeziehungen zwischen diesen zu leisten. Ua aus diesem Grund wurde nicht der Weg einer (schlichten) Kommentierung der Bestimmungen der Charta gewählt. Vielmehr werden zunächst in den (mehr als 260 Seiten umfassenden) §§ 1-6 eingehend die grundsätzlichen Fragen der Funktionen der Grundrechte, der Grundrechtsberechtigten und -verpflichteten, des Schutzbereiches, der Schrankendogmatik und des gerichtlichen Schutzes erörtert. Erst im Anschluss daran erfolgt (in den §§ 7-19) eine Auseinandersetzung mit den Grundrechtsinhalten. Auch hier werden jedoch nicht die einzelnen Chartabestimmungen kommentiert, sondern Gruppen systematisch zusammengefasst und134 sodann einer grundsätzlichen Analyse unterzogen (wobei eine vertiefte Betrachtung der kulturellen und politischen Rechte einer zweiten Auflage vorbehalten wurde). Das Vorwort spricht im gegebenen Zusammenhang zu Recht von der Gliederung in einen allgemeinen und einen besonderen Teil. Im Inhaltsverzeichnis spiegelt sich diese Gliederung freilich nicht explizit wider. Wenngleich ein Blick auf die Kapitelüberschriften hier Klarheit bringt, wäre auch die optische „Sichtbarmachung“ der beiden Teile durchaus sinnvoll gewesen.

Hinsichtlich Art und Stil der Bearbeitung wurden den VerfasserInnen – bei denen es sich fast ausschließlich um UniversitätsprofessorInnen handelt – im Lichte der Unterschiedlichkeit der Einzelgewährungen und der Vielfalt an Beziehungen zu anderen Normen bewusst keine Vorgaben gemacht (vgl Vorwort, S 8). Allen Bearbeitungen gemeinsam ist damit nur die diesen jeweils vorangestellte ausführliche Literaturübersicht und das abschließende Verzeichnis wichtiger Entscheidungen. Letzteres ist vor allem insofern sehr nützlich, als die relevanten Entscheidungen zum jeweiligen Thema auf einen Blick erfasst werden können und daher nicht mühsam aus den Fußnoten (oder allenfalls einem Gesamtentscheidungsregister) „herausgefiltert“ werden müssen.

Im Übrigen fallen die Ausführungen nicht nur hinsichtlich der „Dichte“ unterschiedlich aus, sondern folgen auch keiner einheitlichen (Grob-)Gliederung. Dies stellt jedoch schon deshalb kein Manko dar, da auch vorgegebene „Kommentierungsmuster“ letztlich nichts an der Heterogenität der jeweils relevanten Fragestellungen, aber auch dem unterschiedlichen Stil verschiedener AutorInnen zu ändern vermögen. Die durch gleichartige Kapitelüberschriften bewirkte Einheitlichkeit ist daher – wie andere Werke zeigen – häufig ohnedies nur eine sehr vordergründige, die für den/die LeserIn keinen spezifischen Mehrwert mit sich bringt.

Wenngleich viele grundrechtliche Garantien auch im Arbeitsrecht eine Rolle spielen, sind für dieses – neben dem „Allgemeinen Teil“ – vor allem die von Stefanie Schmahl (Universität Würzburg) und Robert Rebhahn (Universität Wien) besorgten Bearbeitungen der Gleichheitsgarantien (§ 15, S 551- 633) und der Rechte im Arbeitsleben (§ 16, S 635-682) von Bedeutung. In ihren über 80 Seiten starken Ausführungen befasst sich Schmahl eingehend mit den inzwischen sehr vielfältigen Gleichheitsgarantien bzw Antidiskriminierungsvorgaben. Neben sehr instruktiven grundsätzlichen Ausführungen greift die Autorin einige spezielle Aspekte geordnet nach thematischen Gesichtspunkten (anders ausgedrückt: nach Diskriminierungsmerkmalen) heraus (S 566 ff), wobei das Hauptaugenmerk auf die bereits vor Geltung der EGC im Unionsrecht verankerten Merkmale gelegt wird. Dies ist angesichts der Regelungen der Art 22-26 EGC sowie der vorliegenden EuGHJudikatur nachvollziehbar, ein wenig schade ist jedoch, dass damit erneut vor allem den bereits in zahlreichen Publikationen (insb auch Kommentaren zum GlBG bzw zum deutschen AGG) aufgearbeiteten Merkmalen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dies tut der Qualität der Bearbeitung in ihrer Gesamtheit jedoch keinen Abbruch.

Rebhahn setzt sich in seiner Erläuterung der als „Rechte des Arbeitslebens“ zusammengefassten Art 27-33 EGC nach einer Schilderung des relevanten „Rahmens“ zunächst eingehend mit den nach wie vor nicht eindeutig geklärten, aber umso bedeutsameren Fragen der Verbindlichkeit der Charta (vor allem für die Mitgliedstaaten) und – unter dem Titel „Wirkungsweise der Grundrechte“ – der Einordnung der Art 27 ff als (echte) Rechte oder bloße Grundsätze, deren Auslegung und Privatwirkung auseinander. Erst nach diesen für sich schon sehr aufschlussreichen Ausführungen geht der Autor näher auf die einzelnen Grundrechtsinhalte ein. Rebhahn hebt mehrfach insb den wichtigen Umstand hervor, dass die jeweiligen Vorgaben für die Mitgliedstaaten nur relevant sind/wären, soweit die erfassten Maßnahmen/Regelungen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen (vgl zB S 664, 667 f, 672 f). In Bezug auf die Privatwirkung geht er angesichts der weitgehend unklaren Rechtslage (und vor allem auch Rsp des EuGH) überzeugend davon aus, dass die Gerichte eine Verdrängung entgegenstehenden nationalen Rechts oder gar eine unmittelbare Verpflichtung bzw Berechtigung Privater in Bezug auf die §§ 27 ff derzeit nur nach positiver Beantwortung eines entsprechenden Vorabentscheidungsersuchens durch den EuGH annehmen dürften (S 660). Letzterer hat zwischenzeitig eine solche Privatwirkung in der Rs Association de médiation sociale (EuGH 15.1.2014, C-176/12) in Bezug auf Art 27 vor allem unter Verweis darauf, dass ein Recht auf Unterrichtung und Anhörung ausdrücklich nur in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein müsse, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen seien, verneint. Entsprechendes müsste daher wohl jedenfalls für die einen gleichlautenden Vorbehalt enthaltenden Art 28 und 30 gelten.

Aus sozialrechtlicher Sicht spezifisch interessant ist schließlich die ebenfalls gelungene Bearbeitung der Sozialen Rechte (§ 17, S 683-738) von Marc Bungenberg (Universität Siegen). Nach eher knapp gehaltenen allgemeinen Ausführungen (ua wiederum zur Unterscheidung Grundrechte und Grundsätze) geht dieser jeweils gesondert auf die im Kapitel „Solidarität“ enthaltenen Art der EGC ein, wobei aus sozialrechtlicher Sicht vor allem die Art 34 und 35 relevant sind. Hier erörtert Bungenberg ua die – gerade in Bezug auf soziale Rechte brisante – Frage der durch Einzelne daraus ableitbaren Rechte bzw der Reichweite der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. Zutreffend legt er insb dar, dass die Ausgestaltung der Sozialsysteme den Mitgliedstaaten obliegt, weist aber auch auf das Bestehen bestimmter verpflichtender Mindeststandards – etwa in Bezug auf den Gesundheitsschutz auch nach Maßgabe der Art 3 und 8 EMRK – hin (vgl S 395, 697, 705).

Insgesamt stellt das vorliegende Werk eine wissenschaftlich fundierte und (dennoch) verständliche Aufarbeitung des Europäischen Grundrechteschutzes dar, die den NutzerInnen Informationen zu zahlreichen schwierigen Fragen bietet und weit mehr leistet als eine bloße Kommentierung einzelner Bestimmungen der EGC. Die Enzyklopädie „Europäischer Grundrechteschutz“ wird daher der eingangs geschilderten Zielsetzung einer verstärkten wissenschaftlichen Durchdringung des Themas voll und ganz gerecht und wird sicherlich zentralen Stellenwert in der „Grundrechtsliteratur“ einnehmen.