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Voraussetzungen des Ausschlusses von Ausländern von Sozialleistungen

FRANZMARHOLD (WIEN)
Art 18, 20, 21 AEUV; Art 7 Abs 1 lit b, Art 8 Abs 4, Art 18 Abs 3, Art 20 Abs 2 und Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG; Art 3, 4 und 70 VO 883/2004; § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II; § 23 Abs 3 SGB XII
  1. Art 4 VO 883/2004 ist dahin auszulegen, dass er für die „besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen“ iSv Art 3 Abs 3 und Art 70 dieser VO gilt.

  2. Art 24 Abs 1 iVm Art 7 Abs 1 lit b RL 2004/38 und Art 4 VO 883/2004 sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaates nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ iSd Art 70 Abs 2 VO 883/2004 ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des Aufnahme-Mitgliedstaates, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten. Dies setzt voraus, dass den betreffenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnahme-Mitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38 zusteht.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

35 Frau Dano [...] und ihr Sohn Florin, der am 2.7.2009 in Saarbrücken [...] geboren wurde, sind beide rumänische Staatsangehörige. Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts reiste Frau Dano zuletzt am 10.11.2010 nach Deutschland ein.

36 Die Stadt Leipzig stellte Frau Dano am 19.7.2011 eine unbefristete Freizügigkeitsbescheinigung für EU-Bürger aus und setzte dabei als Datum der Einreise in das Bundesgebiet den 27.6.2011 fest. Am 28.1.2013 wurde ihr außerdem eine Zweitausfertigung dieser Bescheinigung ausgestellt.

37 Frau Dano und ihr Sohn leben seit ihrer Ankunft in Leipzig in der Wohnung einer Schwester von Frau Dano, die sie mit Naturalien versorgt.

39 Frau Dano besuchte in Rumänien drei Jahre lang die Schule, besitzt aber keinen Schulabschluss. Sie versteht gesprochenes Deutsch und kann sich [...] einfach ausdrücken. Sie kann hingegen in Deutsch nicht schreiben und ist zum Leseverständnis deutscher Texte nur eingeschränkt in der Lage. Sie hat keinen erlernten oder angelernten Beruf und war bislang weder in Deutschland noch in Rumänien erwerbstätig. Obwohl ihre Arbeitsfähigkeit nie in Frage gestellt wurde, deutet nichts darauf hin, dass sie sich um Arbeit bemüht hätte.

40 Ein erster [...] Antrag auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II wurde vom Jobcenter Leipzig mit Bescheid vom 28.9.2011 auf der Grundlage von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II abgelehnt. Dieser Bescheid wurde nicht angefochten und erlangte daher Bestandskraft.

41 Ein erneuter Antrag [...] vom 25.1.2012 wurde [...] ebenfalls abgelehnt. Frau Dano und ihr Sohn legten dagegen Widerspruch ein, den sie auf die Art 18 AEUV und 45 AEUV und auf das Urteil Vatsouras und Koupatantze (C-22/08 und C-23/08, EU:C:2009:344) stützten. Ihr Widerspruch wurde mit Bescheid vom 1.6.2012 zurückgewiesen.

42 Gegen diesen Bescheid erhoben Frau Dano und ihr Sohn am 1.7.2012 Klage beim Sozialgericht Leipzig, mit der sie erneut beantragen, ihnen Leis tungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II für die Zeit ab dem 25.1.2012 zu gewähren.

43 Das Sozialgericht Leipzig ist der Auffassung, dass Frau Dano und ihr Sohn nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II, § 23 Abs 3 SGB XII keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung hätten. Es hat jedoch Zweifel, ob die unionsrechtlichen Bestimmungen insb Art 4 VO 883/2004, der allgemeine Grundsatz der Nichtdiskriminierung aus Art 18 AEUV und das allgemeine Aufenthaltsrecht aus Art 20 AEUV diesen Bestimmungen [...] entgegenstehen.

44 Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts betrifft der Ausgangsrechtsstreit Personen, denen kein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmestaat nach der RL 2004/38 zusteht.

45 Das Sozialgericht Leipzig hat daher beschlossen [...] dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Ist der persönliche Anwendungsbereich von Art 4 VO 883/2004 für Personen eröffnet, die keine Leistung sozialversicherungsrechtlicher oder familienfördernder Art iSd Art 3 Abs 1 der VO, sondern eine besondere beitragsunabhängige Leistung iSd Art 3 Abs 3 und 70 der VO in Anspruch nehmen wollen?

  2. Falls die Frage zu 1 bejaht wird: Ist es den Mitgliedstaaten durch Art 4 VO 883/2004 verwehrt, zur Vermeidung einer unangemessenen Inanspruchnahme von existenzsichernden beitragsunabhängigen Sozialleistungen iSd Art 70 der VO bedürftige Unionsbürger vom Bezug derartiger Leistungen, die eigenen Staatsbürgern in gleicher Lage gewährt werden, ganz oder teilweise auszuschließen?

  3. Falls die Fragen zu 1 oder 2 verneint werden: Ist es den Mitgliedstaaten nach a) Art 18 AEUV und/oder b) Art 20 Abs 2 UAbs 1 lit a AEUV iVm Art 20 Abs 2 UAbs 2 AEUV und Art 24 Abs 2 RL 2004/38 verwehrt, zur Vermeidung einer unangemessenen Inanspruchnahme von existenzsichernden beitragsunabhängigen Sozialleistungen iSv Art 70 VO 883/2004 bedürftige Unionsbürger vom Bezug derartiger Leistungen, die eigenen Staatsbürgern in gleicher Lage gewährt werden, ganz oder teilweise auszuschließen?

  4. [...]

Zur ersten Frage

46 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 4 VO 883/2004 [...] für die „besonderen beitragsunabhängigen Leistungen“ iSv Art 3 Abs 3 und 70 [...] gilt.

47 [...] das vorlegende Gericht [hat] die [...] in Rede stehenden Leistungen als „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ iSd Art 70 Abs 2 VO 883/2004 eingestuft.

48 [...] Art 3 VO 883/2004 [...] bestimmt in Abs 3 ausdrücklich, dass sie „auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Artikel 70 [der Verordnung gilt]“.

50 Zweitens sieht Art 70 VO 883/2004 in Abs 3 vor, dass Art 7 („Aufhebung der Wohnortklauseln“)228 und die anderen Kapitel ihres Titels III, der verschiedenen Arten von Leistungen gewidmet ist, nicht für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gelten.

51 Somit werden zwar durch Art 70 Abs 3 VO 883/2004 als Ausnahmevorschrift einige Bestimmungen der VO für nicht auf diese Leistungen anwendbar erklärt, doch gehört Art 4 der VO nicht zu diesen Bestimmungen.

55 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die VO 883/2004 dahin auszulegen ist, dass ihr Art 4 für die „besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen“ iSv Art 3 Abs 3 und Art 70 dieser VO gilt.

Zur zweiten und zur dritten Frage

56 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage [...] möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art 18 und 20 Abs 2 AEUV sowie Art 24 Abs 2 RL 2004/38 und Art 4 VO 883/2004 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der nicht erwerbstätige Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten ganz oder teilweise vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ iSd VO 883/2004 ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaates, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.

57 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art 20 Abs 1 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, den Status eines Unionsbürgers verleiht (Urteil N., C-46/12, EU:C:2013:9725, Rn 25).

58 Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, ist der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, im sachlichen Anwendungsbereich des AEUV unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen (Urteile Grzelczyk, C-184/99, EU:C:2001:458, Rn 31, D‘Hoop, C-224/98, EU:C:2002:432, Rn 28, und N., EU:C:2013:9725, Rn 27).

59 Jeder Unionsbürger kann sich daher in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art 18 AEUV berufen. Zu diesen Situationen gehören diejenigen, die die Ausübung der durch Art 20 Abs 2 UAbs 1 lit a und Art 21 AEUV verliehenen Freiheit betreffen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (vgl Urteil N., EU:C:2013:97, Rn 28 und die dort angeführte Rsp).

60 IdZ ist festzustellen, dass Art 18 Abs 1 AEUV jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit „[u]nbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ... in ihrem Anwendungsbereich“ verbietet. Art 20 Abs 2 UAbs 2 AEUV sieht ausdrücklich vor, dass die Rechte, die dieser Artikel den Unionsbürgern verleiht, „unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt [werden], die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind“. Ferner besteht nach Art 21 Abs 1 AEUV das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ (vgl Urteil Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, Rn 46 und die dort angeführte Rsp).

61 Dabei wird das in Art 18 AEUV in allgemeiner Weise niedergelegte Diskriminierungsverbot in Art 24 RL 2004/38 für Unionsbürger konkretisiert, die wie die Kl des Ausgangsverfahrens von ihrer Freiheit Gebrauch machen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten. Zudem erfährt dieses Verbot in Art 4 VO 883/2004 eine Konkretisierung für Unionsbürger, die wie die Kl des Ausgangsverfahrens im Aufnahme-Mitgliedstaat Leistungen nach Art 70 Abs 2 dieser VO beanspruchen.

63 Einleitend ist festzustellen, dass die von Art 70 Abs 2 VO 883/2004 erfassten „besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen“ unter den Begriff der Sozialhilfe iSd Art 24 Abs 2 RL 2004/38 fallen. Dieser Begriff bezieht sich nämlich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahme-Mitgliedstaates belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann (Urteil Brey, EU:C:2013:565, Rn 61).

64 Dies vorausgeschickt ist festzustellen, dass Art 24 Abs 1 RL 2004/38 und Art 4 VO 883/2004 das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit aufgreifen, während Art 24 Abs 2 der RL eine Ausnahme vom Diskriminierungsverbot enthält.

65 Nach dieser Bestimmung ist der Aufnahme-Mitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als AN oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des über diesen Zeitraum hinausgehenden längeren Zeitraums der Arbeitssuche nach Art 14 Abs 4 lit b RL 2004/38 einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen zu gewähren.

66 [...] Frau Dano [hat] ihren Wohnsitz seit mehr als drei Monaten in Deutschland, [ist] nicht auf Arbeitssuche und nicht in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats eingereist, um dort zu arbeiten, so dass sie nicht in den persönlichen Geltungsbereich des Art 24 Abs 2 RL 2004/38 fällt.

67 Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob Art 24 Abs 1 RL 2004/38 und Art 4 VO 883/2004 der Versagung von Sozialleistungen in [dieser] Situation entgegenstehen.

68 Nach Art 24 Abs 1 RL 2004/38 genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser RL im Hoheitsgebiet des Aufnahme-Mitgliedstaates aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates.

69 Daraus folgt, dass ein Unionsbürger eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahme-Mitgliedstaates hinsichtlich des Zugangs zu229 Sozialleistungen [...] nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt [...] die Voraussetzungen der RL 2004/38 erfüllt.

70 Dabei beschränkt erstens Art 6 RL 2004/38 für Aufenthalte bis zu drei Monaten die für das Aufenthaltsrecht geltenden Bedingungen oder Formalitäten auf das Erfordernis [...] eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses, und nach Art 14 Abs 1 RL besteht dieses Recht für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen fort, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahme-Mitgliedstaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen (Urteil Ziolkowski und Szeja, C-424/10 und C-425/10, EU:C:2011:866, Rn 39). Nach Art 24 Abs 2 RL 2004/38 ist der Aufnahme-Mitgliedstaat somit nicht verpflichtet, einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates oder seinen Familienangehörigen während des genannten Zeitraums einen Anspruch auf eine Sozialleistung einzuräumen.

71 Zweitens ist bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten die Ausübung des Aufenthaltsrechts von den in Art 7 Abs 1 RL 2004/38 genannten Voraussetzungen abhängig, und nach Art 14 Abs 2 der RL steht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen dieses Recht nur zu, solange sie diese Voraussetzungen erfüllen. [...]

72 Drittens geht aus Art 16 Abs 1 RL 2004/38 hervor, dass jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahme-Mitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht hat, sich dort auf Dauer aufzuhalten, und dass dieses Recht nicht an die in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen geknüpft ist. [...]

73 Bei der Beurteilung, ob nicht erwerbstätige Unionsbürger in der Situation der Kl [...], die sich länger als drei Monate, aber weniger als fünf Jahre im Aufnahme-Mitgliedstaat aufgehalten haben, hinsichtlich des Anspruchs auf Sozialleistungen eine Gleichbehandlung mit den Angehörigen des Aufnahme-Mitgliedstaates verlangen können, ist demnach zu prüfen, ob der Aufenthalt [...] die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit b RL 2004/38 erfüllt. Zu diesen Voraussetzungen gehört, dass der nicht erwerbstätige Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt.

74 Ließe man zu, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38 zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten, liefe dies dem in ihrem zehnten Erwägungsgrund genannten Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahme-Mitgliedstaates durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern.

75 Überdies unterscheidet die RL 2004/38 hinsichtlich der Voraussetzung, über ausreichende Existenzmittel zu verfügen, zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Personen. Der erstgenannten Gruppe [...], die sich im Aufnahme-Mitgliedstaat befinden, steht nach Art 7 Abs 1 lit a RL 2004/38 das Aufenthaltsrecht zu, ohne dass sie weitere Voraussetzungen erfüllen muss. Dagegen wird in Art 7 Abs 1 lit b dieser RL von nicht erwerbstätigen Personen verlangt, dass sie über ausreichende eigene Existenzmittel verfügen.

76 Art 7 Abs 1 lit b RL 2004/38 [soll] nicht erwerbstätige Unionsbürger daran hindern, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahme-Mitgliedstaates zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch zu nehmen.

77 Wie der GA in den Nrn 93 und 96 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist das eventuelle Vorliegen einer Ungleichbehandlung von Unionsbürgern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt Gebrauch gemacht haben, und Staatsangehörigen des Aufnahme-Mitgliedstaates bei der Gewährung von Sozialleistungen eine unvermeidliche Folge der RL 2004/38. Eine solche potenzielle Ungleichbehandlung beruht nämlich auf dem Verhältnis, das der Unionsgesetzgeber in Art 7 dieser RL zwischen dem Erfordernis ausreichender Existenzmittel als Voraussetzung für den Aufenthalt und dem Bestreben, keine Belastung für die Sozialhilfesysteme der Mitgliedstaaten herbeizuführen, geschaffen hat.

78 Ein Mitgliedstaat muss daher gem Art 7 RL 2004/38 die Möglichkeit haben, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaates zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen.

79 Würde einem betroffenen Mitgliedstaat diese Möglichkeit genommen, hätte dies [...] zur Folge, dass Personen, die bei ihrer Ankunft im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, um für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, automatisch in den Genuss solcher Mittel kämen, und zwar durch die Gewährung einer besonderen beitragsunabhängigen Geldleistung, deren Ziel darin besteht, den Lebensunterhalt des Empfängers zu sichern.

80 Folglich ist bei der Beurteilung, ob ein Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel verfügt, um ein Aufenthaltsrecht nach Art 7 Abs 1 lit b RL 2004/38 in Anspruch nehmen zu können, eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation jedes Betroffenen vorzunehmen, ohne die beantragten Sozialleistungen zu berücksichtigen.

81 Im Ausgangsverfahren verfügen die Kl [...] nicht über ausreichende Existenzmittel und können mithin kein Recht auf Aufenthalt im Aufnahme-Mitgliedstaat nach der RL 2004/38 geltend machen. Wie oben in Rn 69 [...] ausgeführt, können sie sich daher nicht auf das Diskriminierungsverbot des Art 24 Abs 1 dieser RL berufen.

82 Demnach steht Art 24 Abs 1 RL 2004/38 iVm ihrem Art 7 Abs 1 lit b einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegen, wenn diese die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, denen im Aufnahme-Mitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38 zusteht, vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ iSd Art 70 Abs 2 VO 883/2004 ausschließt.

83 Das Gleiche gilt in Bezug auf die Auslegung des Art 4 VO 883/2004. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leistungen, bei denen es sich um „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ iSd Art 70 Abs 2 dieser VO handelt, werden nämlich230 nach Art 70 Abs 4 ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach dessen Rechtsvorschriften gewährt. Daher spricht nichts dagegen, die Gewährung solcher Leistungen an nicht erwerbstätige Unionsbürger von dem Erfordernis abhängig zu machen, dass sie die Voraussetzungen der RL 2004/38 für ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahme-Mitgliedstaat erfüllen (vgl in diesem Sinne Urteil Brey, EU:C:2013:965, Rn 44).

84 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art 24 Abs 1 RL 2004/38 iVm ihrem Art 7 Abs 1 lit b und Art 4 VO 883/2004 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaates nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ iSd Art 70 Abs 2 VO 883/2004 ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des Aufnahme-Mitgliedstaates, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, sofern den betreffenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnahme-Mitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38 zusteht. [...]

ANMERKUNG

In der hier zu besprechenden Rs Elisabeta und Florin Dano hat der Gerichtshof der EU wesentliche Korrekturen an seiner Rsp in der Rs Brey angebracht (dazu Rebhahn, wbl 2013, 605 ff), ohne dies freilich ausdrücklich zu erwähnen. Frau Dano und ihr Sohn hatten beim Jobcenter Leipzig einen Anspruch auf Grundsicherung nach dem SGB II geltend gemacht.

Auf der Grundlage von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II wurde dieser Anspruch abgelehnt. Das Sozialgericht Leipzig teilte im Prinzip die Auffassung, dass Frau Dano nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II und § 23 Abs 3 SGB XII keinen Anspruch auf Leistung der Grundsicherung habe, formulierte allerdings Zweifel, ob die unionsrechtlichen Bestimmungen insb Art 4 der Wanderarbeitnehmer-VO 883/2004 und der allgemeine Grundsatz der Nichtdiskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit nach Art 18 AEUV der deutschen Rechtslage entgegen stünden. Offenbar inspiriert von der Rs Brey legte das Sozialgericht Leipzig dem Gerichtshof der EU die Frage vor, ob es den Mitgliedstaaten durch Art 4 der VO 883/2004 verwehrt sei, zur Vermeidung einer unangemessenen Inanspruchnahme von existenzsichernden, beitragsunabhängigen Sozialleistungen bedürftige Unionsbürger vom Bezug derartiger Leistungen, die eigenen Staatsbürgern in gleicher Lage gewährt werden, ganz oder teilweise auszuschließen. Darüber hinaus wollte das Sozialgericht Leipzig wissen, ob ein derartiger Leistungsausschluss in Widerspruch zu Art 18, zu Art 20 Abs 2 AEUV bzw zu Art 20 Abs 2 und Art 24 Abs 2 der Unionsbürger-RL 2004/38/EG stünde.

Zunächst noch in Übereinstimmung mit der Rs Brey hielt der Gerichtshof seine Auffassung aufrecht, wonach die von Art 70 Abs 2 der Wander-AN-VO erfassten besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gleichzeitig Sozialhilfeleistungen iSd Art 24 Abs 2 der Unionsbürger-RL darstellen. Obwohl die Wander-AN-VO besondere beitragsunabhängige Geldleistungen als Leistungen der sozialen Sicherheit und gerade nicht als Leistungen der Sozialhilfe begreift, versteht der Gerichtshof Art 24 Abs 2 der Unionsbürger-RL offenbar umfassender und hält fest, dass eine Leistung der sozialen Sicherheit iSd Wander-AN-VO eine Sozialhilfeleistung iSd Unionsbürger- RL darstellen kann. Danach gibt der Gerichtshof die bekannte Rechtslage wieder, dass in den ersten drei Monaten eines Aufenthaltes die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, Unionsbürgern Anspruch auf eine Sozialleistung einzuräumen, auch wenn eigenen Staatsbürgern ein derartiger Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe gewährt wird. Beim Erwägungsgrund 73 kommt der Gerichtshof auf den entscheidenden Zeitraum von länger als drei Monaten und weniger als fünf Jahren erlaubten Aufenthalts zu sprechen.

Hier sei zu prüfen, ob der Aufenthalt dieser Unionsbürger die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit b der RL 2004/38/EG (Unionsbürger-RL) erfüllt. Zu diesen Voraussetzungen gehöre, dass der nichterwerbstätige Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt. In Rn 74 des Dano-Urteils bricht nun der Gerichtshof mit seiner Brey-Rsp. In den Rn 63 und 64 von Brey heißt es „daher kann der Umstand, dass ein wirtschaftlich nicht aktiver Angehöriger eines anderen Mitgliedstaates angesichts der geringen Höhe seiner Rente zum Bezug einer solchen Leistung berechtigt sein kann einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfüge, um die Sozialhilfeleistung dieses Staates nicht unangemessen ... in Anspruch zu nehmen“. Die zuständigen nationalen Behörden könnten eine solche Schlussfolgerung jedoch nicht ziehen, ohne eine umfassende Beurteilung der Frage vorzunehmen, welche Belastung den nationalen Sozialhilfesystemen in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände konkret entstünde.

Nach Brey hätten also die Mitgliedstaaten zu prüfen, ob und gegebenenfalls ab welchem Zeitpunkt durch die Gewährung von Leistungen der Sozialhilfe an EU-Ausländer das nationale Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit übermäßig belastet würde. Rn 74 des Dano-Urteils besagt hingegen Folgendes: „Ließe man zu, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38/EG zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten, liefe dies dem Ziel zuwider eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahme-Mitgliedstaates durch Unionsbürger die Staatsangehörige anderer Mitgliedsstaaten sind, zu verhindern.

Während also nach Brey die Mitgliedstaaten noch zu prüfen verpflichtet waren, ob die Sozialhilfeleistungsgewährung an EU-Ausländer ihre Sozialhilfesysteme über Gebühr beansprucht, können diese nach der Dano-Rsp Sozialhilfeleistungen verweigern, damit es erst gar nicht zu einer übermäßigen Belastung der Sozialhilfesysteme kommt.

Dies geschieht nunmehr ohne die in der Rs Brey geforderte Beurteilung der Frage, welche konkrete Belastung die Gewährung einer Sozialhilfeleistung nach Maßgabe der die Lage des Betroffenen kennzeichnenden, individuellen Umstände für das231 gesamte Sozialhilfesystem darstellt. Während also die Mitgliedstaaten in Brey zu einem konkreten Belastungstest ihrer Systeme der Sozialhilfe verpflichtet wurden, rechtfertigt nun die potenzielle Gefährdung der Finanzierbarkeit nationaler Sozialhilfesysteme den pauschalen Ausschluss von EU-Ausländern von der Sozialhilfegewährung. Sohin wendet sich der Gerichtshof nunmehr von seiner in Brey eingeführten zukunftsbezogen Einzelfallprüfung der Systembelastung durch zu erwartende Auszahlungen ab und wieder hin zu einer gegenwartsbezogenen Sichtweise, welche auf die per se-Belastung, welche sich durch fehlende Beiträge zum Steueraufkommen manifestiert, abzielt (Kapuy, Der Zugang zu Sozialleistungen innerhalb der EU, ZAS 2014/32, 196).

In Rn 76 führt der Gerichtshof sogar aus, dass es (pauschal) das Ziel von Art 7 Abs 1 lit b der Unionsbürger-RL sei, nicht erwerbstätige Unionsbürger daran zu hindern, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahme-Mitgliedstaates zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes in Anspruch zu nehmen. Dem folgend führt der Gerichtshof in Rn 77 aus, dass diese „Ungleichbehandlung von Unionsbürgern ... und Staatsangehörigen des Aufnahme-Mitgliedstaates bei der Gewährung von Sozialleistungen eine unvermeidliche Folge“ der Unionsbürger-RL sei. Eine solche Ungleichbehandlung beruhe nämlich auf dem Verhältnis, das der Unionsgesetzgeber in Art 7 dieser RL zwischen dem Erfordernis ausreichender Existenzmittel als Voraussetzung für den Aufenthalt und dem Bestreben, keine Belastung für die Sozialhilfesysteme der Mitgliedstaaten herbeizuführen, geschaffen hat.

Von einer umfassenden Beurteilung der Frage, welche Belastungen den nationalen Sozialhilfesystemen in seiner Gesamtheit aus der Gewährung von Sozialleistungen an EU-Ausländer konkret entständen, ist nun nicht mehr die Rede. Eine nationale Regelung darf Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, denen im Aufnahme-Mitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der Unionsbürger-RL zusteht, vom Bezug bestimmter besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen ausschließen. Ich formuliere überspitzt: während in Brey Mitgliedstaaten verpflichtet wurden, Sozialhilfeleistungen an EU-Ausländer bis zur Grenze der zumutbaren Belastbarkeit des nationalen Sozialhilfesystems zu leisten, ist nun nach Dano das Ziel, eine unzumutbare Belastung zu verhindern, bereits ausreichend, um die Leistungsgewährung zu verweigern.

Ich gehe davon aus, dass die E Dano nicht bloß wegen des Grundsatzes sententia posterior derogat priori die Bedeutendere und Entscheidende ist, sondern dies vielmehr der Tatsache geschuldet ist, dass diese – statt wie die Rs Brey in der dritten – in der großen Kammer des Gerichtshofes entschieden wurde. Freilich muss man sich allzu apodiktische Voraussagen über die zukünftige Rsp des Gerichtshofes – nicht nur in Sozialhilfefällen, sondern ganz generell – verkneifen.

Sollte der Gerichtshof in der vom Bundessozialgericht vorgelegten Rs Alimanovic die Dano-Rsp bestätigen (Beschluss des BSG B 4 AS 9/13 R, C-67/14 [Alimanovic]), wird man diese als gefestigt betrachten können. Besonderer Klärung bedarf die Frage, ob das aus der Freizügigkeit entspringende Recht auf Arbeitssuche die Inanspruchnahme von Sozialleis tungen zur Sicherung der Existenz und Integration des Leistungsempfängers in den Wohnort-Mitgliedstaaten umfasst, oder ob es auf die Angehörigen des Wohnort-Mitgliedstaates beschränkt werden darf (Eichenhofer, Vorlagen an den EuGH: Anmerkungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende/Leistungsausschluss für Ausländer zur Arbeitsuche, ZESAR 10/2014, 428 [430]).

Die Notwendigkeit einer europäischen Koordinierung der Sozialhilfe bleibt mE dennoch bestehen. In Brey und Dano wurden hinsichtlich einer Belastungsverteilung jeweils maximale Ausschläge einer Pendelbewegung der Migration nichterwerbstätiger EU-Bürger erreicht. Eine europäische Solidargemeinschaft, die sich der Freizügigkeit als Grundrecht verpflichtet fühlt, sollte einen Ausgleich zwischen der Verantwortung der Herkunfts- und Aufnahme-Mitgliedstaaten herbeiführen. Das ist weder in der Rs Brey noch in der Rs Dano gelungen, aber an sich auch nicht Aufgabe der Gerichtsbarkeit.