Klasse – Geschlecht – globale Differenz: Drei Achsen der Ungleichheit in der Gründungsstunde der Internationalen Arbeitsorganisation im Jahr 1919

SUSANZIMMERMANN (WIEN)

Vor bald hundert Jahren wurde mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) eine Institution gegründet, die seitdem für die Entwicklung internationaler Arbeits- und Sozialstandards eine zentrale Rolle spielt. Die ILO wirkte zunächst als eigenständige Teilorganisation des Völkerbundes, seit 1945 gehört sie zu den Vereinten Nationen. Die Standards der ILO, und damit auch deren arbeits- und sozialpolitische Herangehensweisen und „Blaupausen“, haben seitdem die Arbeits- und Sozialgesetzgebung und das Denken von SozialpolitikerInnen und ArbeitsrechtlerInnen in großen Teilen der Welt maßgeblich beeinflusst und mitgeprägt.

Am Ende des Ersten Weltkriegs hatten (nicht nur) Gewerkschaften und Arbeiterbewegung große Hoffnungen darin gesetzt, dass die bevorstehenden Friedensschlüsse einen Entwicklungsschub der Arbeits- und Sozialgesetzgebung zugunsten der Beschäftigten bringen würden. Anknüpfend an die internationalen Arbeitsschutzübereinkommen der Vorkriegszeit und unter Berufung darauf, dass die Schaffung internationaler Institutionen zur Sicherung von Frieden und sozialer Gerechtigkeit in Aussicht gestellt war, strebten sie ua nach einer Internationalisierung des Arbeitsrechts unter bestimmender Mitwirkung der Arbeiterschaft. Der historische Moment war günstig. Die Rolle der Arbeiterschaft in der Kriegsproduktion und mancherorts in der Politik der kriegführenden Länder, die Angst vor der Revolution in Russland sowie revolutionäre Erhebungen, Streiks und soziale Unruhe vielerorts verschafften der Arbeiterbewegung großes politisches Gewicht.

Doch zugleich war diese aktualpolitische Konstellation von politischen Gegenkräften gleichsam eingekreist und auch durchsetzt. Langfristig wirksame gewichtige Interessen, welche den Bestrebungen nach Emanzipation auch nur im Rahmen der kapitalistischen Weltgesellschaft abwehrend oder zwiespältig gegenüberstanden, drückten der ILO, noch bevor diese tatsächlich aus der Taufe gehoben war, unverkennbar ihren Stempel auf. In der Gründungsstunde der ILO standen, was die Arbeits- und Lebensbedingungen der „Lohnarbeiter“ betraf, um deren Verbesserung bzw Garantie es der ILO laut Verfassung von 1919* gehen sollte, drei Teilelemente dieser Emanzipationsbestrebungen im Zentrum der Auseinandersetzung: die „Klassenfrage“, die „Frauenfrage“, und die Problematik der ungleichen globalen Entwicklung der Arbeitsverhältnisse, die einer Spaltung der WeltarbeiterInnenschaft nach Hautfarbe, und damit einer „Rassenfrage“ gleichkam.

Dieser Aufsatz diskutiert im Überblick einige der zentralen Auseinandersetzungen um die drei genannten „Fragen“ sowie deren Ergebnisse in Gestalt insb des Gründungsdokuments der ILO im Jahr 1919. Unterschiedliche Interessen bezüglich dieser drei Problemkreise bezogen sich auf die institutionelle Struktur der zukünftigen ILO, auf die Prinzipien, die deren Politik strukturieren sollten und auf die ersten Schritte in Richtung internationaler Arbeits- und Sozialstandards, die man setzen wollte.

Die entsprechenden Entscheidungen fielen in erster Linie im Zuge der Friedensverhandlungen von Paris. Verantwortlich für die Erarbeitung des Endentwurfs des Gründungsdokuments der ILO war die von den Friedensunterhändlern installierte Labour Commission. Die Kommission tagte in zwei voneinander getrennten großen Verhandlungsabschnitten zwischen 1.2. und 24.3.1919. Sie erarbeitete den Entwurf der Verfassung der ILO, einschließlich eines Anhanges zu Organisation und Programm der ersten, noch für das Jahr 1919 geplanten, Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz. Hinzu kam die Niederlegung von sogenannten „Allgemeine[n] Grundsätze[n]“ der Arbeitsgesetzgebung, die während der Friedensverhandlungen durchgängig unter dem Stichwort „Labour Charter“ diskutiert worden waren. Nachdem die Kommission ihre Arbeit abgeschlossen hatte, kam es im Gefolge von Interventionen der Delegationen verschiedener Länder noch zu einigen für unseren Zusammenhang bedeutsamen Änderungen in den Dokumenten, bevor die Pariser Friedenskonferenz (eigentlich: The Conference for the Discussion of the Preliminaries of Peace) diese358 Dokumente auf zwei Plenarsitzungen im April annahm. Nach gewissen redaktionellen Überarbeitungen fanden die Texte schließlich Eingang in die Pariser Friedensverträge.

Die Delegierten der Pariser Labour Commission wurden von den Regierungen bestimmt, und sie repräsentierten offiziell diese Regierungen. Unter den Mitgliedern der Kommission waren allerdings international aktive Experten der Sozialpolitik, Fachpolitiker (darunter auch Sozialdemokraten) sowie Gewerkschafter, darunter der französische Gewerkschaftsführer Léon Jouhaux – als „stellvertretender“ Delegierter – und der Präsident der US-amerikanischen American Federation of Labor, Samuel Gompers, der auch den Vorsitz der Kommission übernahm.* Neben der USA und europäischen Staaten waren Japan und Kuba in der Kommission vertreten.* Im Rückblick betonte das Internationale Arbeitsamt – so die Bezeichnung des ständigen Apparats der ILO mit Sitz in Genf – ganz offiziell, dass jene gewerkschaftlichen Kräfte, die in Paris die Internationalisierung der Arbeits- und Sozialpolitik vorantreiben wollten, in der Labour Commission stark vertreten waren. Genannt wurden Ernest Mahaim, Arthur Fontaine und Sir Malcom Delevingne, „die treibenden Geister“ der in diesem Zusammenhang bedeutsamen internationalen Gewerkschaftskonferenzen der Jahre 1917 und 1919.* Der britische Chefunterhändler George Barnes war während des Krieges, (noch) in den Farben der Labour Party, zum Mitglied des britischen Kriegskabinetts bestellt worden.

Das Gremium, das die ILO auf den Weg brachte, war somit von Repräsentanten westlicher Industrienationen dominiert. Gewerkschaftliche und Arbeiterinteressen waren dabei zwar vergleichsweise stark vertreten, doch oblagen endgültige Entscheidungen der Pariser Friedenskonferenz. Die Verlierermächte des Ersten Weltkriegs konnten ihre Stimme in der Labour Commission nicht einbringen, nicht-westliche Staaten hatten wenig Einfluss, und die Welt der Kolonien und anderer abhängiger Territorien hatte keine eigenständige Vertretung. Frauen waren in der Labour Commission gleichsam selbstverständlich nicht vertreten, und dasselbe galt für die Friedenskonferenz.

1.
Arbeiter

Was die Verhandlung der „Klassenfrage“, also konkret die Stärkung von Arbeitermacht und Arbeiterrechten mithilfe universeller internationaler Arbeits- und Sozialstandards, betraf, so standen in der Gründungsstunde der ILO drei Themenkreise im Zentrum der Auseinandersetzung. Wichtig war erstens, in welchem Maße die Arbeitervertreter, durch die Festschreibung ihrer Stellung im Institutionengefüge der ILO, auf die zukünftige Politik der neuen Organisation Einfluss nehmen konnten. Zweitens ging es darum, in welchem Maße die ILO – als von Arbeitervertretern stärker oder weniger stark mitgestaltete Institution – auf die Arbeits- und Sozialgesetzgebung der einzelnen Länder würde Einfluss nehmen können. Es ging also mit anderen Worten um die Verankerung von Arbeiterinteressen in der Institution ILO und um die Macht der ILO über die nationalen Gesetzgebungskörperschaften. Zum dritten ging es um den verbindlichen oder weniger verbindlichen Charakter der „Labour Charter“; die diesbezüglichen Auseinandersetzungen im Zuge der Pariser Friedensverhandlungen behandle ich, im Zusammenhang mit der „Frage“ der globalen Differenz, im nächsten Abschnitt.

In den Debatten der Labour Commission von Paris wurde die Entscheidungsfindung zum Thema Handlungsmacht der ILO und zum Thema Arbeitervertretung in der ILO immer wieder miteinander in Verbindung gebracht. Außerdem ging es nicht nur darum, welche Auswirkungen entsprechende Entschlüsse auf das Wirken der ILO in der Zukunft haben würden, sondern auch darum, ob unterschiedliche Entscheidungen zu den beiden genannten Themenkreisen die erst noch zu bewerkstelligende Durchsetzung des Projektes ILO auf der Pariser Friedenskonferenz gefährden könnten.

Die Labour Commission machte in erster Linie einen von der britischen Delegation eingebrachten und auch vom parlamentarischen Ausschuss der britischen Gewerkschaftskonföderation Trades Union Congress unterstützten Erstentwurf für die Verfassung der ILO zur Grundlage ihrer Verhandlungen.* Dieser Entwurf sah eine – gemessen an den Wünschen vieler Gewerkschafter – vergleichsweise schwache Stellung der Arbeitervertreter in der ILO und eine klar eingeschränkte Kompetenz der ILO gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften vor. Demnach sollte das beschlussfassende Gremium der ILO, die Internationale Arbeitskonferenz, aus je einem Vertreter der Regierung, der AG und der AN jedes Mitgliedslandes zusammengesetzt sein, doch sollten bei Abstimmungen jedem Regierungsvertreter zwei Stimmen zukommen. Dieselbe Stimmenverteilung war auch für den Verwaltungsrat, das Leitungsgremium des zukünftigen Internationalen Arbeitsamtes, vorgesehen. Die Arbeitskonferenz sollte internationale Übereinkommen mit Zweidrittelmehrheit beschließen können. Laut britischem Entwurf waren die ILO-Mitglieder sodann zwar verpflichtet, derartige Abkommen zu ratifizieren und deren Umsetzung vorzubereiten, dennoch sollten die gesetzgebenden Körperschaften der Staaten das Recht haben, die Übereinkommen letztlich abzulehnen.*

Diese Vorstellungen standen in krassem Gegensatz zu den Beschlüssen der Internationalen Gewerkschafts-Konferenz von Bern, die während der Verhandlungen der Pariser Labour Commission getagt hatte; das Gewerkschaftsmanifest wurde der Kommission noch während ihrer Verhandlungen durch359 die französische Delegation formell zur Kenntnis gebracht. Die Gewerkschafts-Konferenz forderte, dass das Leitungsgremium und die Vollversammlung der zukünftigen ILO je zur Hälfte aus Gewerkschafts- und Regierungsvertretern bestehen sollten, und dass den Beschlüssen der jährlich zusammentretenden Vollversammlung „internationale Rechtskraft“ zukommen sollte. Die Berner Konferenz beschloss außerdem eine „Labour Charter“, die Teil der Pariser Friedensverträge werden und alle beteiligten Länder auf eine umfangreiche Liste von Arbeits- und Sozialstandards verpflichten sollte; die spätere Arbeit der ILO sollte diese unmittelbar für alle Länder durchzusetzenden Standards gleichsam nur mehr ergänzen.*

In der Labour Commission kämpfte man von Gewerkschaftsseite darum, dass es in der Internationalen Arbeitskonferenz, anders als in der britischen Vorlage geplant, zumindest eine drittelparitätische Verteilung der Stimmen geben sollte. Dabei traf sich die Haltung von Samuel Gompers, in dessen Weltsicht der Staat bei der Regulierung von Arbeitsbeziehungen nichts zu suchen hatte, mit jenen Stimmen, die argumentierten, dass die arbeitenden Klassen „niemals ein System akzeptieren“ würden, in dem den Regierungsvertretern im Vergleich zu den Arbeitervertretern doppelte Stimmmacht zukommen würde.* Demgegenüber begründete die Kommission in ihrem abschließenden Bericht ihre Entscheidung, den Regierungen doppelte Stimmmacht zu verleihen, mit dem Zusammenhang zwischen der (schwachen) Stellung der ILO gegenüber den Staaten und der (zu stärkenden) Regierungsmacht innerhalb der ILO. Die Internationale Arbeitskonferenz sei „nicht einfach eine Versammlung, deren Zweck es ist, Resolutionen zu beschließen, vielmehr werde sie Entwürfe von Übereinkommen erstellen, die die Staaten ihren gesetzgebenden Körperschaften vorlegten“. Es sei darum „wesentlich, dass den Regierungen zumindest gleiche Stimmmacht“ zukomme wie den AG- und AN-Vertretern gemeinsam. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass die „gesetzgebenden Körperschaften der verschiedenen Staaten“ Übereinkommen, die von der Konferenz mit Zweidrittelmehrheit beschlossen worden waren, im Nachhinein immer wieder ablehnten, und dies würde die Tätigkeit der Konferenz zunichtemachen und deren „Einfluss und … Prestige zerstören“.*

Die Gegner einer Stärkung der Arbeitermacht im institutionellen Gefüge der ILO gingen also davon aus, dass die ILO, solange ihr nicht der Status einer internationalen gesetzgebenden Gewalt zukam, auf jeden Fall auf den guten Willen der Regierungen angewiesen sein würde. Dies wurde als zentrale Begründung dafür präsentiert, die Arbeitermacht im Institutionengefüge der ILO begrenzt zu halten.

Sahen die Arbeitervertreter ihren institutionellen Einfluss auf die ILO im Ergebnis dieses Junktims beschränkt, so kämpften sie dessen ungeachtet um einen möglichst starken Einfluss eben dieser ILO auf die Legislative der einzelnen Länder. Denn auch wenn den Arbeitervertretern nicht, wie im Berner Manifest angedacht, die Hälfte der Stimmmacht, und selbst wenn ihnen, wie schließlich beschlossen, nur ein Viertel der Stimmmacht zukam, so waren ihre Interessen in der ILO doch fix vertreten. Wenn diese ILO nun auf die nationalen Gesetzgebungen starken Einfluss ausübte, dann konnte sie zumindest effektiv auf die Vereinheitlichung von Arbeitsbedingungen in den einzelnen Ländern hinarbeiten, wie es insb das Berner Gewerkschaftsmanifest gefordert hatte. Ein solcher internationaler Zwang bzw Druck in Richtung Vereinheitlichung konnte helfen zu verhindern, dass schlechte Arbeitsbedingungen zum Instrument des internationalen Konkurrenzkampfs zwischen Ländern und Unternehmen gemacht wurden.* Zudem erhofften sich die Arbeitervertreter von einer starken ILO, in der Arbeitervertreter wenigstens ein Mitspracherecht besaßen, eine Erhöhung der Chancen, bessere Arbeitsbedingungen in möglichst vielen Ländern durchzusetzen.

Jene Kräfte in der Labour Commission, deren Position auf dem Junktim zwischen beschränkter Arbeitermacht und beschränkter Macht der ILO aufbaute, brachten ihr Votum dafür, die Macht der ILO gegenüber den einzelnen Staaten tunlichst beschränkt zu halten, nicht mit der Frage der Arbeitermacht in der ILO in Zusammenhang – wenngleich sie ihre Forderung nach Beschränkung der Arbeitermacht innerhalb der ILO ja dann eben mit der beschränkten Macht der ILO begründeten. Wenn es um die Macht der ILO gegenüber den Staaten ging, war die Rede stattdessen – in Varianten – davon, dass „die Zeit noch nicht reif“ sei für eine Übertragung gesetzgebender Macht auf die ILO.* Auch der den Arbeiterinteressen zugetane Arthur Fontaine stimmte in der Kommission schließlich für ein schwaches internationales Arbeitsrecht. Die Übernahme von ILO-Konventionen wurde zur Gänze vom Willen der nationalen Gesetzgebungen abhängig gemacht. Es brauche nämlich, so Fontaine während der Debatte, um am Ende den Sanktus der Pariser Friedensunterhändler für die geplante ILO auch tatsächlich zu erhalten, einen von der gesamten Kommission unterstützten Plan, und er beschränkte sich deswegen darauf, seiner grundsätzlichen Überzeugung Ausdruck zu geben, dass „die Tendenz mehr und mehr hin zur Schaffung eines Internationalen Arbeitsparlamentes gehen“ werde.* An die große Öffentlichkeit der Pariser Friedenskonferenz und der Arbeiterbewegung gerichtet unterstrich man demgegenüber stärker die realen Machtverhältnisse, die es notwendig machen würden, sich auf eine schwache ILO zu beschränken. Wenn den Regierungen, durch die Konstruktion einer starken ILO, die Entscheidungsmacht über die Arbeitsgesetzgebung im eigenen Land entzogen werden360 würde, dann würden diese im Umkehrschluss eine entsprechende Verfassung der ILO gar nicht erst „akzeptieren“ oder die Mitarbeit in der ILO in der Folge „aufkündigen“, um sich deren Einfluss auf diese Weise zu entziehen.*

Die Hoffnung von Seiten der organisierten Arbeiter, dass sich der historische Augenblick einer angesichts von Krieg und Revolution in der realen Welt verstärkten Arbeitermacht würde ummünzen lassen in die Schaffung einer Art Weltparlament für Arbeiterfragen, auf dessen Entscheidungen die Arbeiterschaft in garantierter Form und dauerhaft entscheidenden Einfluss würde nehmen können, hatte sich mit den Entscheidungen von Paris als illusorisch erwiesen. Von den Forderungen der Arbeiterseite blieben, in erster Linie, in die Zukunft gerichtete Erwartungen. Was die Stellung der ILO gegenüber den nationalen Gesetzgebungen betraf, so beschloss die Labour Commission eine Resolution, die die „Hoffnung“ ausdrückte, dass die Hohen Vertragschließenden Parteien „so bald als möglich“ zu einer Verständigung dahingehend gelangen würden, die Internationale Arbeitskonferenz mit der Macht auszustatten, „unter festzulegenden Bedingungen Resolutionen zu beschließen, denen die Kraft des internationalen Rechts“ bzw Gesetzes zukommen würde.* Was die Arbeitermacht innerhalb der ILO selbst betraf, so gab Emile Vandervelde, belgischer Sozialdemokrat und Mitglied der Labour Commission, anlässlich der Abstimmung über die Verfassung der ILO in einer berühmten Rede vor dem Plenum der Pariser Friedenskonferenz einer ganz ähnlich gelagerten Hoffnung Ausdruck. Zwar werde sich der Staat, wenn es um Fragen gehe, die für die „besitzenden und herrschenden Klassen“ von entscheidender Bedeutung seien, zweifellos „auf die Seite der Kapitalisten schlagen“. Insofern als „die arbeitenden Klassen durch ihre syndikalistischen Bestrebungen bereits genügend Einfluss erlangt haben, um den Staat zu verpflichten, ihre Wünsche zu berücksichtigen“, hätten sie jedoch keinen Grund zu fürchten, dass sich in der ILO „die Regierungsvertreter gegen sie stellen“ würden.*

Waren diese Ergebnisse für die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung auch enttäuschend, so brachte die in den Pariser Verhandlungen zur Realität werdende ILO doch eine erste Verankerung von Arbeitermacht auf internationaler Ebene. Das in der ILO zum Tragen kommende Grundprinzip eines Tripartismus hob sich deutlich ab von der Struktur der diplomatischen Arbeiterschutzkonferenzen der Zeit vor 1914, auf denen die Regierungen allein Beschlüsse bezüglich internationaler Arbeitsstandards gefasst hatten. Das Prinzip des Tripartismus lehnte sich an Institutionen an, wie sie auf nationaler Ebene schon bestanden bzw von der Arbeiterbewegung immer wieder gefordert worden waren. Die Schaffung der ILO als einer „weichen“ Form von Global Governance auf dem Gebiet von Arbeits- und Sozialrecht ging mit einer Übertragung von Funktionsprinzipien des Tripartismus von der nationalen auf die internationale Ebene einher.

2.
Die „weniger entwickelte“ Welt

Den Auseinandersetzungen darüber, wie die ILO und ihre zukünftigen internationalen Arbeits- und Sozialstandards mit der Problematik der globalen Differenz umgehen sollten, kam in den Verhandlungen von Paris zwar eine weniger prominente Rolle zu, doch brachten sie dominante Interessen nicht weniger prägnant zum Ausdruck als die Verhandlungen um die Arbeitermacht. Konkret ging es hier um die Frage, inwieweit die ILO dazu beitragen konnte oder sollte, die oft besonders repressiven Arbeitsverhältnisse in Kolonien und anderen abhängigen („nicht-selbstregierenden“) Territorien wie auch in anderen „weniger entwickelten“ Ländern in Asien und Afrika zu verbessern, und womöglich die Arbeits- und Sozialstandards in diesen Ländern und Territorien an jene der „entwickelten“ Welt heranzuführen. Am Ende gab es auch hier „schwache“ Resultate. Das Gründungsdokument der ILO erlaubte zwei Varianten einer Relativierung der Wirkungskraft von internationalen Arbeits- und Sozialstandards in der „weniger entwickelten“ Welt. Bezüglich der Kolonien und der sonstigen abhängigen Territorien gab es eine Klausel, nach der die in der ILO vertretenen Kolonialmächte, die für solche Territorien zuständig waren, Entscheidungen über die Nichteinführung, abgeschwächte Einführung oder verzögerte Einführung von ILO-Standards auch dann treffen durften, wenn sie ein ILO-Übereinkommen ratifizierten und in nationales Recht übernahmen. Ob diese Regelung auch für die Mandatsgebiete des Völkerbundes, also im Wesentlichen die ehemaligen Territorien der Verlierermächte des Ersten Weltkriegs, Deutschland und Osmanisches Reich, galt, blieb unklar und wurde später zu einem Streitpunkt.* Indien und die vier britischen Dominions, die als „selbstregierende“ Länder zum British Empire gehörten, waren von dieser Kolonialklausel nicht betroffen, denn ihnen wurde separate Mitgliedschaft im Völkerbund zugesprochen. Sie wurden damit – unabhängig davon, dass sie gegenüber Großbritannien keine (volle) Unabhängigkeit besaßen, die sie vertretenden Regierungen also formal bzw real nicht unabhängig von Großbritannien agieren konnten – auch zu separaten Mitgliedern der ILO. Für diese Länder und alle anderen selbstständigen ILO-Mitglieder kam eine zweite Klausel zum Tragen, die ebenfalls eine Abschwächung von ILO-Standards aufgrund lokaler „Sonderumstände“ erlaubte.361

Keine der beiden Klauseln zur globalen Differenz war in irgendeiner Form in den Materialien enthalten gewesen, die der Labour Commission ursprünglich als offizielle Verhandlungsgrundlagen dienten. Die Einfügung der Kolonialklausel wurde in der Labour Commission von Seiten der britischen Delegation angestoßen. Sie brachte eine entsprechende Ergänzung des Erstentwurfs der ILO-Verfassung erstmals ein, als eigentlich etwas ganz Anderes verhandelt wurde, nämlich die Frage, wie der Status Indiens und der Dominions in der ILO-Verfassung genau definiert bzw wie sichergestellt werden sollte, dass diese hinsichtlich der zukünftigen ILO-Übereinkommen denselben Verpflichtungen unterlagen wie die übrigen Mitglieder.

Diese erste Fassung der Kolonialklausel und einige zunächst ohne Protest verhandelte Varianten derselben stellten es den Kolonialmächten schlicht frei, ILO-Übereinkommen, die sie übernahmen, auf ihre abhängigen Gebiete anzuwenden oder nicht. Diese Erstfassung der Kolonialklausel war zugleich die erste Erwähnung der abhängigen Gebiete im im Entstehen begriffenen ILO-Gründungsdokument.* Die britische Delegation hatte diese Klausel am 26.2. vorgelegt, nur wenige Tage, nachdem vor Ort in Paris der Erste Panafrikanische Kongress getagt hatte, an dem viele bekannte Persönlichkeiten der panafrikanischen Bewegung teilnahmen und der sich für Interessen der nicht-weißen Weltbevölkerung stark machte.* Ob die Forderungen des Kongresses – ua nach der Abschaffung der Zwangsarbeit und nach internationalisierter Überwachung der Verwaltung nicht-selbstregierender Territorien in Afrika* – eine Rolle dabei spielten, dass die Briten nun einen Freibrief für die Kolonialmächte in die ILO-Verfassung einzubringen versuchten, muss offen blieben.*

Im weiteren Verlauf der Verhandlungen gab es dann auf jeden Fall doch noch Widerstand gegen diesen Freibrief. Mit dem vorliegenden Entwurf des Zusatzes sei man, so Arthur Fontaine, „zu weit gegangen, indem Kolonien von der Anwendung“ des geplanten internationalen Arbeitsrechts „ausgeschlossen“ worden seien. Fontaine schlug nun eine Alternative vor, die der jeweiligen Kolonialmacht zwar erlaubt hätte, einen von ihr ratifizierten ILO-Standard in ihren abhängigen Gebieten in abgeschwächter bzw angepasster Form zur Anwendung zu bringen, nicht aber, diese Gebiete von der Anwendung einfach auszuschließen. In einem kämpferischen Redebeitrag unterstützte Léon Jouhaux diesen Vorschlag. Kolonien seien in der Labour Commission „bis jetzt nur erwähnt worden, um sie schlechter zu stellen. … [E]s darf nicht sein, dass die Arbeit dieser Kommission zukünftig dazu benutzt werden kann, kolonialen Arbeitern alle Vorteile aus den Arbeits-Konventionen zu verwehren.*

Heraus kam schließlich eine Variante, die die Kolonialmächte weiterhin zu nichts verpflichtete, diesen also den gänzlichen Verzicht auf die Anwendung einmal übernommener Abkommen auf ihre nichtselbstregierenden abhängigen Territorien ermöglichte, jedoch eine zusätzliche Option einführte: die Möglichkeit der Adaptierung, sprich Abschwächung des jeweiligen Standards in Anpassung an „die örtlichen Verhältnisse“ in den Kolonien. Von dieser Ergänzung erhoffte man sich gewiss, dass sich die Kolonialmächte seltener zu einer grundsätzlichen Nichtanwendung von Standards entschließen würden. Die Labour Commission stellte bei alledem explizit fest, dass der Internationalen Arbeitskonferenz keinerlei Einfluss auf entsprechende Entscheidungen der jeweiligen Kolonialmacht zukommen würde.*

Die parallele „Sonderumstände“-Klausel für ILO-Vollmitglieder gelangte zu einem noch späteren Zeitpunkt, nämlich nachdem die Labour Commission ihre Arbeit bereits abgeschlossen hatte, in den Text der ILO-Verfassung. Schon während der Verhandlungen der Kommission hatte der Vertreter der japanischen Delegation behauptet, dass „Maßnahmen, die für die generellen Bedingungen westlicher Länder geeignet waren, … desaströse Wirkungen nicht nur für japanische Interessen, sondern auch für die Arbeiter haben [könnten].“ Die japanische Regierung behalte sich auf jeden Fall das Recht vor, ILO-Übereinkommen nicht oder nur mit Verzögerung beizutreten.* Obwohl eben diese Option, wie im voranstehenden Kapitel beschrieben, ja ohnedies jederzeit und für alle ILO-Mitglieder bestand, wurden kurz vor der Plenarsitzung der Friedenskonferenz Spezialbedingungen für „weniger entwickelte“ Länder in die ILO-Verfassung eingefügt, und die treibenden Kräfte hinter der Einfügung des entsprechenden Zusatzes waren die japanischen und die indischen Friedensunterhändler.* Der Artikel der ILO-Verfassung, der die ohnehin schwache Stellung der ILO gegenüber den Regierungen festschrieb, wurde dahingehend ergänzt, dass die Internationale Arbeitskonferenz das Recht erhielt, in den ILO-Instrumenten „Abänderungen“ für bestimmte Länder vorzunehmen, wenn dies aufgrund weitgefasster „besondere[r] Verhältnisse“ für notwendig erachtet wurde. Aufgezählt wurden dabei „das Klima, die unvollkommene Entwicklung der gewerblichen Organisation“ und „andere Sonderumstände“. Indem man das Recht, entsprechende Ausnahmen in konkreten Übereinkommen für konkrete Länder festzulegen, der Internationalen Arbeitskonferenz – und nicht, wie im Falle der Kolonien, den einzelnen Kolonialmächten – übertrug, schob man zumindest einer362 beliebigen Abschwächung von Standards durch ILO-Mitglieder in Eigenregie einen Riegel vor.

Diese zweite Klausel zur möglichen Abschwächung einmal beschlossener Standards war – ganz ähnlich wie die Kolonialklausel – ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ging es dieser Klausel darum, eine politische Option zu schaffen, die es auch „weniger entwickelten“ Ländern ermöglichen sollte, ILO-Übereinkommen zu ratifizieren und in nationales Recht zu übernehmen. Dass die Klausel ungeachtet der Tatsache eingeführt wurde, dass es jedem ILO-Mitglied, darunter den „weniger entwickelten“ Ländern, sowieso möglich war, ILO-Abkommen ansonsten eben gar nicht zu ratifizieren, verweist auf die Wichtigkeit dieses Beweggrundes. Andererseits diente die Klausel zu den „Sonderumständen“ realiter eben einer Politik, die darauf abzielte, die Zurückdrängung besonders nachteiliger oder ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse im Globalen Süden hinauszuzögern. Bereits die erste Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz im Herbst 1919 beschloss in gleich vier der sechs Übereinkommen, die sie verabschiedete, Abschwächungen der jeweiligen Standards – und zwar in je unterschiedlicher Weise – für Indien, Siam (Thailand) und Japan.

Ergänzt wurde diese Klausel schließlich außerdem von entsprechenden Zusätzen zur „Labour Charter“. In der Labour Commission hielten Vertreter der Arbeiterinteressen flammende Reden, in denen sie die einzigartige Möglichkeit herausstrichen, durch die internationale Festschreibung verpflichtender Prinzipien der Arbeits- und Sozialpolitik unmittelbar und ohne Zeitverzögerung Großes zu erreichen. Umgekehrt wäre, so wiederum Léon Jouhaux, ohne einen solchen bindenden Charakter der Charter, „die Lage von morgen die gleiche wie jene von heute und von gestern, mit der schieren Hinzufügung einer gewissen Maschinerie“ (in Gestalt der ILO).* Doch am Ende nahm bereits das von der Labour Commission erarbeitete Dokument von einem wirklich bindenden Charakter Abstand, denn die Präambel der Charter drückte sich durchaus mehrdeutig aus. Die (zukünftigen) ILO-Mitglieder wurden dazu aufgefordert, in Übereinstimmung mit den zu erwartenden diesbezüglichen Empfehlungen der ILO, „alle notwendigen Schritte zu setzen“, um die in der Charter aufgeführten Prinzipien „zu realisieren“. In ihrem begleitenden Bericht sprach die Kommission von der „dringenden Notwendigkeit, diese fundamentalen Prinzipien als für den sozialen Fortschritt notwendig explizit anzuerkennen“.* Nach Abschluss der Arbeit der Labour Commission wurden dann, und zwar wiederum ua mit Bezug auf Wünsche der japanischen Delegation,* Änderungen eingefügt, die den unverbindlichen Charakter der Charter deutlich stärker herausarbeiteten, und die außerdem außerdem sicherstellten, dass die Charter nicht einmal als diskursiver Bezugspunkt für Bemühungen um Verringerung der globalen Differenz würde dienen können. Ein Zusatz zu deren Präambel stellte nun fest, dass „Verschiedenheiten des Klimas, der Sitten und Gebräuche, der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und industriellen Überlieferung die sofortige Herbeiführung der vollständigen Einheitlichkeit in den Arbeitsverhältnissen erschweren“; die „industriellen Gemeinschaften“ der Welt sollten sich dennoch „bemühen“, die in der Charter festgeschriebenen internationalen Prinzipien der Arbeitsgesetzgebung zu befolgen, „soweit ihre besonderen Verhältnisse dies gestatten“.

Im Ergebnis der Pariser Verhandlungen hatten somit Bezugnahmen auf die ungleiche globale Entwicklung von Arbeitsverhältnissen, die insb nicht-weiße Arbeitskräfte negativ berührte, Eingang gefunden sowohl in die Maschinerie zukünftiger internationaler Arbeitsgesetzgebung wie auch in deren Prinzipien. Ursprünglich war dies von keinem der Akteure konkret in Vorschlag gebracht worden. Nun verlieh die Kolonialklausel im ILO-Gründungsdokument der kolonialen Differenz in der Arbeitsgesetzgebung eine historisch neue, weil international festgeschriebene, Dimension bzw Anerkennung. Die Bestimmung zu den „Sonderumständen“ erlaubte es ebenso explizit, der ungleichen Entwicklung von Arbeitsverhältnissen in der internationalen Arbeitsgesetzgebung Rechnung zu tragen. Die Pariser Verhandlungen trugen also dazu bei, die globale Schlechterstellung von – im wesentlichen – nicht-weißen Arbeitskräften in weiten Teilen der Welt im Vergleich zu weißen Arbeitskräften, wie sie bis dahin in den Unterschieden zwischen dem Arbeitsrecht einzelner Länder und Territorien zum Ausdruck gekommen war, in verallgemeinernde Bestimmungen eines neuen internationalen Arbeitsrechts zu übertragen. War die Kolonialklausel ua ein Produkt der Tatsache, dass die Labour Commission die selbstregierenden Territorien des British Empire in die Pflicht nehmen wollte, bei der neuen internationalen Arbeitspolitik unter den gleichen Bedingungen mitzumachen, waren die Klauseln zu den „Sonderumständen“ ua ein Resultat gerade der verstärkten Einbeziehung der „weniger entwickelten“ Welt in diese Politik. Dass sich insb die indischen und japanischen Regierungsinteressen für die Klausel zu den „Sonderumständen“ und damit implizit für die Anerkennung der „Rückständigkeit“ ihrer Arbeitsgesetzgebung stark machten, ist zwar grundsätzlich wenig verwunderlich. Doch standen diese Bestrebungen zugleich in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der Tatsache, dass sich insb Japan in Paris um eine Klausel zu „Rassengleichheit“ in der Satzung des Völkerbundes bzw um Bestimmungen bemühte, die auf Gleichbehandlung anstelle von rassistischer Diskriminierung japanischer Wanderarbeitskräfte in anderen Ländern zielten.*

Auch die Sicherstellung der Vertretung der (nichtweißen) Arbeitskräfte des Globalen Südens im institutionellen Gefüge der ILO lag außerhalb des Horizontes der Labour Commission und der Friedensunterhändler von Paris. Markante Dimen-363sionen der Marginalisierung jeder Interessenvertretung dieser Gruppe innerhalb der ILO ergaben sich aus der fehlenden separaten Mitgliedschaft der nicht-selbstregierenden Territorien in der ILO sowie aus der Tatsache, dass die Vertretung der Arbeiterschaft der einzelnen ILO-Mitglieder den jeweiligen „maßgebenden“ Berufsverbänden zufiel, was eine äußerst marginale und oft ganz fehlende Vertretung der „farbigen Arbeiter“ – wie diese Gruppe in der ILO später gerne genannt wurde – zur Folge hatte. Jene Kräfte innerhalb der ILO, denen eine Verringerung der globalen Differenz ein Anliegen war, bemühten sich in den Folgejahren ua darum, dieses Faktum zu ändern.* Außerdem strebten sie nach Zurückhaltung beim Einsatz der Klausel von den „Sonderumständen“.

3.
Frauen

Was die „Frauenfrage“ betraf, so ging es im Zuge der Schaffung der ILO zentral um die Vertretung von Frauen und Fraueninteressen in der ILO und um die Problematik des frauenspezifischen Arbeitsschutzes. Hinsichtlich der zweiten Frage waren sich die an Problemen der Frauenarbeit interessierten Netzwerke und Organisationen der Frauen, deren Vertreterinnen – ebenso wie Vertreter der panafrikanischen Bewegung – nach Paris geströmt waren, durchaus uneins. Eine verbreitete Herangehensweise beruhte auf dem Argument, dass Frauen aufgrund ihres schwachen gewerkschaftlichen Organisierungsgrades und ihrer Familienpflichten sowie im Falle der Mutterschaft besonderen Schutz benötigten. Viele, die diese Position vertraten, setzten zudem darauf, dass einmal bestehende Spezialregelungen für Frauen bald verallgemeinert und so alle Arbeitskräfte einbezogen werden würden. Andere Gruppen lehnten frauenspezifische Schutzmaßnahmen (weitgehend) ab, weil diese die Frauen am Arbeitsmarkt benachteiligten und patriarchalen Interessen oder Interessen der männlichen Arbeiterschaft dienten. Einige Vertreterinnen dieser Position wollten derartige frauenspezifische Schutzmaßnahmen um jeden Preis vermeiden, also auch dann, wenn dies bedeutete, bestehende Regelungen des frauenspezifischen Arbeitsschutzes zurückzunehmen bzw darauf zu verzichten, solche Maßnahmen auch nur als ersten Schritt in Richtung Arbeitsschutz zu setzen. In der international organisierten Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung – einschließlich der in diesen Netzwerken organisierten und häufig mit der „Frauenfrage“ befassten Genossinnen – war jene Position, die den frauenspezifischen Arbeitsschutz prinzipiell guthieß oder zumindest als einen der Schritte auf dem Weg zu mehr Arbeitsschutz für Alle akzeptierte bzw forderte, stark vertreten.

Während der Friedensverhandlungen in Paris tagten vor Ort auch Spitzenvertreterinnen der nichtsozialistischen internationalen Frauenbewegung und es waren bedeutende Gewerkschafterinnen zugegen.* Am 11.3., als die Labour Commission die erste Sitzung des zweiten Verhandlungsabschnitts abhielt, beschloss der Oberste Rat der Pariser Friedenskonferenz schließlich, dass die Labour Commission „Frauenorganisationen … empfangen“ sollte. Von diesem Beschluss wurde die Kommission am 14.3. formell in Kenntnis gesetzt, und sie setzte die Anhörung für 18.3. an.* Die Labour Commission war somit angewiesen, den Anliegen von Vertreterinnen der Frauenbewegung, die anders als jene der Gewerkschaftsbewegung nicht einmal de facto in der Kommission präsent waren, hochoffiziell ihr Ohr zu schenken. Zwar änderte sich damit nichts am Bittstellerinnenstatus der Frauen, doch hatten sie etwas erreicht, was den Vertretern des Panafrikanismus verwehrt blieb.

Zu Beginn des zweiten Verhandlungsabschnitts stand auf dem Arbeitsplan der Labour Commission noch die Feinabstimmung der bereits vereinbarten eigentlichen ILO-Verfassung, außerdem die Beschlussfassung zur Agenda der ersten Zusammenkunft der Internationalen Arbeitskonferenz und die Beratung der „Labour Charter“. Noch bevor der Kommission die Anweisung, eine Frauendeputation zu empfangen, offiziell unterbreitet worden war, brachte der britische Chefunterhändler Barnes zwei Ergänzungen des Kommissionsvorschlags für die Verfassung der ILO in die Verhandlungen ein, um auf diese Weise „gewissen Forderungen zu entsprechen, die Fräulein Margaret Bondfield, eine der führenden Persönlichkeiten der Gewerkschaftsbewegung der Frauen an ihn herangetragen“ hatte. Beide Zusätze wurden (am 12. bzw 13.3.) diskussionslos akzeptiert. Die Internationale Arbeitskonferenz sollte demnach, wenn sie Frauen betreffende Fragen behandelte, Frauen als „technische Ratgeber“ – ein in der ILO-Verfassung formell verankerter Status – heranziehen, und unter den Mitarbeitern des zukünftigen Internationalen Arbeitsamts sollte sich eine „bestimmte Anzahl“ Frauen befinden.* Schon im ersten Abschnitt der Verhandlungen der Labour Commission war, auf Betreiben des kubanischen Delegierten,* dem Entwurf des entsprechenden Paragraphen der ILO-Verfassung ein Zusatz hinzugefügt worden, nach dem „sich die Wahl“ des Personals „auf Personen verschiedener Staatsangehörigkeit zu erstrecken“ habe. Erst jetzt fügte man auch die Frauenklausel hinzu. Die Frauenklausel war auf jeden Fall eindeutiger als die Klausel zu den Nationalitäten, die implizit auf die garantierte Einbeziehung von Personal aus dem Globalen Süden abzielte und das einzige (Spuren-)Element einer derartigen Repräsentationspolitik im Gründungsdokument der ILO darstellte.

Nachdem die Verhandlung noch verbleibender strittiger Elemente der ILO-Verfassung verschoben und364 die Vorbereitung der Verhandlung der „Labour Charter“ einem Subkomitee übergeben worden war, wandte sich die Labour Commission bereits am 14.3., also noch vor dem Empfang der Frauendeputation, der Verhandlung des Programms der ersten Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz zu. Der britische Unterhändler Barnes schlug vor, neben dem Achtstundentag – zu diesem Zeitpunkt Schlüsselforderung der Gewerkschaften – und der Frage der Arbeitslosigkeit, das Thema „Frauenbeschäftigung“ vor und nach der Geburt, während der Nacht und in gesundheitsschädlichen Erwerbszweigen auf die Tagesordnung zu setzen. Barnes ging direkt darauf ein, dass „einige Frauenorganisationen … spezielle Maßnahmen zum Schutz von Frauen ablehnten“, stellte aber fest, dass er solche Maßnahmen in den drei genannten Bereichen für „unverzichtbar“ halte. In der Diskussion wurde dann zwar angemerkt, dass es gegen die Beschränkung der Frauenarbeit in bestimmten Industrien Einwände gebe, und es wurde in Vorschlag gebracht, dass doch „die Ansichten der Frauen zu diesen Punkten gehört werden“ sollten. Nichtsdestotrotz und obwohl man ja gerade erst beschlossen hatte, dass man die Frauendeputation ohnehin sehr bald, am 18.3., empfangen würde, wurde der britische Vorschlag mit wenigen Ergänzungen angenommen.*

Vier Faktoren dürften – gemeinsam – ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass der dreigliedrige Tagesordnungspunkt zum frauenspezifischen Arbeitsschutz in das Konferenzprogramm aufgenommen wurde. Erstens knüpfte der Unterpunkt zur Nachtarbeit direkt an eine internationale Arbeitsschutzkonvention der Vorkriegszeit an, und die Bezugnahme auf dieses Übereinkommen wurde in der Endfassung der Konferenzagenda schließlich auch explizit gemacht. Zweitens wollte die Labour Commission wohl sicherstellen, dass es einen Tagesordnungspunkt gab, bezüglich dessen die Konferenz sich auf jeden Fall auf eine konkrete Beschlussfassung würde verständigen können. Denn der frauenspezifische Arbeitsschutz hatte sich eben schon in der Vorkriegszeit als für die Regierungen weitgehend unkontroversiell erwiesen. Dies war bei den anderen nun geplanten Tagesordnungspunkten für die Internationale Arbeitskonferenz anders. Die Frage der Arbeitslosigkeit, so Barnes in der Labour Commission, sei „kompliziert“ und vermutlich nicht entscheidungsreif,* während der Tagesordnungspunkt Achtstundentag, so stand zu erwarten, heiß umkämpft sein würde. Drittens traten dominante Kräfte in der Gewerkschaftsbewegung auf jeden Fall für frauenspezifischen Arbeitsschutz ein. Der Vorschlag des britischen Unterhändlers Barnes folgte in seinen Grundzügen einem analogen, wenngleich wesentlich detaillierteren Dreiervorschlag der Berner Gewerkschafts-Konferenz. Margaret Bondfield hatte auf dieser Konferenz – erfolglos – zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen für alleinstehende Mütter verlangt und zur Umsicht gemahnt, wenn es um mögliche Verbote von Frauenarbeit in bestimmten Industrien ging.* Viertens schließlich steht zu vermuten, dass man, indem man dem frauenspezifischen Arbeitsschutz auf der ersten Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz einen prominenten Platz einräumte, ein Signal setzen wollte, dass „Frauenangelegenheiten“ ernst genommen wurden – und zwar noch bevor man Vertreterinnen verschiedener Frauenorganisationen empfing bzw empfangen musste.

Wenige Tage später trat diese Deputation, zu der Spitzenvertreterinnen der nichtsozialistischen internationalen Frauenorganisationen sowie namhafte Gewerkschafterinnen gehörten, dann tatsächlich vor die Labour Commission. Die Delegation brachte ein buntes Spektrum an Forderungen hervor, wobei auch die abweichenden Positionen (nicht nur) zum Thema des frauenspezifischen Arbeitsschutzes – wieder einmal – deutlich hervortraten.* Dessen ungeachtet sollten die Vorbringungen der Frauen, sowohl was die Formulierung der Agenda der ersten Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz wie auch der „Labour Charter“ betraf, nicht ganz folgenlos bleiben. In der Deputation bestand eine gewisse Einigkeit zumindest dahingehend, dass der Verdienstausfall, mit dem sich Arbeiterinnen durch Schutzfristen vor und nach der Geburt eines Kindes konfrontiert sahen, durch Ersatzzahlungen zumindest teilweise oder weitgehend kompensiert werden sollte. Die Labour Commission griff diese Forderung, die auch im Berner Gewerkschaftsmanifest explizit enthalten war, wenig später auf, summierte sie unter dem Begriff „Mutterschaftgeld/Wochengeld“ und ergänzte den bereits vereinbarten Tagesordnungspunkt der Internationalen Arbeitskonferenz zum Mutterschutz entsprechend.* Außerdem akzeptierte die Labour Commission den Vorschlag, den Begriff der Frauenbeschäftigung in gesundheitsschädlichen „Industrien“, der seitens der Deputation als „zu umfassend“ kritisiert worden war, durch den Begriff „Prozesse“ zu ersetzen.* Was die „Labour Charter“ betraf, so übernahm die Kommission von der Frauendeputation direkt nur eine Forderung, und zwar einen Zusatz zum Punkt über das Arbeitsinspektorat, nach dem auch Frauen in dieser Funktion tätig werden sollten. Verschiedene Forderungen der Deputation zur Nachtarbeit fasste die Kommission zunächst dahingehend zu einem möglichen Prinzip für die „Labour Charter“ zusammen, dass Nachtarbeit „nicht nur für Frauen“, sondern wo immer möglich „auch für Männer“ verboten werden sollte. Doch kein einziger Delegierter in der Kommission unterstützte diese Idee. Die Verankerung des Prinzips des gleichen Lohns für Arbeit von gleichem Wert wurde von der Frauendeputation wie auch von mehreren in der Labour Commission vertretenen Delegationen gefordert und von dieser auch übernommen. Die365 Forderung der Frauen, dieses Thema auf die Agenda der ersten Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz zu setzen, wurde hingegen abgelehnt. Zugesagt wurde nur, dem Verwaltungsrat der ILO dieses Thema als Agendapunkt für die folgenden Tagungen ans Herz zu legen.*

Insgesamt hatten die Initiativen der organisierten Frauen selbst, wiewohl diese bei den Pariser Friedensverhandlungen ohne Sitz und Stimme waren, in mehrfacher Hinsicht Anteil an der Gestaltung der im Werden begriffenen ILO. In Sachen institutioneller Vertretung des weiblichen Geschlechtes wurden in drei Punkten grundsätzlich unzweideutige, allerdings bezüglich des realen Umfangs solcher Vertretungsrechte jeweils völlig unbestimmte Regelungen beschlossen. Die Bestimmung zum Arbeitsinspektorat, die nicht die Institution ILO betraf, fand sich dabei außerdem in den völlig unverbindlichen grundsätzlichen „Prinzipien“ der internationalen Arbeitspolitik. Was die Agenda der ersten Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz betraf, trugen die Forderungen der Frauen dazu bei, dass schon das Gründungsdokument der ILO im Zusammenhang mit der Schutzfrist für Schwangere und Wöchnerinnen auch von Lohnersatz für die Zeit des Einkommensausfalls sprach. Mit ihrer bemerkenswerten Vision, die den Ausweg aus dem umstrittenen frauenspezifischen Nachtarbeitsverbot in der Ausdehnung bzw Universalisierung dieser Dimension des Arbeitsschutzes suchte, standen die Frauen hingegen in Paris allein auf weiter Flur, obgleich die Berner Gewerkschafts-Konferenz, in Ergänzung der Forderung nach dem frauenspezifischen Nachtarbeitsverbot, eine durchaus ähnliche Forderung beschlossen hatte.* Gegen die Bevorzugung frauenspezifischer Schutzmaßnahmen konnten die Frauen, die ohnedies untereinander uneinig waren, auf dem offiziellen Parkett von Paris nicht an.

4.
Schluss

In den Auseinandersetzungen, die die Gründung der ILO auf den Weg brachten und die Organisation auch später begleiteten, waren die drei Achsen der Ungleichheit auf ebenso vielfältige wie widersprüchliche und konflikthafte Weise untereinander sowie mit anderen Kontexten verbunden, die im Gründungsdokument der ILO oder in der Welt draußen zu finden waren. Einige dieser Zusammenhänge wurden in den drei Hauptabschnitten dieses Beitrags schon angesprochen. So sollte klar geworden sein, dass beispielsweise das Frauennachtarbeitsverbot von unterschiedlichen handelnden Akteuren entweder als progressive Klassen- oder als retrograde Geschlechterpolitik gedeutet wurde. Die Überwindung dieses Gegensatzes durch eine stärker progressive Klassenpolitik – in Gestalt der Ausweitung des Nachtarbeitsverbotes auf das männliche Geschlecht – fand in der Labour Commission keine Unterstützung. Andere Komplexitäten, die sich den Bestimmungen im Gründungsdokument der ILO verdankten, sollten bald schon in durchaus konflikthafter Form ans Tageslicht treten. Wenn etwa jene Kräfte in der ILO, die nach einer stärkeren Vertretung der „farbigen Arbeiter“ und ihrer Interessen strebten, dies ua durch verbesserte Vertretung außereuropäischer Länder im Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes erreichen wollen,* dann erscheint dies auf den ersten Blick paradox. Denn eine solche Reform würde ja auf jeden Fall auch eine stärkere Präsenz der Regierungen von „weniger entwickelten“ Ländern im Verwaltungsrat mit sich bringen, und diese Regierungen beharrten oftmals in besonderem Maße auf arbeiterfeindlicher Arbeits- und Sozialgesetzgebung. Dennoch war eine solche Reform, weil sich die Zusammensetzung des mächtigen Leitungsgremiums der ILO (ua) aus einer Kombination von Tripartismus einerseits und Gewichtung des Globalen Südens im Verhältnis zum Globalen Norden andererseits ergab, ein wichtiger Ansatzpunkt zur Verbesserung der Stellung der „farbigen Arbeiter“ in der ILO.

Nur eine Analyse, die jede der in diesem Aufsatz untersuchten Achsen der Ungleichheit gleichermaßen wichtig nimmt, kann uns, ausgehend von der Gründungsgeschichte, einem angemessenen historischen und aktuellen Verständnis der ILO näher bringen.366