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Interpretation der Ausnahme für Lehr- und Erziehungskräfte an Unterrichtsund Erziehungsanstalten im AZG

GERDAHEILEGGER

Die vom Gesetzgeber in der Ausnahmebestimmung des § 1 Abs 2 Z 6 AZG verwendeten Begriffe „Lehr- und Erziehungskräfte“ sowie „Unterrichts- und Erziehungsanstalten“ sind alternativ auszulegen, also iS von Lehrkräfte oder Erziehungskräfte sowie Unterrichtsanstalten oder Erziehungsanstalten.

SACHVERHALT

Die Kl war bei der Bekl als Betreuerin in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft für Minderjährige angestellt. Es sollten möglichst familienähnliche Beziehungsstrukturen geschaffen und zwischen den Betreuern und den Bewohnern eine Vertrauensbasis aufgebaut werden. Die Betreuer organisieren den Tagesablauf der Jugendlichen (wecken, zu Schule oder Ausbildung schicken, erforderlichenfalls bei den Hausaufgaben helfen, gemeinsames Essen, die Jugendlichen zur Einhaltung von Terminen anhalten und begleiten etc). Zwischen einem Betreuer und einem Jugendlichen sollte jeweils ein besonderer Bezug hergestellt werden.

Unterricht in der Wohngemeinschaft fand nur für Bewohner statt, die aufgrund ihres Verhaltens für eine Re-71gelschule nicht tragbar, aber schulpflichtig waren. Diese Intensivbetreuung wurde von einem dafür ausgebildeten (externen) Lehrer durchgeführt, die Kl hielt diesen Unterricht nicht ab. Da die Minderjährigen in der Wohngemeinschaft an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr betreut werden, ist mindestens ein Betreuer immer anwesend. Die Betreuer leisten 24-Stunden-Dienste.

Die Kl begehrt, gestützt auf eine Berechnung der Arbeitszeit nach dem AZG, Zuschläge für von ihr geleistete Überstunden.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, Berufungsgericht und OGH teilten die Rechtsansicht des Erstgerichts.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Der erkennende Senat gelangt zusammenfassend zur Überzeugung, dass die vom Gesetzgeber in § 1 Abs 2 Z 6 AZG formulierten Begriffe ‚Lehr- und Erziehungskräfte‘ sowie ‚Unterrichts- und Erziehungsanstalten‘ alternativ, also im Sinne von Lehrkräfte oder Erziehungskräfte sowie Unterrichtsanstalten oder Erziehungsanstalten auszulegen sind. […]

Nach Auffassung des Senats ist gerade für Einrichtungen wie einer hier gegenständlichen sozialpädagogischen Wohngemeinschaft, die ihre Tätigkeit aufgrund der ihr vom Kinder- und Jugendhilfeträger übertragenen Obsorge im Rahmen der vollen Erziehung erbringt, ein sachlicher Ausnahmebedarf von den zulässigen Höchstarbeitszeitgrenzen des Arbeitszeitgesetzes gegeben, wollen sie dem Ziel einer familienähnlichen Einrichtung gerecht werden. […] Insbesondere die vielfältigen erzieherischen, organisatorischen und nicht immer zeitlich planbaren Aufgaben der in einer derartigen Einrichtung beschäftigten Erziehungskräfte lassen das dafür doch enge Korsett des Arbeitszeitgesetzes nicht unbedingt geeignet erscheinen. […] Dass bei Anwendung des Arbeitszeitgesetzes […] ein häufigerer Betreuungswechsel erfolgen müsste, würde den Aufbau von stabilen und von Kontinuität des persönlichen Betreuers geprägten Beziehungen (Bezugsbetreuung) zu den Bewohnern sowie die Schaffung und den Erhalt eines familienähnlichen Umfelds in der Wohngemeinschaft nicht bloß erschweren, sondern geradezu unmöglich machen.

Die Frage, ob die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (kurz: Arbeitszeit- Richtlinie) vom nationalen Gesetzgeber nur unzureichend umgesetzt wurde und insbesondere diegenerelle Ausnahme von Lehr- und Erziehungskräften an Unterrichts- und Erziehungsanstalten (§ 1 Abs 2 Z 6 AZG) unionsrechtswidrig ist […], kann hier unerörtert bleiben. […] Eine richtlinienkonforme Auslegung […] darf einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen nationalen Regelung keinen durch die nationalen Auslegungsregeln nicht erzielbaren abweichenden oder gar entgegengesetzten Sinn geben. […] Das wäre aber hier der Fall, würde man die Ausnahmebestimmung des § 1 Abs 2 Z 6 AZG wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht unangewendet lassen.“

ERLÄUTERUNG

Nach § 1 Abs 2 Z 6 AZG sind vom Geltungsbereich des AZG Lehr- und Erziehungskräfte an (privaten) Unterrichts- und Erziehungsanstalten ausgenommen. Seit Erlassung dieser Bestimmung (die Gesetzesmaterialien enthalten diesbezüglich keine Informationen) war unklar, ob die beiden in dieser Formulierung enthaltenen „und“ kumulativ oder alternativ zu verstehen sind: Muss der/die AN als Lehr- und als Erziehungskraft tätig sein, oder reicht es, wenn er/sie zB – wie in vorliegendem Fall – nur erzieherisch tätig wird? Muss die Anstalt beide Zwecke wahrnehmen oder reicht zB, dass sie Erziehungsanstalt ist?

In der Lehre bildete sich ein weites Spektrum an Meinungen heraus – so fallen zB nach Heilegger (in Klein/ Heilegger/Schwarz, AZG3 § 1 Erl 13) nur Einrichtungen, die beiden Zwecken – Unterricht und Erziehung – dienen, unter die Ausnahme des § 1 Abs 2 Z 6 AZG. Schrank hingegen (AZG2 § 1 Rz 32, 35) vertritt die Auffassung, dass die beiden „und“ nicht kumulativ, sondern als „und/ oder“, somit alternativ, zu verstehen seien.

Nunmehr hat erstmals der OGH zu dieser Frage Stellung bezogen und stellt dabei vor allem auf den Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung ab: insb erzieherische Arbeit rund um die Uhr wird oftmals nicht innerhalb der zeitlichen Vorgaben des AZG sinnvoll zu erbringen sein.

Dieses Argument wird aber wohl kaum für den normalen Schulbetrieb ins Treffen geführt werden können (so auch Binder/Brunner/Szymanski, AZG § 1 Rz 38): Völlig klar ist daher auch nach diesem Urteil nicht, ob der OGH auch im umgekehrten Fall einer Lehrkraft an einer reinen Unterrichtsanstalt – also ohne den Erziehungsaspekt in beiden Tatbestandsmerkmalen – die Ausnahme vom AZG bejahen würde. Seine generelle Formulierung, dass die Tatbestandselemente alternativ auszulegen sind, legt dies allerdings nahe.72