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Adipositas des Arbeitnehmers – Vorliegen einer „Behinderung“ iSd RL 2000/78/EG

MARTINACHLESTIL
RL 2000/78

Das Unionsrecht enthält kein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruf. Die Adipositas eines AN kann jedoch eine „Behinderung“ iSd Gleichbehandlungsrahmen- RL 2000/78/EG darstellen, wenn sie unter bestimmten Bedingungen den AN an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen AN, hindert.

SACHVERHALT

Herr Karsten Kaltoft hatte 15 Jahre als Tagesvater für die Gemeinde Billund (Dänemark) gearbeitet. 2010 beendete die Gemeinde seinen Arbeitsvertrag. Die Entlassung wurde zwar mit der sinkenden Zahl der zu betreuenden Kinder begründet, die Gemeinde gab aber nicht an, aus welchen Gründen die Wahl des zu kündigenden AN auf Herrn Kaltoft gefallen war. Während der gesamten Laufzeit seines Arbeitsvertrags galt Herr Kaltoft als adipös iSd Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die Gemeinde verneint, dass die Adipositas Grund für die Kündigung von Herrn Kaltoft war. Die Herrn Kaltoft vertretende Gewerkschaft Fag og Arbejde (FOA) ist jedoch der Ansicht, dass seine Entlassung auf einer rechtswidrigen Diskriminierung wegen Adipositas beruhte. Sie wandte sich an ein dänisches Gericht, um diese Diskriminierung feststellen zu lassen und Schadensersatz zu fordern.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das zur Prüfung der Klage angerufene Gericht in Kolding hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens um Beantwortung der Fragen ersucht, ob das Unionsrecht ein eigenständiges Diskriminierungsverbot wegen Adipositas enthält bzw ob Adipositas unter den Begriff „Behinderung“ und somit unter den Schutz der RL 2000/78/EG fällt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…] ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es kein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruft enthält. […]

Nach der Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 […] im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde, hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Begriff ‚Behinderung‘ im Sinne der Richtlinie 2000/78 so zu verstehen ist, dass er eine Einschränkung erfasst, die u. a. auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können (vgl. Urteile HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn. 37 bis 39; Z., C363/12, EU:C:2014:159, Rn. 76, und Glatzel, C356/12, EU:C:2014: 350, Rn. 45).

Dieser Begriff ‚Behinderung‘ ist so zu verstehen, dass er nicht nur die Unmöglichkeit erfasst, eine berufliche Tätigkeit auszuüben, sondern auch eine Beeinträchtigung der Ausübung einer solchen Tätigkeit. […]

Für den Anwendungsbereich dieser Richtlinie je nach Ursache der Behinderung zu differenzieren, würde außerdem ihrem Ziel selbst, die Gleichbehandlung zu verwirklichen, widersprechen. […]“

ERLÄUTERUNG

Der EuGH hat in seinem Urteil festgestellt, dass Adipositas als solche keine „Behinderung“ iSd RL 2000/78/EG darstellt, da sie nicht zwangsläufig eine Einschränkung, die die gleichberechtigte Teilhabe am Berufsleben hindert, zur Folge hat. Er hat aber auch deutlich ausgeführt, dass die Adipositas eines AN, sollte diese eine länger dauernde Einschränkung mit sich bringen, die insb auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, welche den AN an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen AN, hindern können, dann sehr wohl unter den Begriff „Behinderung“ iSd RL 2000/78/EG fällt. Die Hinderung an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben durch Adipositas kann laut EuGH beispielsweise in der eingeschränkten Mobilität oder dem Auftreten von Krankheitsbildern liegen, die den AN an der Verrichtung seiner Arbeit hindern oder zu einer Beeinträchtigung der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit führen.

Maßgeblich für das Vorliegen einer Behinderung nach der RL – und dem die RL in Österreich umsetzenden Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) – ist auch nicht deren Grad, sondern nur der Umstand, dass sich daran81 eine Diskriminierung knüpfen kann (siehe dazu Widy/Ernst, BEinstG7 § 3 Erl 1). Behinderung ist nicht nur medizinisch, sondern auch im Hinblick auf ihre sozialen Auswirkungen zu begreifen; so ist Behinderung nicht die Funktionsbeeinträchtigung selbst, sondern deren Auswirkung, und zwar insoweit, als sie die soziale Teilhabe zu erschweren geeignet ist (siehe dazu Hofer/Iser/Miller-Fahringer/Rubisch, Behindertengleichstellungsrecht [2006] § 3 Erl 2). Festzuhalten ist, dass nach dem Urteil des EuGH jene AN, die aufgrund ihrer Adipositas während längerer Dauer bei der Ausübung ihrer Tätigkeit eingeschränkt sind, unter den Diskriminierungsschutz der RL bzw der §§ 7a ff BEinstG fallen. Da der EuGH Mobilitätseinschränkungen oder aus der Adipositas resultierende Krankenstände nur als Beispiele für solche Einschränkungen nennt, die den Diskriminierungsschutz auf der Grundlage von Behinderung auslösen, wird man davon ausgehen können, dass auch soziale Einschränkungen wie Vorurteile des Arbeitsumfeldes darunter fallen.