86Herabsinken der Arbeitsfähigkeit
Herabsinken der Arbeitsfähigkeit
Wurde eine Gesundheitsstörung in das Erwerbsleben eingebracht und stellte diese kein Hindernis für die erlernte und ausgeübte qualifizierte Erwerbstätigkeit, sondern nur für einen möglichen, aber nie ausgeübten Verweisungsberuf dar, ist das Herabsinken der Arbeitsfähigkeit im ausgeübten Beruf maßgeblich für den Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit.
Der Kl hat den Beruf des Maurers erlernt und ausgeübt; im Beobachtungszeitraum der letzten 15 Kalenderjahre hat er im Rahmen dieser Tätigkeit 135 Beitragsmonate der Pflichtversicherung erworben. Die Ausübung dieses Berufes ist wegen orthopädischer Erkrankungen nicht mehr möglich. Auch die Verweisungstätigkeit als Baumarktfachberater ist nicht möglich; dies aber vor allem deswegen, weil der Kl schon seit seiner Kindheit stottert.
Das Erstgericht wies die gegen den ablehnenden Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) eingebrachte Klage ab, weil die Tätigkeit eines Baustofffachmarktberaters als zumutbare Verweisungstätigkeit in Betracht käme. Das Stottern habe bei der Prüfung der Invalidität außer Betracht zu bleiben, weil es seit der Kindheit bestünde und sich seither nicht verändert hätte. In das Erwerbsleben eingebrachte Behinderungen seien bei der Feststellung der Invalidität auszuscheiden. Das OLG gab der Berufung keine Folge. Der außerordentlichen Revision wurde jedoch vom OGH stattgegeben und die Rechtssache an das Erstgericht zurückverwiesen.
„Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann daher nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls führen […]. Danach kann sich auch ein Versicherter, der trotz einer von Beginn an bestehenden Behinderung […] einer Berufstätigkeit […] nachgeht, nach Erwerb der Anspruchsvoraussetzungen für die Invaliditätspension nicht darauf berufen, dass er wegen dieser Behinderung nicht in der Lage sei, seiner Tätigkeit weiter nachzugehen (10 ObS 62/87, SSV-NF 1/67 ua) […]. Diese strenge Judikaturlinie wurde jedoch in der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs etwas gelockert. […]
Der Oberste Gerichtshof entschied […], dass dennoch eine geminderte Arbeitsfähigkeit vorliegen kann, wenn nachträglich der Gesundheitszustand unabhängig von der eingebrachten Behinderung so weit herabsinkt, dass die Voraussetzungen für eine Pensionsleistung er-91füllt sind. Entscheidend ist die nachträgliche Beeinträchtigung einer ursprünglich bestandenen Arbeitsfähigkeit […].
Maßgebend ist somit das wesentliche Herabsinken der Arbeitsfähigkeit des Versicherten während seines Erwerbslebens in dem von ihm ausgeübten Beruf (vgl § 255 Abs 1 ASVG). Die vom Kläger in das Erwerbsleben eingebrachte Gesundheitsstörung, welche bei der von ihm erlernten und ausgeübten qualifizierten Tätigkeit als Maurer kein Berufshindernis dargestellt hat, sondern ihn lediglich außerstande gesetzt hat, einen möglichen – von ihm aber nie ausgeübten – Verweisungsberuf (als Baustofffachmarktberater) zu verrichten, vermag entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen das Vorliegen einer Invalidität des Klägers im Sinn des § 255 Abs 1 ASVG nicht auszuschließen.
Da der Kläger die nach den Feststellungen der Vorinstanzen allein noch in Betracht kommende Verweisungstätigkeit eines Baustofffachmarktberaters wegen seiner eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit nicht mehr verrichten kann, ist er invalide im Sinn des § 255 Abs 1 ASVG. Ausgehend von dieser Rechtsansicht ist vom Gericht im vorliegenden Fall von Amts wegen noch das Vorliegen der negativen Anspruchsvoraussetzung nach § 254 Abs 1 Z 1 ASVG idF BGBl I 2010/111BGBl I 2010/111zu prüfen. Voraussetzung eines Anspruchs auf Invaliditätspension ist danach, dass der Versicherte keinen Anspruch auf berufliche Rehabilitation nach § 253e Abs 1 und 2 ASVG hat oder die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig (§ 253e Abs 3 ASVG) oder nicht zumutbar (§ 253e Abs 4 ASVG) sind.“
In das Erwerbsleben eingebrachte Behinderungen sollen nach stRsp für die Beurteilung der Invalidität grundsätzlich außer Betracht bleiben. Dies deswegen, weil sonst Versicherte, die einen Beruf ausüben, der deren gesundheitliche Leistungsfähigkeit eigentlich übersteigt (etwa bei einem Entgegenkommen des DG), den Stichtag für eine Invaliditätspension nach Belieben selbst bestimmen könnten, weil sie ja im Grunde genommen ständig für die konkret ausgeübte Tätigkeit berufsunfähig sind. Die mit dieser E erfolgte Klarstellung, dass dieses Ausblenden eingebrachter Behinderungen nicht auch für mögliche Verweisungsberufe gilt, ist somit schlüssig, weil die Verweisungsberufe ja niemals ausgeübt wurden. Diese E passt zur Vorjudikatur, die nach der Invalidität nicht verneint werden kann, wenn ein Teilbereich einer Tätigkeit herausgegriffen wird, der vom Versicherten schon bei Eintritt in das Erwerbsleben nicht ausgeübt werden konnte. Maßgeblich ist immer die entscheidende Beeinträchtigung der zuvor bestandenen Arbeitsfähigkeit während des Erwerbslebens.
In der E wird außerdem deutlich, welche Probleme sich durch die Verweisung der Versicherten mit Berufsschutz in Handwerksberufen auf Angestelltentätigkeiten (Verkaufstätigkeiten) ergeben. Viele haben einen Handwerksberuf gewählt, weil ihr Talent in diesem Bereich und nicht wie bei (vielen) Angestellten in den Bereichen Kommunikation oder Kalkulation liegt. Im vorliegenden Fall wäre schon eine Ausbildung im Angestelltenbereich größtenteils nicht möglich gewesen. Trotz einer eingebrachten Behinderung war der Kl jedoch imstande, jahrzehntelang seinen erlernten Beruf in vollem Umfang auszuüben. Die Invalidität in diesem und gleichgelagerten Fällen zu verneinen, wäre wohl unbillig. Spannend ist, ob eine und – wenn ja – welche berufliche Rehabilitation sich im fortgesetzten Verfahren vor dem Gericht erster Instanz als zweckmäßig und zumutbar erweist.