Zum 75. Geburtstag von Josef Cerny – Zwischen Rechtswissenschaft, Sozialpolitik und Krisenmanagement

KLAUS-DIETERMULLEY (WIEN)

2008 erschienen die in HistorikerInnenkreisen bis heute heftig diskutierten „Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970“ unter dem Titel „Nach dem Boom“.* Die AutorInnen machten damit auf den in Deutschland Mitte der 1970er-Jahre einsetzenden „Strukturbruch“ aufmerksam, der eine Zäsur in der „Gesellschaftsgeschichte“ seit 1945 darstellte. Sie leisteten damit einen wichtigen Beitrag zu einem, abseits von reiner Politikgeschichte oder ökonomistischen Theorien liegenden, neuen Verständnis für die Erforschung der zeitgeschichtlichen Entwicklung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Unser Jubilar stand nicht nur als „Zeitzeuge“ inmitten dieser, für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Zäsur bezeichneten „Umbruchsjahre“, sondern gestaltete ab Mitte der 1960er-Jahre die Zeit des „Booms“ durch seine Mitwirkung an zahlreichen sozialpolitischen Gesetzen mit und war „nach dem Boom“ als Direktor der Arbeiterkammer (AK) maßgeblich dafür verantwortlich, dass der neoliberale, populistisch initiierte Angriff auf die gesetzliche Vertretung der AN und in weiterer Folge auf das sozialpartnerschaftliche System Österreichs erfolgreich abgewendet werden konnte.

1.
Biografisches

Doch bevor versucht wird, Cernys Grundsätze sozialpolitischen Handelns und seine Tätigkeit als Direktor der Arbeiterkammer inmitten politisch schwieriger Jahrzehnte mit einigen Worten zu skizzieren – die Kenntnis seines umfangreichen arbeits- und sozialrechtswissenschaftlichen Oeuvre (dessen Würdigung hier die Kompetenzen eines Historiker überschreiten würden) sind den LeserInnen von DRdA wohl bekannt* –, soll vor allem für die jüngeren LeserInnen von DRdA ein kurzer Lebenslauf des Jubilars vorangeschickt werden:

Josef Cerny wurde 1940 in Wien geboren, absolvierte in den Jahren 1958 bis 1962 das Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Wien und trat nach seiner Promotion zum Dr. iur. in die Arbeiterkammer Wien ein. Nach Lehrjahren in der Abteilung für Sozialversicherung und als Direktionsassistent wechselte er 1964 in die sozialpolitische Abteilung, womit auch seine arbeits- und sozialrechtswissenschaftliche Publizistik mit einem Aufsatz über die „Ausprägung sozialer Grundrechte in Österreich* begann. Rasch avancierte er zu einem gesuchten Vortragenden in Bildungseinrichtungen in und außerhalb der AK und der Gewerkschaften. 1975 wurde er zum Leiter der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien bestellt, 1980 bestimmte ihn der Vorstand der Kammer zum stellvertretender Kammeramtsdirektor und Leiter des Bereiches Sozialpolitik. Wenige Jahre später, 1985, bat ihn Präsident Adolf Czettel als Direktor die Leitung des Büros der Arbeiterkammer Wien und (damit) des Österreichischen Arbeiterkammertages (ÖAKT) (jetzt: Bundesarbeitskammer) zu übernehmen, was er bis zu seiner Pensionierung mit Ende des Jahres 2000 blieb. Durch sein umfangreiches, instruktives rechtswissenschaftliches Ouevre bekam er 1982 einen Lehrauftrag für Arbeitsrechtspolitik und wurde von der Universität Salzburg 1986 zum Honorarprofessor bestellt. Neben diversen (Vorstands-)Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Gesellschaften und Kommissionen war Josef Cerny lange Jahre Schriftleiter der Zeitschrift „Das Recht der Arbeit“ und Vorsitzender des Redaktionskomitees der Zeitschrift „Arbeit & Wirtschaft“. Intellektueller Scharfsinn, eine klare Sprache und ein tiefes soziales Gewissen, immer auch verbunden mit dem Ziel für notwendige Entscheidungen, Einhelligkeit bei „seinen“ FunktionärInnen, MitstreiterInnen und MitarbeiterInnen zu erreichen, zeichneten Josef Cerny über seine gesamte berufliche Laufbahn aus.

2.
Sozialpolitik ist Gesellschaftspolitik

Josef Cerny begann – wie aus dem Lebenslauf ersichtlich – gegen Ende der in Österreich „langen“ – bis Mitte der 1960er-Jahre reichenden – Fünfziger Jahre seine Berufslaufbahn. Ab Mitte der „boomenden“ Sechziger und vor allem in den Siebzigerjahren, in welchen „das Soziale“ im Mittelpunkt des politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Denkens und Handelns stand, Solidarität gelebt und ab 1968 in der Linken die Hoffnung auf eine sukzessive Überwindung des Kapitalismus genährt wurde, hatte Josef Cerny an der Ausgestaltung des wirtschaftlichen Systems zu einer „Sozialen Marktwirtschaft“ regen Anteil. Hatte sein Mentor und Freund Gerhard Weißenberg* das Wort „Sozialpolitik ist Kritik an der Gesellschaftsordnung“ geprägt, so sah CernySozialpolitik als Gesellschaftspolitik“. Er war auch in der Folge an den sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen nahezu aller sozialpolitischen Gesetze* beteiligt,355 musste jedoch schmerzlich miterleben, wie anfangs der Achtziger Jahre der ökonomisch und politisch zur gesellschaftspolitischen Hegemonie antretende Neoliberalismus das bislang gut funktionierende Bündnis zwischen Realkapital und Arbeit zu zerstören begann, mithin jener Sozialstaat, an dessen Ausgestaltung der Jubilar führend beteiligt war, zunehmend in die Defensive geriet. Vehement trat Cerny dann auch publizistisch gegen den „Stillstand“ in der Sozialpolitik auf, bezeichnete diesen als „Rückschritt“ und dokumentierte, dass die allenthalben behauptete Steigerung der Sozialausgaben falsch ist. „Die Geschichte von der ‚Explosion der Sozialausgaben‘ entpuppt sich als Politmärchen“, schrieb er 1981* und wies nach, dass das von der Industriellenvereinigung damals vertretene, die „Eigenvorsorge“ favorisierende Konzept einer „qualitativen Sozialpolitik“, nur die eigene Klientel bevorzugte.* Mit scharfen Worten geißelte Josef Cerny 1983 die nun auch in Österreich vorerst nur in „Schlagworten“ zunehmende „konservative Kritik“ am Sozialstaat* und wies warnend auf den Abbau von Sozialleistungen durch die neoliberale Realpolitik in anderen Staaten hin: „Alle Erfahrung beweist, dass dieser Weg des Sozialabbaus nicht aus ökonomischen Krisen herausführt, sondern im Gegenteil durch Verringerung der Massenkaufkraft die Krise noch verschärft.*

Darüber hinaus gab Cerny, die damals von den Soziologen mit zunehmender Individualisierung und sogenannten „Wertewandel“ beschriebene gesellschaftspolitische Entwicklung zutreffend einschätzend, der bislang betriebenen Sozialpolitik „von Oben“ eine Absage. „Sozialpolitik“, so meinte er 1984, darf „nicht nur abwehrende, erhaltene, bewahrende Politik sein, sie muss vielmehr offensive, gestaltende Politik sein. Eine solche Politik kann aber nur dann mit Erfolg betrieben werden, wenn die Betroffenen von der Richtigkeit und Notwendigkeit sozialpolitischer Maßnahmen überzeugt sind. Wir dürfen deshalb nicht nur mit Zahlen und Statistiken argumentieren, wir sollten wieder mehr und vor allem mit den Menschen reden, die hinter den Zahlen stehen.*. Allein die PolitikerInnen von SPÖ und ÖVP folgten damals nicht den mahnenden Worten des Direktors der AK Wien und des ÖAKT, was in der Folge mit ein Nährboden für den nun einsetzenden Rechtspopulismus von Jörg Haider war.

3.
AK-Krisenmanager

Josef Cerny übernahm 1985 als „Kammeramtsdirektor“ von AK und ÖAKT ein schwieriges Erbe. „Die Arbeiterkammer war“ – wie Schwarz ausführte, damals „eine Einrichtung, die hinter den Kulissen im Aufbau des Sozialstaates der Gewerkschaften mitarbeitete, in der Öffentlichkeit aber weiterhin unbekannt war. Mehr noch – sie tat alles, um nicht aufzufallen“.* Darüber hinaus hatte das von Präsident Adolf Czettel in einem bereits damals der Zeit ungemäßen, postklassizistischen Baustil errichtete Bildungszentrum mit der Neuerrichtung eines Theaters die AK Wien in finanzielle Turbulenzen gestürzt, die den Direktor bis zu seiner Pensionierung begleiten sollten. Auch die überkommene interne Organisationsstruktur des Büros sowie fehlende Richtlinien für alle Kammern im Rahmen der ÖAKT uam bedeuteten für den neuen Direktor eine große Herausforderung.

Wenn es auch immer wieder Reformdiskussionen über die Organisation der gesetzlichen Interessenvertretungen gab,* eine Modifizierung der gesetzlichen Grundlagen der AK ab 1984 zwischen den wahlwerbenden Gruppen heftig diskutiert wurde, so gaben die gesunkene Wahlbeteiligung bei der AK-Wahl 1989 und das populistisch von Haider vor der Nationalratswahl 1990 aufgezeigte exorbitante Einkommen des steirischen AK-Präsidenten, verbunden mit seinen für eine AN-Vertretung als skandalös angesehenen Wahlgeschenken („Rechberger-Zigarren“), den Anstoß, eine AK-Reform von Kopf und Gliedern rasch und ohne Umschweife in Angriff zu nehmen. Für Josef Cerny war dies eine Aufgabe und ein Auftrag, welchen er sich fortan mit all seinem juridischen Sachverstand und politischer Überzeugungskraft erfolgreich widmete. Der Kammeramtsdirektor, der seine wissenschaftspolitische Berufung in einer Weiter- und Fortentwicklung des Arbeits- und Sozialrechts sah, mutierte zum erfolgreichen Krisenmanager. Denn es war Josef Cerny, der die umfassende Erneuerung der seit 1954 konstant gebliebenen Rechtsgrundlagen in Angriff nahm. Wie von ihm gewohnt, brachte der Jubilar die Grundsätze, unter welchen sich ab nun eine Reform des Kammergesetzes vollziehen sollte, auf den Punkt: Es ging, nicht mehr und nicht weniger – wie Cerny in der ihm eigenen Unmissverständlichkeit und Klarheit formulierte – um die Aufrechterhaltung der Kammer als öffentlich-rechtliche Körperschaft unter einer demokratisch gewählten Selbstverwaltung mit autonomen Wirkungsbereich, frei von staatlichen Eingriffen, einer ex lege-Zugehörigkeit („Pflichtmitgliedschaft“) und um eine Finanzierung durch Beiträge (Umlagen) der kammerzugehörigen AN.*

4.
„Mutter des AKG 1992

Wenn der Autor dieser Zeilen einst den damaligen Präsidenten der AK und des ÖAKT Heinz Vogler als „Vater des AKG 1992“ bezeichnet hat, so ist dies von der politischen Repräsentation her gesehen durchaus zutreffend und gerechtfertigt. Doch die erfolgreiche „Geburt“ dieser Norm ist allein Josef Cerny zuzuschreiben, dem es durch beispiello-356sen konzeptiven Einsatz, bewundernswerter legistischer Formulierungskunst und unermüdlichem Verhandlungsgeschick gegenüber den in der AK wahlwerbenden Gruppen (späterhin Fraktionen), den Gewerkschaften, der Aufsichtsbehörde und den im Nationalrat vertretenen politischen Parteien gelang, das AKG zum erfolgreichen Abschluss zu bringen. Cernys AKG 1992 katapultierte die Arbeiterkammern in eine „moderne“ gesetzliche AN-Vertretung für das 21. Jahrhundert: Es brachte mehr Demokratie, mehr Kontrolle, mehr Transparenz, eine normierte Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und den betrieblichen AN-Vertretungen und nicht zuletzt mehr Service durch den Rechtsschutz in arbeits- und sozialrechtlichen Angelegenheiten und die ausdrückliche Aufnahme von Konsumentenschutz, Umweltschutz, Freizeitgestaltung, Gesundheitspolitik, Wohnungspolitik und internationale AN-Politik in den Wirkungskreis der Arbeiterkammern. Einher mit dieser legistischen „Neugestaltung“ der AK initiierte Cerny in der Folge einen AK-internen Reformprozess, der das Büro der AK Wien (welches bekanntlich auch die Bundesagenden zu führen hat) in wenigen Jahren zu einer den Anforderungen ihrer Mitglieder entsprechenden Organisation machen sollte. Erstmals wurde die Arbeit der AK und ihrer MitarbeiterInnen extern evaluiert, in der Folge wurden zahlreiche organisatorische Veränderungen durchgeführt, die medialen Auftritte verbessert und das Pensionsrecht der MitarbeiterInnen reformiert.

5.
AK-Bestandssicherung durch Mitgliederbefragung 1996

Einem Blitzschlag gleich traf denn auch Cerny die erneute öffentlichkeitswirksame Provokation von Jörg Haider, der 1994 in einer TV-Diskussion auf das überhöhte Gehalt des steirischen AK-Direktors hinwies. Nachdem AK-Präsident Heinz Vogler durch eine beispiellose Medienkampagne („Bonzen in der AK“) und fehlender Unterstützung aus den Reihen der SPÖ zum Rücktritt gezwungen worden war, war es wiederum Josef Cerny, der – nach Übernahme der Präsidentschaft durch Lore Hostasch – die AK-Reform weiterführte und als Krisenmanager gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Herbert Wabnegg die im Regierungsprogramm 1994 für alle Kammern geforderte Mitgliederbefragung 1996 zu einem vollen Erfolg führte: Mehr als 90 % der Befragten sprachen sich dafür aus, dass die Arbeiterkammern auch in Zukunft als gesetzliche Interessenvertretung erhalten bleiben sollen.

Im Rahmen der Diskussion um die Einbeziehung der AK unter die Kontrolle des Rechnungshofes (RH) gelang es Cerny, einen Eingriff in die autonomen Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung abzuwehren und die Kontrollbefugnis des RH auf Richtigkeit der Rechnungsabschlüsse, Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und kammereigenen Richtlinien, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit zu beschränken. Die in den folgenden Jahren durchgeführten Überprüfungen der AK Wien, des BAK Büros und der Präsidentenverträge riefen auch keine substantielle Kritik des RH hervor. Somit konnte Cerny, bereits einige Jahre vor seiner Pensionierung, rückblickend als schwer geprüfter, jedoch erfolgreicher „AK-Krisenmanager“ als Mahnung und Auftrag für die Zukunft festhalten: „Je aufgeschlossener, je bereitwilliger, je offensiver die Arbeiterkammern sich den (Anm des Verf) neuen Herausforderungen stellen, desto größer ist ihre Chance, auch in Zukunft als wirksame Interessenvertretung der ArbeiternehmerInnen bestehen zu können.*Cernys Nachfolger als Direktor der AK Wien und BAK, Werner Muhm, konnte dann auch erfolgreich die AK in diesem Sinne weiterführen und den jeweiligen gesellschaftspolitischen Veränderungen anpassen, wodurch die Arbeiterkammern im Institutionenranking heute einen Spitzenplatz einnehmen.*

Ob als Wissenschaftler, Sozialpolitiker oder Direktor der AK, Josef Cerny war immer ein Verfechter einer gewerkschaftlich orientierten sozialen Gestaltung unserer Gesellschaft. 2009 schrieb unser Jubilar im Zusammenhang mit einer Kritik am EuGH, der in seinen Urteilen gewerkschaftliche Grundrechte in Frage stellte, die – heute inmitten einer nicht nur ökonomischen, sondern auch sozialen Krise der Europäischen Gemeinschaft – aktuellen und mahnenden Worte: „Das große Projekt eines gemeinsamen friedlichen Europas wird nur dann Zukunft haben, wenn es ein soziales Europa gibt, das von den Menschen auch tatsächlich so erlebt werden kann.* In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass der von Josef Cerny stets voran getriebene rechtswissenschaftliche und sozialpolitische Diskurs die gegenwärtige und zukünftige Politik unseres Landes und der EU beeinflusst und „das Soziale“ wieder in den Mittelpunkt rechtlicher und politischer Entscheidungen rückt.

Lieber „Joschi“ Cerny, die Schriftleitung und die AutorInnen von DRdA wünschen Dir glückliche und gesunde Jahre und uns allen noch viele kritische Kommentare, Aufsätze und mahnende Worte aus Deiner Feder.357