Aufenthaltsrecht versus sozialrechtliche Gleichbehandlung

EBERHARDEICHENHOFER (JENA)
Der Beitrag untersucht die Frage, welche Regeln für die Berechtigung für die von der Bedürftigkeit der Berechtigten abhängigen Mindestsicherungen gelten. Diese Überlegungen gehen von der Grundfrage nach den Folgen einer von Armut getriebenen Migration für die Sozialleistungsberechtigungen der EU-Mitgliedstaaten aus. Sie klärt deren Grundansatz: die Einbeziehung von Beschäftigten und Bewohnern in deren Sicherungssysteme, der auch dem EUKoordinierungsrecht entspricht. Dieses untersagt den Mitgliedstaaten darüber hinaus die Differenzierung unter EU-Bürgern nach deren Staatsangehörigkeit, wogegen im EU-Aufenthaltsrecht in Art 24 II RL 2004/38/EG bei der Gewährung von Sozialhilfe Differenzierungen zwischen In- und Ausländern erlaubt sind. Die weiteren Ausführungen versuchen diese widerstreitenden Grundsätze auszugleichen, die klaren und offenen Antworten auf die dadurch aufgeworfenen Fragen aufzuzeigen und schließlich mögliche Alternativen zur Leistungsversagung für Migranten rechtlich zu würdigen.
  1. Einleitung

  2. Sozial- und europarechtliche Grundlagen

    1. Ausgangspunkt

    2. Sozialrechtliche Gleichbehandlung

      1. Deutsches Sozialrecht

      2. Europäisches Sozialrecht

      3. Abweichung von diesen Regeln in § 7 I 2, Nr 2 SGB II

    3. Folgen für die Aufenthaltsbegründung bei Bedürftigkeit

  3. Klare Antworten und offene Fragen

    1. Vorrang von EU-Recht

    2. Unklarheiten allenthalben!

    3. Einzelne Problemfälle

  4. Welche Lösungen kommen in Betracht?

    1. Leistungsversagung

    2. Ausweisung?

    3. „Missbrauch“ des Freizügigkeitsrechts?

    4. Wartezeit?

    5. Genaue Prüfung des Wohnsitzes

  5. Sozialer Schutz von Migranten im Raum ohne Binnengrenzen

1.
Einleitung

Kaum ein Thema steht auf den zahlreichen unterschiedlichen Foren des europapolitischen Diskurses heute ähnlich im Zentrum wie das Verhältnis von Aufenthaltsrecht und sozialrechtlicher Gleichbehandlung. Euroskeptiker finden Anklang mit der regelmäßig rhetorisch gemeinten Frage, ob Zuwanderer die gleichen sozialen Rechte wie Einheimische hätten. Bundeskanzlerin Angela Merkel widmete sich in ihrer vor beiden Häusern des britischen Parlaments gehaltenen Rede* diesem Thema, nicht zuletzt, weil es auch im Vereinigten Königreich intensiv und kontrovers diskutiert wird.* Diese Debatte wird in allen Mitgliedstaaten der EU geführt. Ihr geht es fürwahr um das große Ganze: Was heißt Sozialstaatlichkeit unter den Bedingungen europäischer Integration: für wen ist der Sozialstaat in einer Welt offener Grenzen da und warum? Es geht um das Bezahlen durch einzelne Mitgliedstaaten für Personen, deren „Zugehörigkeit“ zu diesen zweifelhaft erscheint.

Diese Auseinandersetzung sollte nicht vornehmlich empirisch über das in Prozent oder absolute Zahlen zu fassende Ausmaß staatlicher Unterstützung geführt werden, sondern der Frage nachgehen, ob – und falls ja – wie Migration und Sozialleistungsberechtigung je zusammengehen könnten.

Diese Problematik ist von grundsätzlicher Bedeutung. Solange Sozialleistungen primär durch die einzelnen Staaten gewährleistet werden, fragt sich, für wen der80 einzelne Sozialstaat da zu sein hat. Jeder Akt sozialrechtlicher Inklusion beruht auf einer – zu präzisierenden – Vorstellung der Zugehörigkeit zu einem staatlichen Gemeinwesen.* Ihm wohnt damit notwendig auch eine Entscheidung zur Exklusion derer inne, die durch das Recht eines Staates nicht geschützt werden sollen – nicht, weil sie dieses Schutzes nicht bedürften, sondern weil sich ihrer ein anderer Staat annehmen sollte! Gerade in der EU, die auf den Austausch nicht nur von Waren, Geldern und Diensten, sondern nicht minder wichtig auch von Menschen angelegt ist, erlangt daher die Frage eine elementare Bedeutung: Wie steht es um das Verhältnis von Aufenthaltsbegründung und sozialrechtlicher Gleichbehandlung?

Ein traditionelles Vorstellungsbild – in den zeitgenössischen Debatten durch die Denkfigur des „social citizenship“* intellektuell veredelt – neigt dazu, die Sozialleistungsberechtigung des Menschen an dessen Staatsangehörigkeit zu knüpfen. Diese Vorstellung evozieren jedenfalls die europaskeptischen „Bewegungen“, wenn sie fordern, der inländische Sozialstaat sei der Sozialstaat der Inländer, weshalb hilfsbedürftige Ausländer gefälligst bei „sich zu Hause“ um Hilfe nachsuchen mögen.

In der EU erlangt der Unterschied von In- und Ausland bei der Bestimmung der Zuständigkeiten für soziale Leistungen Gewicht. Denn die EU erkennt bei aller von den Mitgliedstaaten allerdings nicht hinreichend an – und wahrgenommenen – unterstützenden Zuständigkeit in der Sozialpolitik nach Art 153 I AEUV in Art 153 IV AEUV den Mitgliedstaaten jedenfalls die Befugnis zur Verwaltung und Finanzierung ihrer Systeme sozialer Sicherheit zu. Dagegen ist in der EU die Unterscheidung zwischen In- und Ausländern untersagt. Denn das EU-Recht gebietet die Gleichbehandlung unter den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten (Art 18 AEUV).* Art 20 AEUV anerkennt eine aus der Mitgliedstaaten-Angehörigkeit folgende Unionsbürgerschaft, aus der für jeden Unionsbürger als dem Staatsangehörigen jeden einzelnen Mitgliedstaates unmittelbare Rechte auf Niederlassung und Aufenthalt in jedem Mitgliedstaat folgen.* Insb für AN besteht darüber hinaus die in Art 45 AEUV geregelte Freizügigkeit als Grundfreiheit. Sie umschließt das Recht auf Arbeitssuche in jedem Mitgliedstaat und die Befugnis zur Arbeitsaufnahme und Wohnsitzbegründung im Staat der Erwerbstätigkeit und schließlich das Recht zum Verbleib in dem Staat der vormaligen Erwerbstätigkeit.

Können EU-Bürger vor diesem Hintergrund von der Inanspruchnahme jener Sozialleistungen ausgeschlossen werden, die eine Mindestsicherung für Arbeitsuchende oder Pensionisten vorsehen, wenn sie sich in einem Mitgliedstaat gewöhnlich aufhalten, ohne dessen Staatsangehörigkeit innezuhaben? Wie verhalten sich die Rechte auf Aufenthaltsbegründung und sozialrechtliche Gleichbehandlung: Hat diese gegenüber jener zurückzustehen oder fordert diese, auch jene zu gestatten?

2.
Sozial- und europarechtliche Grundlagen
2.1.
Ausgangspunkt

Bei Regelung aller grenzüberschreitenden Beziehungen der sozialen Sicherheit und sonstigen sozialen Schutzes gebührt dem EU-Recht gegenüber dem Recht jedes Mitgliedstaates der Vorrang. Die Mitgliedstaaten sind also nicht frei, den Zugang von Zuwanderern aus anderen EU-Staaten zu ihren Sozialleistungen zu gestalten, sondern müssen die vom EU-Recht vorgeschriebene Nicht-Diskriminierung unter EU-Bürgern wahren und die dazu geschaffenen Regeln befolgen. In letzter Konsequenz wacht der EuGH darüber, dass jeder Mitgliedstaat diesen sich aus EU-Recht ergebenen Verpflichtungen zur sozialrechtlichen Gleichbehandlung nachkommt. Dieses gestattet den Mitgliedstaaten im Aufenthaltsrecht zur Abwendung einzelner sozialrechtlich abträglicher Folgen, einzelne Beschränkungen für die Aufenthaltsbegründung vorzusehen.

2.2.
Sozialrechtliche Gleichbehandlung
2.2.1.
Deutsches Sozialrecht

Der deutsche Sozialstaat ist nicht der Sozialstaat der Deutschen. §§ 30 SGB I, 3-6 SGB IV sehen deutsche Sozialleistungen für alle vor, die in Deutschland arbeiten und/oder wohnen. Ersteres entspricht dem österreichischen Recht (§ 3 ASVG). Die Rechte auf Sozialleistungen sind deshalb keine an die deutsche Staatsangehörigkeit gebundene Berechtigung. Social citizenship7) bedeutet nicht: Nur den Bürgern eines Staates dessen Sozialleistungen! sondern: zum „Bürgerstatus“ gehört soziale Teilhabe! Es bleibt aber offen, was „Bürger“ heißt. Die Sozialleistungsberechtigung fließt aus der Einbeziehung in die deutsche Gesellschaft, welche durch Erwerbsarbeit und Wohnsitz in Deutschland begründet wird. Daher wurde die vormalige Erstreckung deutschen Sozialhilferechts auf im Ausland wohnende Deutsche aufgegeben.* Der deutsche Staat kommt für Deutsche außerhalb der deutschen Grenzen nur noch vorübergehend bei Bedürftigkeit auf. Dann können deutsche Auslandsvertretungen darlehensweise Hilfe gewähren, um nach Deutschland zurückzukehren.*

Dass deutsches Sozialrecht vom gewöhnlichen Inlandsaufenthalt abhängt, der dem inländischen Wohnsitz entspricht, folgt zunächst aus § 30 SGB I. Denn Sozialhilfe sichert das kulturelle Existenzminimum (§§ 1 SGB XII, 1 II SGB II, § 9 SGB I).* Der deutsche Sozialstaat sichert dieses Minimum allen im Inland lebenden Personen, auch AusländerInnen. Denn das Recht auf Fürsorge ist kein Bürgerrecht, sondern ein allen81 Menschen zustehendes Menschenrecht.* Die §§ 3-6 SGB IV erstrecken deutsches Sozialversicherungsrecht auf alle in Deutschland Beschäftigten unabhängig von deren Staatsangehörigkeit oder Wohnort. Denn die soziale Sicherheit wird durch Beiträge aufgebracht, die aus Arbeitseinkommen oder Gewinn, also dem Ertrag von Erwerbsarbeit, stammen und den Schutz der Erwerbstätigen vor Risiken aus der Erwerbsarbeit (Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten, Krankheit, Erwerbsminderung, Arbeitslosigkeit, Alter und Tod) bezwecken. Solchen Risiken ist jeder Erwerbstätige unabhängig von Staatsangehörigkeit und Wohnsitz ausgesetzt, der einer Erwerbsarbeit in Deutschland nachgeht.

2.2.2.
Europäisches Sozialrecht

Das deutsche Recht entspricht dem europäischen Sozialrecht, das seit 1959 als koordinierendes Sozialrecht* besteht. In Wahrnehmung der EU-Kompetenz aus Art 4 II lit a), lit b) und 48 AEUV regelt es die zwischenstaatliche Verflechtung der Sozialrechte mit Vorrang gegenüber den Mitgliedstaaten. Sie bestimmen den internationalen Geltungsbereich der Sozialrechte der Mitgliedstaaten. Seine Regeln sollen die internationalen Wirkungen nationalen Sozialrechts EU-weit sichern.* Sie gelten für sämtliche Mitgliedstaaten als EU-Kollisions- und Koordinationsrecht für alle Zweige sozialer Sicherheit (Art 3 VO [EG] 883/2004). Art 4 und 11 VO (EG) 883/2004 gebieten Gleichbehandlung* unter den EU-Staatsangehörigen bei den Leistungen sozialer Sicherheit und sämtlichen sozialen Vergünstigungen (Art 7 II VO [EG] 492/2011). Es bestimmt im Übrigen, dass sich die soziale Sicherung für Erwerbstätige nach dem Staat ihrer jeweiligen Erwerbsarbeit* und für Nichterwerbstätige nach ihrem Wohnstaat* richtet. Diese Regelungen ermöglichen die Freizügigkeit, weil deren Gebrauch nicht mit dem Verlust sozialer Rechte einhergeht. EU-Recht bewahrt so die EU-Bürger bei Wahrnehmung ihrer EU-Freiheiten vor jeglichem Verlust sozialer Rechte.*

2.2.3.
Abweichung von diesen Regeln in § 7 I 2, Nr 2 SGB II

Von diesen Regeln weicht die deutsche Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidend ab. Dies ist zwar grundsätzlich erlaubt, weil die §§ 30 SGB I, 3-6 SGB IV unter dem Vorbehalt spezieller Regeln stehen (§ 68 SGB I).

§ 7 I 1 Nr 4 SGB II berechtigt erwerbsfähige Personen zu SGB II-Leistungen, soweit sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. Davon sind nach § 7 I 2 Nr 2, 3 SGB II jedoch sämtliche AusländerInnen ausgenommen, die im Inland nicht Freizügigkeit wahrnehmen, sondern sich zur Arbeitssuche oder als Asylbewerber aufhalten und Leistungen nach dem AsylbLG beziehen. § 7 I 2 Nr 1 stellt die nach Art 45 AEUV die Freizügigkeit wahrnehmenden Angehörigen anderer EU-Staaten den Deutschen gleich und bezieht sie in die SGB II-Leistungsberechtigung ein, soweit sie bereits in Deutschland gearbeitet haben. Daher können die vor Eintritt der Arbeitslosigkeit im Inland erwerbstätigen EU-Bürger auch SGB II-Leistungen beziehen.

Dagegen nimmt § 7 I 2 Nr 2 SGB II die Arbeitsuchenden ausländischer Staatsangehörigkeit aus dieser Berechtigung grundsätzlich aus. Diese Unterscheidung wird namentlich praktisch, wenn das Erwerbseinkommen eines im Inland beschäftigten und wohnhaften EUBürgers niedriger als der nach SGB II fällige Betrag ist, weshalb der Differenzbetrag durch Aufstockung ausgeglichen wird.* Hier besteht nach § 7 I 2 Nr 1 SGB II Anspruch, nicht aber, wenn keine Arbeit ausgeübt, sondern eine solche gesucht wird. Der Ausschluss der Bezieher von Leistungen nach dem AsylbLG ist unterdessen hinfällig geworden, weil das BVerfG* inzwischen die Bedarfssätze des AsylbLG für zu niedrig, weil das soziokulturelle Existenzminimum unterschreitend, erachtet hat, und damit eine Erstreckung des SGB II auf diesen Personenkreis nahelegt.

Einzig kontrovers ist heute der Leistungsausschluss Arbeitsuchender (§ 7 I 2 Nr 2 SGB II).* Darf für diesen Personenkreis zwischen In- und AusländerInnen differenziert werden? Die Unterscheidung beruht auf der Annahme, Deutsche wohnten bei Arbeitssuche in Deutschland, AusländerInnen dagegen „im Ausland“. Weil Arbeitsuchende keine Erwerbstätigkeit besitzen, wird durch sie eine Bindung zur Rechtsordnung des Staates der Arbeitssuche nicht begründet. Arbeitsuchende mit Wohnsitz im Ausland sind nach § 7 I 1 Nr 4 SGB II nicht anspruchsberechtigt.

Der Gesetzgeber* begründet in § 7 I 2 Nr 2 SGB II eine Doppelanknüpfung: Die Berechtigung folgt aus Inlandswohnsitz und inländischer Staatsangehörigkeit. In der Kumulation von Anspruchsvoraussetzungen geht sie über § 30 SGB I hinaus, wonach der Wohnort genügt. Sie schließt sämtliche „AusländerInnen“ aus der SGB II-Berechtigung aus, wiewohl das deutsche Sozialrecht In- und AusländerInnen gleich stellt. Dies gilt auch, wenn ein in Deutschland ansässiger, bisher als Studierender, Ehegatte oder Kind wohnender und nicht erwerbstätiger EU-Bürger erstmals Arbeit sucht. Dann besteht zwar ein Inlandswohnsitz; der Leis-82tungsausschluss gründet aber einzig in der fehlenden deutschen Staatsangehörigkeit. Diese Differenzierung widerspricht der heutigen Zusammensetzung der inländischen Wohnbevölkerung.* Denn in Deutschland sind auch viele Millionen „AusländerInnen“ zu Hause.

2.3.
Folgen für die Aufenthalts begründung bei Bedürftigkeit

Die Freizügigkeit war anfangs auf AN beschränkt. Sie stand auch seit jeher den Selbständigen als Niederlassungsfreiheit zu. Seit 20 Jahren ist sie mit Schaffung der Unionsbürgerschaft (Art 20 f AEUV) auch Nichterwerbstätigen offen.* Das Primärrecht begrenzt grundsätzlich die Freizügigkeit für UnionsbürgerInnen nicht. Allerdings gebietet Sekundärrecht, dass UnionsbürgerInnen bei Wahrnehmung der Freizügigkeit über einen eigenen Krankenversicherungsschutz und hinreichende finanzielle Mittel verfügen müssen, um den eigenen Lebensunterhalt zu sichern (Art 7 I b RL 2004/38/ EG). Die Inanspruchnahme von Sozialhilfe durch EUBürgerInnen oder deren Familienangehörige darf aber nicht automatisch zu einer Ausweisung wegen Sozialhilfebedürftigkeit führen* (Art 14 III RL 2004/38/EG). Das in der RL über die Unionsbürger-Freizügigkeit enthaltene Aufenthaltsrecht ist also enger im Hinblick auf die Freizügigkeit als das die Unionsbürgerfreizügigkeit umfassend gewährleistende Primärrecht.

Die Beschränkung der Freizügigkeit auf UnionsbürgerInnen mit Krankenversicherungsschutz und hinreichenden Existenzmitteln und der darin liegende Ausschluss der Bedürftigen von der Freizügigkeit kann rechtlich allerdings nur Bestand haben, falls er seinerseits mit Primärrecht im Einklang steht. Jede Beschränkung der Unionsbürgerstellung für Arme muss durch ein gewichtiges Gemeinwohlziel gerechtfertigt sein.* Die allgemeine Rechtfertigung für einen solchen Ausschluss ist die Kostenlast des Wohlfahrtsstaates, die durch die Wohnsitzbegründung und die daran gebundene Zuständigkeit des Sozialstaates ausgelöst wird. Ist ein Sozialstaat für einen Bedürftigen zuständig, soll dieser nicht durch Wohnsitzverlagerung in einen anderen Staat dessen Einstandspflicht auslösen (§ 23 III SGB XII).* Darin liegt der allgemeine Gedanke des unstatthaften forum shopping – und damit des fraus legis: Niemand kann die Vorteile eines Rechtes ziehen, in das er sich aus freien Stücken ausschließlich zwecks Vorteilserlangung begeben hat. Darin wird eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung jedes Staates gesehen, weshalb für die EmpfängerInnen bedürftigkeitsabhängiger Sozialleistungen Beschränkungen der Freizügigkeit gerechtfertigt erscheinen. Aber sind diese Erwägungen im Raum ohne Binnengrenzen tragfähig? Schon seit Anbeginn gab Freizügigkeit den BürgerInnen aus strukturschwachen Räumen der EU das Recht, in anderen Staaten Arbeit, Wohlstand und Glück zu suchen – mit erheblichen Folgen für den Sozialstaat!

Manche EuGH-E* ergab auch, dass der EuGH eine Vorenthaltung von Sozialhilfeleistungen nicht billigte, sofern die Hilfe keine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für einen Mitgliedstaat darstellt, weil sie wirtschaftlich betrachtet nicht ins Gewicht fällt. Vielmehr folgt umgekehrt aus Art 24 I RL 2011/95/EU der Gleichbehandlung der UnionsbürgerInnen, dass EUBürgerInnen auch bei der Arbeit* oder Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedstaat nicht gegenüber den Angehörigen des Staates der Arbeitssuche benachteiligt werden dürfen.* Daraus folgt, dass bei Wohnsitz in einem Mitgliedstaat eine Differenzierung bei der Sozialleistungsgewährung nach der Staatsangehörigkeit generell unstatthaft ist.

Allerdings gestattet Art 24 II RL 2004/38/EG, dass abweichend von dieser Grundregel der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet sei, „anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren“.

Da diese Regel eine Grundfreiheit beschränkt, ist sie nach der Rsp* nur zur Wahrung eines wichtigen Gemeinwohlanliegens zu rechtfertigen. Der EuGH* erkennt auf Grund seiner Auslegung von Art 24 II RL 2004/38/EG den Mitgliedstaaten die Befugnis zu, bei unzumutbarer Belastung eine abweichende Regelung zu treffen. Allerdings ist höchst unklar, wann eine solche vorliegt. Der Gerichtshof gibt auf diese alles entscheidende Frage keine konkrete Antwort, sondern überlässt sie den Mitgliedstaaten: Wie viele Berechtigte müssen wie viel Leistungen beanspruchen können, damit die Anspruchsvoraussetzungen generell versagt werden dürfen? Wie die unzumutbare Belastung konkret zu fassen ist, bleibt ebenfalls unklar: individuell oder pauschal, konkret oder potentiell? Wird diese Norm nicht – bei Lichte betrachtet – zur lex imperfecta? Und selbst wenn auf dieser Basis abweichende Regelungen geschaffen werden könnten, so hätte dies die Uneinheitlichkeit des Europäischen zwischenstaatlichen Sozialrechts zur Folge – ein Ergebnis, welches zu vermeiden dem in der VO (EG) 883/2004 geschaffenen Recht seinen ganzen Sinn und seine eigentliche Funktionsbestimmung gibt.

Kann dies richtig sein im Lichte der europäischen Grundrechte auf Arbeitssuche in einem anderen Mit-83gliedstaat (Art 15 II EU-Grundrechtecharta) und auf Sozialhilfe (Art 34 III EU-Grundrechtecharta)? Und kann im Ernst eine Sozialleistungsberechtigung geringen Umfangs rechtlich geschuldet sein, während sie bei längerem oder üppigerem Bezug entfallen müsste? Es ist doch offenkundig, wie wenig praktikabel derartige Begrenzungen sind.

3.
Klare Antworten und offene Fragen
3.1.
Vorrang von EU-Recht

Wegen des in Art 4 III EUV normierten Vorrangs des Unionsrechts* gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten, wie dem in §§ 30 II SGB I, 6 SGB IV ausdrücklich formulierten Nachrang deutschen gegenüber supranationalen Rechts,* geht europäisches deutschem Recht vor. Dies gilt auch für die Bestimmung des internationalen Geltungsbereiches deutschen Rechts der Grundsicherung für Arbeitsuchende gegenüber dem Recht der EU. Das BSG hat deswegen mit Beschluss vom 12.12.2013* dem EuGH die Frage nach der Vereinbarkeit des § 7 I 1 Nr 4, I 2 Nr 2 SGB IV im Hinblick auf den Ausschluss der „AusländerInnen“ für in Deutschland ansässige und arbeitsuchende EU-BürgerInnen vorgegeben.*

Es legte dem EuGH drei Fragen zur Auslegung des § 7 I 2 Nr 2 SGB II vor, nämlich ob das Gebot der Gleichbehandlung für Staatsangehörige (Art 4 VO [EG] 883/2004) auch für die in Art 70 VO (EG) 883/2004 Anhang X aufgeführten beitragsunabhängigen Geldleistungen gelte. Falls dies zu bejahen sei, wird weiter gefragt, ob nach Art 24 II RL 2004/38/EG eine Begrenzung des Zugangs zu solchen Leistungen statthaft sei. Schließlich wird der EuGH um Klärung der Frage ersucht, inwieweit die Freizügigkeit nach Art 45 AEUV für Arbeitsuchende das Recht umfasse, für die in einem Staat stattfindende Arbeitssuche soziale Leistungen zu erlangen.

3.2.
Unklarheiten allenthalben!

Die Unionsbürger-RL 2004 verfolgte das Ziel, die Armutsmigration aus der EU-rechtlich zulässigen Wanderung herauszunehmen.* Die Unionsbürgerfreizügigkeit sollte auf diejenigen beschränkt sein, die ihren Lebensunterhalt und den Schutz bei Krankheit selbständig sichern können. Sie umfasse vornehmlich nicht das Recht, durch Wechsel des Wohnstaates die Zuständigkeit des zur Sozialhilfegewährung verpflichteten Mitgliedstaates einseitig zu verändern. Zehn Jahre Erfahrung mit dieser Regel zeigen aber, wie schwer sie zu handhaben und noch schwerer durchzuhalten ist. Beruht das ganze Regelwerk auf unrealistischen Annahmen?

3.3.
Einzelne Problemfälle

Das geltende Recht ist schwer zu handhaben, wenn zugewanderte AN im Inland niedrig bezahlte Arbeit leisten und deshalb den Lohn mit SGB II-Leistungen aufstocken. Der Zugewanderte erscheint hier sowohl als Beitragszahler als auch SGB II-Bezieher. Verarmung ist auch kein Dauerzustand, sondern Folge der Kontingenz menschlichen Lebens: Menschen sind tagaus, tagein von Verarmungsrisiken umgeben. Wer einmal in einem Staat Aufnahme gefunden hat, darf deswegen aus diesem nicht ausgewiesen werden, weil und wenn er nur vorübergehend Hilfe braucht. Daher hat der EuGH* die Regel formuliert, dass aus dem Verbot der Zuwanderung Bedürftiger nicht folge, dass AusländerInnen, die nach Aufenthaltsbegründung bedürftig werden, die den InländerInnen zustehende Sozialhilfe nicht vorenthalten werden darf. Eine solche Differenzierung verletzte das zwingende Gebot der Gleichbehandlung der UnionsbürgerInnen. Familiennachzug und die europaweite Nutzung von Bildungsangeboten lassen EU-BürgerInnen wandern, was einen Wechsel des Wohnstaates nach sich zieht.

Schließlich ist der Tatbestand einer armutsgetriebenen Wanderung nicht klar. Sind es Armutsflüchtlinge bzw RentnerInnen aus Deutschland, die nach Österreich übersiedeln und dort feststellen, dass die Rente wegen eines Differenzbetrages von € 120,– monatlich nicht das Niveau der österreichischen Ausgleichszulage erreicht?* Liegt dann die Wanderung eines Nichterwerbstätigen oder eines Erwerbstätigen vor, weil die Rente aus vormaliger Erwerbstätigkeit stammt und RentnerInnen nach Beendigung ihrer Tätigkeit an der AN-Freizügigkeit partizipieren? Rechtlich betrachtet ist Arbeitssuche Teil der Freizügigkeit (Art 45 AEUV), Arbeit auch erlaubt, wenn sie schlecht bezahlt wird, Sozialhilfe auch in Europa ein Menschenrecht und die freie Ausfuhr von beitragsfinanzierten Sozialleistungen durch die Freizügigkeit (Art 7 VO [EG] 883/2004) gewährleistet. Ein realistischer Blick auf die differenzierten Probleme von Zuwanderung zeigt deshalb, dass die Unterscheidung zwischen den arbeitenden und nicht arbeitenden ZuwandererInnen schwer ist, weil oft ein clair-obscur vorliegt.

4.
Welche Lösungen kommen in Betracht?
4.1.
Leistungsversagung

Aus Anhang X, Art 70, 3 V VO (EG) 883/2004 folgt: SGB II-Leistungen sind beitragsunabhängige Geldleistungen und damit als Leistungen sozialer Sicherheit zu qualifizieren.* Diese Begriffsbildung bezieht sich auf sämtliche durch Steuern finanzierte Leistungen, die bei Eintritt eines sozialen Risikos Mindestsicherungen in Höhe des in einem Mitgliedstaat anerkannten Elementarbedarfs gewährleisten.*84

Das EU-Recht sieht dafür ein in den 1990er-Jahren geschaffenes eigenes Koordinierungsrecht vor.* Dieses beruht auf drei Grundansätzen: Anknüpfung an den Wohnstaat, Nicht-Diskriminierung auf Grund der Staatsangehörigkeit des Berechtigten (Art 4 VO [EG] 883/2004) und schließlich Nicht-Export der Geldleistung – im Gegensatz zu den von Art 7 VO (EG) 883/2004 erfassten beitragsabhängigen Geldleistungen. Da die grenzüberschreitenden Leistungen sozialer Sicherheit durch europäisches koordinierendes Sozialrecht und nicht durch das Zuwanderungsrecht der einzelnen Mitgliedstaaten zu regeln sind, folgt aus Art 11 III lit a) VO (EG) 883/2004 klar und eindeutig, dass sich die Berechtigung für Leistungen der Grundsicherung nach dem jeweiligen Wohnsitz bemisst. Die §§ 7 I 1 Nr 4, 7 I 2 Nr 2 SGB II genügen diesem Erfordernis nicht und wären deshalb vom EuGH zu verwerfen. Die in § 23 SGB XII vorgesehene Ausschlusslösung kann danach aus europarechtlichen Gründen nicht auf die Grundsicherung übertragen werden.

Sollten die Armutsflüchtlinge im Übrigen allen Ernstes ohne Hilfe bleiben, weil sie nicht in den Staat ihres gegenwärtigen aktuellen Aufenthalts gehören, so würde damit die Verwahrlosung von Quartieren, in denen sie Aufnahme finden, geradezu vertieft, wogegen bei der Gewährung von Sozialhilfe die Möglichkeit bestünde, die Hilfe mit Bedingungen, Aktivierungen und sonstigen Obliegenheiten zu verbinden. Was wäre den Mitgliedstaaten denn geholfen, wenn sie wegen der Nichtgewährung von Sozialhilfe eine zusätzliche Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auslösten? Zu deren Abwendung war die Sozialhilfe ja gerade historisch gedacht.

4.2.
Ausweisung?

Eine Ausweisung wegen Sozialhilfebezuges ist zwar denkbar; Art 14 RL 2004/38/EG steht aber einem Automatismus entgegen. Eine Ausweisung kommt nur unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit in Betracht. Dann müssen der nicht unbeträchtliche Aufwand und der relativ geringe Ertrag in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Aber die Grundfreiheit der Unionsbürgerschaft hindert eine dauerhafte Beschränkung. Und was hülfe es, wenn einzelne Staaten unter großem Aufwand einzelne Armutsflüchtlinge ausweisen würden, die aber nach der Ausweisung unversehens wieder einreisen könnten, wenn es ihnen bei der Wiedereinreise nur gelingt, ihren Aufenthalt selbständig zu bestreiten und Krankenversicherungsschutz zu gewährleisten? Nach Wiedererlangung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entfällt für die Beschränkung der Rechtsgrund. Die Glaubwürdigkeit der EU-Bürgerschaft nähme durch die Ausweisung mithin Schaden.

4.3.
„Missbrauch“ des Freizügigkeitsrechts?

Liegt in einer Wohnsitzverlegung zwecks Änderung des Sozialleistungsstatuts ein „Missbrauch der Freizügigkeit“? Wie soll der „Missbrauch“ von Rechten definiert werden? Entweder besteht ein Recht oder es besteht nicht – etwas Drittes gibt es nicht (tertium non datur). Besteht es und die Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedstaat ist nach Art 45 AEUV eine Grundfreiheit und nach Art 15 II EU-Grundrechtecharta ein Grundrecht, so ist seine Inanspruchnahme kein Missbrauch; besteht es dagegen nicht, so wäre seine Inanspruchnahme nur durch Täuschung vorstellbar. Aber ein Erschleichen von Sozialleistungen durch Vorspiegelung von Anspruchsvoraussetzungen ist ein Betrug und damit strafbar. Was ist also ein Missbrauch von Freizügigkeit oder Leistungsansprüchen, von dessen tragender Bedeutung die Kommission im Kontext der Stärkung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion – namentlich der Überwindung der darin herrschenden Arbeitslosigkeit – redet:* Etwas anderes als das Recht, das die KritikerInnen den berechtigten LeistungsempfängerInnen bloß nicht gewähren wollen, ohne dafür aber einen belastbaren Grund anzugeben?

4.4.
Wartezeit?

Denkbar wäre die Bindung der Anspruchsberechtigung an einen Wartezeit. Dafür gibt es durchaus auch einige Beispiele: Frankreich beschränkt seine Mindesteinkommen (RSA) – Berechtigung für Drittstaaterinnen auf diejenigen, welche zuvor fünf Jahre in Frankreich zum Zweck der Arbeitsausübung* rechtmäßigen Aufenthalt innehatten.

Der EuGH* verwarf dagegen eine Wartezeitregelung von zehn Jahren Wohnzeit für Nicht-Luxemburgerinnen als Voraussetzung für das luxemburgische Mindesteinkommen als einen Verstoß gegen Art 7 II VO (EWG) 1612/68 = Art 7 II VO (EG) 492/2011. Entsprechendes gilt für Geburtsbeihilfe an Drittstaaterinnen, die nicht wegen der Staatsangehörigkeit diskriminiert werden dürfen.* Der EuGH verwarf eine Regelung eines Mitgliedstaates, die vorsah, dass Arbeitsuchende nach dreimonatiger vergeblicher Suche den Mitgliedstaat verlassen müssen.* Es ist schließlich fraglich, ob eine auf Wartezeiten aufbauende Regelung mit Art 28 RL 2004/83/EG über Mindestanforderungen für Asylberechtigte in der sozialen Sicherheit im Einklang stünde. Danach dürfen Asylsuchende nicht schlechter als Daueraufenthalterinnen bei der Gewährung sozialen Schutzes gestellt sein.

4.5.
Genaue Prüfung des Wohnsitzes

Voraussetzung für die Zuständigkeit eines Staates ist jedoch der dauerhafte Wohnsitz des Berechtigten in85 einem Mitgliedstaat. Ein solcher wird jedenfalls nicht durch den bloß vorübergehenden Akt der Arbeitssuche begründet. Seine Feststellung steckt voller Schwierigkeiten und ist namentlich in einer international mobilen Gesellschaft mitunter äußerst schwer. Es ist nach Art 11 I VO (EG) 987/2009 zu prüfen, ob die in einem Mitgliedstaat Arbeitsuchenden dort auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Danach kommt es für den Wohnort auf die nachfolgend aufgeführten neun Kriterien an:

  1. familiäre Verhältnisse (Familienstand und familiäre Bindungen);

  2. Dauer und Kontinuität des Aufenthalts im betreffenden Mitgliedstaat;

  3. Beschäftigungssituation (Art und spezifische Merkmale einer ausgeübten Beschäftigung, insb der Ort, an dem eine solche Tätigkeit in der Regel ausgeübt wird, Dauerhaftigkeit der Beschäftigung und Dauer des Arbeitsvertrages);

  4. die Ausübung einer nicht bezahlten Tätigkeit;

  5. im Falle von Studierenden ihre Einkommensquelle;

  6. Wohnsituation, insb deren dauerhafter Charakter;

  7. Mitgliedstaat, der als der steuerliche Wohnsitz der Person gilt;

  8. Gründe für den Wohnortwechsel;

  9. der Wille der betreffenden Person, wie er sich aus einer Gesamtbetrachtung ergibt.

Aber diese Fragen lassen sich prinzipiell lösen, wenn festgestellt ist, dass eine Verlagerung des Mittelpunkts der sozialen Beziehungen eines Menschen stattgefunden hat.

Weil alle EU-Staaten Arbeitsgesellschaften sind, ist jeder erwerbsfähige Mensch zur Arbeitsaufnahme angehalten. Solche ist möglich und auch möglich zu machen, notfalls durch die vorübergehende Gewährleistung von Hilfe.

Jede Verlegung des Wohnsitzes ist mit erheblichen Kosten verbunden und die vorübergehende Aufnahme bei Obdachlosigkeit begründet zwar die Zuständigkeit des Staates des vorübergehenden tatsächlichen Aufenthalts, aber keinen Wohnsitz. Jede Wohnsitzverlegung zieht also – mitunter beträchtliche – Transaktionskosten nach sich, die von der einen Wohnsitz neu begründenden Person regelmäßig allein zu tragen sind. Dazu sind Arme nur selten imstande – Vermögende auf der Suche nach einem ihnen vorteilhaften Besteuerungsstaat dagegen sehr viel eher.

5.
Sozialer Schutz von Migranten im Raum ohne Binnengrenzen

In einem Raum ohne Binnengrenzen baut der soziale Schutz durch den einzelnen Staat und dessen Solidarität deshalb nicht auf eine seit alters und von Geburt an oder auf Grund schicksalhafter Zusammengehörigkeit getragene Gemeinschaft auf, sondern ist personell und zeitlich variabel geworden. Sie steht denen zu, die in ihnen aktuell leben und arbeiten – einerlei, welche Staatsangehörigkeit sie innehaben. Seit 2013 gilt im EU-Sozialrecht sogar die Regel,* dass eine sozialrechtliche Differenzierung zwischen EU-Bürgerinnen und Drittstaatsangehörigen unstatthaft ist. Die Staatsangehörigkeit spielt für Sozialleistungsberechtigungen seitdem keine Rolle mehr. Wer Sozialleistungen beansprucht, muss also nicht seinen Pass vorweisen.

Denn soziale Rechte sind primär Menschen- und nicht Bürgerrechte! Ist ihre Inanspruchnahme ein Recht, ist eine Ausweisung unstatthaft. Das EU-Recht hat in Art 34 III EU-Grundrechtecharta also den Rechtszustand vor Augen, den das Europäische Fürsorgeabkommen schon heute vorsieht: Nichtdiskriminierung im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit und Ausweisungsschutz bei Sozialhilfebezug. Es verwirklicht das Gleichbehandlungsgebot aller Staatsangehörigen und verbindet es mit dem Verbot der Ausweisung wegen Sozialhilfebedürftigkeit. Zu diesem hat Deutschland zwar im Hinblick auf die Grundsicherung einen Vorbehalt erklärt, aber das Abkommen gilt deshalb nach wie vor.

Dieses Modell wurde erstmals 1830 in einem Vertrag zwischen dem Königreich Bayern und dem Herzogtum Gotha-Coburg verankert. Es ist seit 1953 Grundlage des eine beträchtliche Zahl von EU-Staaten – darunter Österreich und Deutschland – verbindenden Europäischen Fürsorgeabkommens.

Seine Maximen müssen auch Europas Zukunft generell leiten, eingedenk dessen, dass im Sozialleistungsbezug ein philanthropisches = menschen(rechts)freundliches Ethos waltet, das in der Arie des Sarastro in der Mozart- Oper „Die Zauberflöte“ in Worte gefasst wird: „Und ist ein Mensch gefallen,/Führt Liebe ihn zur Pflicht./ Dann wandelt er an Freundeshand/Getrost und froh ins bess‘re Land.“86