66

Entlassung wegen dauernder Arbeitsunfähigkeit nach § 82 lit b GewO 1859

CHRISTOPHKLEIN

Zur Beurteilung des Vorliegens des Entlassungsgrundes der dauernden Arbeitsunfähigkeit kommt es nicht nur auf die Dauer der Arbeitsunfähigkeit an. Maßgeblich ist, ob im Zeitpunkt des Entlassungsausspruchs objektiv eine Arbeitsunfähigkeit von so langer Dauer zu erwarten ist, dass die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nur für die Dauer der Kündigungsfrist nicht zumutbar ist.

SACHVERHALT

Ein Zimmermädchen, das im Juni 2012 seine Stelle angetreten hatte, erkrankte mit 21.9.2012 für einen längeren Zeitraum. Die mit diesem Datum erfolgende ärztliche Krankschreibung stellte das voraussichtliche Ende der Arbeitsunfähigkeit allerdings noch mit 28.9.2012 fest. In einem Schreiben, das am 5.10.2012 zuging, warf die AG der AN vor, diese Krankenstandsbestätigung ihrer Meinung nach verspätet abgegeben zu haben, und ging von einem unberechtigten vorzeitigen Austritt der AN aus. Das Berufungsgericht sah darin jedoch – so von den Streitparteien auch nicht mehr bekämpft – eine fristlose Entlassung. Strittig ist – in Hinblick auf die über das Vertragsende hinausreichende Entgeltfortzahlung und Beendigungsansprüche –, ob die Entlassung wegen dauernder Arbeitsunfähigkeit gem § 82 lit b GewO 1859 berechtigt war. Die AG, der im Entlassungszeitpunkt ja nur die vom Arzt angegebene voraussichtliche Krankheitsdauer von knapp über einer Woche vorlag, machte erst über ein Jahr später im Gerichtsverfahren die dauernde Arbeitsunfähigkeit geltend.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Nach dem Berufungsgericht war die Entlassung wirksam, die Zeit der Arbeitsunfähigkeit der Kl habe die Dauer ihres gesamten Arbeitsverhältnisses rückblickend um ein Vielfaches überstiegen.

Der OGH gab der außerordentlichen Revision der Kl Folge und verwies die Rechtssache zur ergänzenden Erörterung, Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Eine ‚dauernde‘ Arbeitsunfähigkeit nimmt der Oberste Gerichtshof dann als gegeben an, wenn die Verhinderung des Arbeiters nicht bloß kurzfristig und vorübergehend, sondern – selbst wenn sie in ihrem zeitlichen Ausmaß vorhersehbar ist – von so langer Dauer ist, dass dem Arbeitgeber nach den Umständen des Falls eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden kann (zB Führerscheinentzug über 10 Monate, 4 Ob 50/81 = Arb 10.108; RIS-Justiz RS0029336; Kuderna, aaO 93).

Die Arbeitsunfähigkeit ist zwar ein Dauertatbestand, sie muss jedoch […] im Zeitpunkt der Entlassung bereits bestehen (Kuderna, aaO 94). […]

Auch der Entlassungsgrund der dauernden Arbeitsunfähigkeit liegt nur dann vor, wenn dem Arbeitgeber bei objektiver Betrachtung die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nur während der Kündigungsfrist nicht zumutbar ist (8 ObA 157/02z; 9 ObA 68/02v mwN; RIS-Justiz RS0029107). Die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung muss im Zeitpunkt der Entlassung vorgelegen sein.

Ausgehend davon genügen aber die bisher getroffenen Feststellungen des Erstgerichts nicht, um das Vorliegen des von der Bekl zuletzt geltend gemachten Entlassungsgrundes abschließend beurteilen zu können. Dafür kommt es nämlich nicht nur auf die Dauer eines Krankenstands bzw der Arbeitsunfähigkeit an. Vielmehr muss beurteilt werden, ob der Entlassungsgrund der dauernden Arbeitsunfähigkeit gemäß § 82 lit b GewO objektiv im Zeitpunkt des Entlassungsausspruchs vorliegt. Es muss daher geprüft werden, ob – hier konkret am 5.10.2012 – objektiv bei der Kl eine Arbeitsunfähigkeit – das ist die Unfähigkeit zur Verrichtung der vereinbarten (oder den Umständen nach angemessenen) Dienste – von so langer Dauer zu erwarten war, dass die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für die Bekl auch nur während der Kündigungsfrist nicht zumutbar war (8 ObA 79/02d). […] Es ist daher nicht von Bedeutung, dass die Bekl […] erst im Lauf des Prozesses erfahren habe, dass die Kl nicht nur vorübergehend, sondern dauernd arbeitsunfähig gewesen sei.

ERLÄUTERUNG

Die E macht wieder einmal zwei traditionelle Positionen des OGH deutlich:75

1. Der AG kann Entlassungsgründe auch nachschieben, muss sie also nicht bei Entlassung dem AN vorhalten.

2. Das gilt sogar dann, wenn der AG zum Zeitpunkt der Entlassung überhaupt nichts von dem nachgeschobenen Entlassungsgrund wusste. Bisher ging es dabei aber stets um dem AN vorwerfbare Entlassungsgründe: In OGH 2.9.1987,

, stellte sich zB erst nach der Entlassung eines AN wegen einer (aus Rache nur behaupteten) Vergewaltigung einer Arbeitskollegin der „wahre“, vom OGH zu Recht akzeptierte Entlassungsgrund heraus: Die beiden hatten im Rahmen eines Verhältnisses über Jahre hinweg immer wieder einvernehmlichen Sex im Betrieb während der Arbeitszeit.

Im Zusammenhang mit dem unverschuldeten Entlassungsgrund dauernder Dienstunfähigkeit wegen Krankheit verwendete der OGH hingegen das Argument, es komme nicht auf das subjektive Wissen des AG im Entlassungszeitpunkt an, bisher nur umgekehrt zugunsten einer AN: Es reiche nicht, dass der AG bloß glaube, dass eine Raumpflegerin dauerhaft krank sei, es komme (zusätzlich?) auf die objektive medizinische Prognose im Entlassungszeitpunkt an (OGH9 ObA 68/02vDRdA 2003/13).

Ist nun auch bei in keiner Weise vorwerfbaren Entlassungsgründen künftig nur mehr die „objektive“ Seite maßgeblich – hier also ein lange im Nachhinein (!) erstelltes Gutachten eines Spezialisten darüber, welchen weiteren Krankheitsverlauf er bei eingehender fachärztlicher Untersuchung im Entlassungszeitpunkt prognostizieren hätte können? Wenn zB im vorliegenden Fall im fortgesetzten Verfahren ein medizinischer Sachverständiger feststellt, es hätte im September 2012 – weder für die beiden Arbeitsvertragsparteien erkennbar noch für den Hausarzt, der ja nur einen einwöchigen Krankenstand prognostizierte! – durch einen Spezialisten der Beginn einer langen Erkrankung diagnostiziert werden können, dann greift der vom AG erst über ein Jahr nach der Entlassung als opportun erkannte Entlassungsgrund?

Der vorliegende Beschluss scheint das nahezulegen. Das könnte manche AG dazu verlocken, gerade ältere AN im Krankenstand fristlos zu entlassen – in der Hoffnung, eine sich als länger und schwer erweisende Krankheit (zB Krebs) könne sich durch einen als Sachverständigen bestellten Spezialisten als objektiv schon bei der Entlassung bestehend beurteilen lassen und diese damit nachträglich rechtfertigen.