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Kriterium der Notwendigkeit iSd § 133 Abs 2 ASVG bei Heilbehelfen

STEPHANIEPRINZINGER

Die Frage, ob die Verwendung eines bestimmten Heilbehelfs eine das Maß des Notwendigen überschreitende Krankenbehandlung darstellt oder nicht, ist nicht nur eine Rechtsfrage, sondern auch eine den medizinischen Bereich betreffende Tatfrage. Eine automatische Gleichsetzung der Tatfrage mit der Rechtsfrage ist unzulässig.

SACHVERHALT

Bei dem 1957 geborenen Kl, der als Schilehrer und LKW-Fahrer tätig ist, liegt seit 1978 eine Blutzuckererkrankung (Typ I Diabetes) vor, die derzeit mit einer Insulinpumpen-Therapie „Accu-Check Performa Combo“ eingestellt ist. Seit 1989 leidet der Kl zusätzlich auch an einer chronisch entzündlichen Gelenkserkrankung mit regelmäßiger Kortisontherapie als Dauertherapie; diese bedingt ein erhöhtes Infektionsrisiko, was zu Blutzuckerentgleisungen führen kann. Mit dem derzeit verwendeten Blutzuckermessgerät, das mit einer Insulinpumpe gekoppelt ist, und derzeit eine der besten Kombinationen von Insulinpumpe und Blutzuckermessgerät darstellt, wird beim Kl eine zufriedenstellende Blutzuckereinstellung bewirkt. Der Kl begehrt nun stattdessen das kontinuierliche Glucosemonitoring-Gerät „Dexom“, das durchgehend am Körper getragen wird und alle fünf Minuten einen Durchschnittswert aus dem subcutanen Gewebe ermittelt. Droht eine Unterzuckerung, wird ein Alarmsignal abgegeben, wodurch eine Optimierung der Blutzuckereinstellung sichergestellt wird. Aus rein medizinischer Sicht – ohne Beachtung der Berufstätigkeit – ist jedoch für die Erlangung einer guten Blutzuckereinstellung nur die vom Kl bisher benützte Kombination notwendig.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Vorarlberger GKK lehnte die Kostenübernahme für ein kontinuierliches Glucosemonitoring-Gerät „Dexcom“ mit der Begründung ab, dass die dem Kl zur Verfügung gestellten Heilbehelfe ausreichend seien und zu einer sehr zufriedenstellenden Blutzuckereinstellung führten und die Kosten für zusätzliche kostenintensive Gerätschaften nicht von der gesetzlichen KV übernommen werden könnten, da sie das Maß des Notwendigen iSd § 133 Abs 2 ASVG überschreiten würden. Das Erstgericht wies das Klagebegehren des Kl ab. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge und sprach überdies aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig ist. Der OGH wies die außerordentliche Revision zurück.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgeführt hat, ist in der Krankenversicherung ganz allgemein ein Interessenskonflikt zwischen Patient, Arzt und Sozialversicherungsträger hinsichtlich der Art und des Umfangs der Krankenbehandlung gegeben. […] Aus diesem Grund wird in § 133 Abs 2 ASVG festgelegt, dass die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein muss, jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf. […] Die Abwägung zwischen den Interessen des Patienten an der ‚besten‘ Behandlung und der Versichertengemeinschaft an einer kostenoptimalen Versorgung hängt somit jeweils von den Umständen des Einzelfalls ab. […] Ist die Insulinpumpen- Therapie ‚Accu-Check Performa Combo‘ ausreichend und zweckmäßig, liegt in der Ansicht, auch im Hinblick auf die vom Kläger ausgeübten Berufstätigkeiten sei kein solches Maß an Betroffenheit gegeben, dass die Kosten eines kontinuierlichen Glucosemonitoring- Geräts von der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen wären, jedenfalls keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende gravierende Fehlbeurteilung. […] Die Frage, ob das Glucosemonitoring- Gerät für den Kläger eine das Maß des Notwendi-89gen überschreitende Krankenbehandlung darstellt oder nicht, ist nicht nur eine Rechtsfrage, sondern zunächst auch eine den medizinischen Bereich betreffende Tatfrage […]. […] Eine unzulässige ‚automatische‘ Gleichsetzung der Tatfrage (‚was aus medizinischer Sicht notwendig ist‘) mit der Rechtsfrage (‚wann das Maß des Notwendigen iSd § 133 Abs 1 ASVG überschritten ist‘) ist nicht erfolgt, haben die Vorinstanzen doch auch die Betroffenheit des Klägers (die konkreten Auswirkungen des derzeit verwendeten und des begehrten Geräts auf seine gesundheitliche Situation und seine Berufstätigkeit) berücksichtigt.“

ERLÄUTERUNG

Die Krankenbehandlung nach § 133 Abs 1 ASVG umfasst die ärztliche Hilfe, Heilmittel und Heilbehelfe. Die Krankenbehandlung muss gem § 133 Abs 2 ASVG ausreichend und zweckmäßig sein, darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Entsprechend seiner stRsp definiert der OGH auch in dieser E die Begriffe „ausreichend“ als „Minimalgrenze der Leistungsverpflichtung“ sowie den Terminus „zweckmäßig“ als „nach den Erfahrungssätzen der medizinischen Wissenschaft mit hinreichender Sicherheit objektiv geeignet […], die beabsichtigte Wirkung zu erzielen“. „Das Maß des Notwendigen“ ergäbe sich aus dem Zweck der Leistung, wobei als „notwendig“ jene Maßnahme anzusehen ist, die „zur Erreichung des Zwecks unentbehrlich oder unvermeidlich ist“. Der OGH führt auch das Gebot der Wirtschaftlichkeit der Krankenbehandlung ins Treffen, wobei jeweils eine Abwägung im Einzelfall zwischen den Interessen des Patienten und jener der Versichertengemeinschaft stattzufinden hat. Auffallend ist, dass der OGH entgegen seiner sonstigen Rsp in dieser E nicht eigens anführt, dass es bei der Wirtschaftlichkeit auf „die Gesamtbetrachtung einer zweckmäßigen Behandlung an[kommt], sodass nicht immer auch die billigste Lösung dem Gebot der Zweckmäßigkeit entsprechen muss“ (vgl OGH 22.10.2013, 10 ObS 111/13s). Ein wirtschaftlicher Vergleich der beiden Heilbehelfe (Preise, verursachte und vermiedene Folgekosten usw) ist der E auch nicht zu entnehmen.

Ebenso wie in der eben zitierten E führt der OGH in dieser E in seiner rechtlichen Beurteilung aus, dass sich das Ausmaß der „Betroffenheit“ des Patienten, das für die Beurteilung im Einzelfall maßgebend ist, aus den „Auswirkungen der konkreten strittigen Behandlung auf den Patienten“ ergibt. In erster Linie ist aber die „absolute Priorität des Lebens zu beachten, dem andere Güter nachgeordnet sind“. Ebenso wie bebereits in der E (OGH10 ObS 111/13s) führt der OGH an, dass die körperliche Bewegungsfreiheit und die geistige Betätigungsfreiheit, die spezielle Ausformungen in der Arbeitsfähigkeit und der Selbsthilfefähigkeit finden, demgegenüber geringeren Stellenwert besitzen.

Aus den Feststellungen ergibt sich, dass aufgrund der schon seit 30 Jahren beim Kl bestehenden Blutzuckererkrankung und der chronisch entzündli- chen Gelenkserkrankung mit permanenter Kortisontherapie eine optimale Blutzuckereinstellung nur schwer möglich ist, wobei diese aber bei einem Typ-I-Diabetes besonders wichtig ist. Bei Verwendung des derzeitigen Geräts ist eine zufriedenstellende Blutzuckereinstellung gegeben. Aus den Feststellungen folgt aber auch, dass durch den Einsatz des Glucosemonitoring-Geräts „Dexcom“ eine Optimierung der Blutzuckereinstellung wegen der Abgabe des Alarmsignals bei Unterzuckerung erreicht werden könnte. Insb vor dem Hintergrund der beruflichen Tätigkeit des Kl (Schilehrer und LKW-Fahrer) ist eine optimale Einstellung der Blutzuckereinstellung wichtig, da der Kl häufig Extremsituationen ausgesetzt ist.

Die Unterinstanzen kamen ohne nähere Prüfung der Wirtschaftlichkeit schon aufgrund der rein medizinischen Feststellung, dass mehr als das derzeit verwendete Gerät für eine gute Blutzuckereinstellung nicht notwendig sei, zur Einschätzung, dass für die Verwendung des kontinuierlichen Glucosemonitoring-Geräts die rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben seien. Erstaunlich ist daher die Einschätzung des OGH, dass eine unzulässige „automatische“ Gleichsetzung der Tatfrage „was aus medizinischer Sicht notwendig ist“ mit der Rechtsfrage „wann das Maß des Notwendigen iSd § 133 Abs 1 ASVG überschritten ist“ nicht erfolgt ist. Für eine vollständige Beantwortung der Rechtsfrage hätte man sich nämlich eine Auseinandersetzung mit der Wirtschaftlichkeit wenigstens auf der Basis eines Preisvergleichs und mit den konkreten Auswirkungen auf die Berufstätigkeit des Kl (einschließlich von damit in Zusammenhang stehenden finanziellen Aspekten wie den Kosten allenfalls drohender Verschlechterungen von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit) erwartet. Dass dies nicht weiter erörtert wurde, steht auch im Widerspruch dazu, dass die Feststellungen eher den Eindruck erwecken, dass der strittige Heilbehelf im Hinblick auf die berufliche Tätigkeit des Kl geradezu notwendig wäre.