191

Der Begriff des Arbeitnehmers iSd Massenentlassungsrichtlinie

WALTERGAGAWCZUK
RL 98/59/EG (Massenentlassungs- RL)

Der Begriff AN iSd Massenentlassungs-RL ist innerhalb der EU einheitlich auszulegen.

Ein Geschäftsführer als Mitglied eines Leitungsorgans einer Kapitalgesellschaft, der jederzeit gegen seinen Willen von der Generalversammlung abberufen werden kann, bei der Ausübung seiner Tätigkeit deren Weisung und Aufsicht unterliegt und eine Vergütung für seine Tätigkeit erhält, ist als AN iS dieser RL zu qualifizieren.

Auch eine Person, die in einem Beruf Ausbildungszeiten absolviert, die als eine praktische Vorbereitung für den Beruf betrachtet werden kann, ist grundsätzlich als AN im unionsrechtlichen Sinne zu qualifizieren. Der Umstand, dass die Produktivität der betreffenden Person gering ist oder dass die Vergütung nicht durch den AG, sondern aus den Mitteln der Arbeitsmarktförderung erfolgt, sind nicht relevant.

SACHVERHALT

Herr Balkaya, der bei der Firma Kiesel Abbruch und Recycling Technik GmbH beschäftigt war, erhielt im Jänner 2013 die Kündigung. Diese wurde von Herrn Balkaya mit dem Hinweis auf die bei der deutschen Bundesagentur für Arbeit unterbliebene Massenentlassungsanzeige angefochten. Strittig war, ob der für die Massenentlassungsanzeige maßgebliche Schwellenwert überschritten war oder nicht. Dies hing zT davon ab, ob einer der Geschäftsführer des Unternehmens, der keine Geschäftsanteile an der Gesellschaft hielt und zu deren Vertretung nur gemeinschaftlich mit einem anderen Geschäftsführer berechtigt war, als AN iSd Massenentlassungs-RL zu qualifizieren ist. Weiters war auch die AN-Eigenschaft von Frau S fraglich, die bei dem Unternehmen eine vom örtlich zuständigen Jobcenter geförderte Umschulungsmaßnahme zur Bürokauffrau durchlief.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das zuständige nationale Gericht legte dem EuGH die Fragen vor, ob der Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft und eine Praktikantin als AN iSd Massenentlassungs-RL zu qualifizieren seien.

Der EuGH entschied, dass der Begriff AN iSd Massenentlassungs- RL innerhalb der EU einheitlich ausgelegt werden muss.

Auch ein Geschäftsführer als Mitglied eines Leitungsorgans einer Kapitalgesellschaft kann sich gegenüber der Gesellschaft in einem Unterordnungsverhältnis befinden. So etwa, wenn die betreffende Leitungsperson jederzeit gegen ihren Willen von der Generalversammlung abberufen werden kann und bei der Ausübung ihrer Tätigkeit deren Weisung und Aufsicht unterliegt. Da diese Umstände im konkreten Fall vorlagen und der Geschäftsführer eine Vergütung für seine Tätigkeit erhielt, war er unionsrechtlich als AN zu qualifizieren.

Auch die im Unternehmen als „Praktikantin“ eingestufte Frau S ist AN im unionsrechtlichen Sinne. Weder der rechtliche Hintergrund des Beschäftigungsverhältnisses im nationalen Recht noch der Umstand, dass die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln erfolgt, stehen dem entgegen.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Daher kann […] der Begriff ‚Arbeitnehmer‘ in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59 nicht durch Verweisung auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten definiert werden, sondern muss innerhalb der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich ausgelegt werden (vgl. entsprechend Urteil Kommission/Portugal, C55/02, EU:C:2004:605, Rn. 49). Anderenfalls stünden die Berechnungsmodalitäten für diese Schwellenwerte und damit diese Schwellenwerte selbst zur Disposition der Mitgliedstaaten, womit diesen erlaubt würde, den Anwendungsbereich der Richtlinie zu verändern und ihr somit ihre volle Wirksamkeit zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil Confédération générale du travail u. a., C385/05, EU:C:2007:37, Rn. 47). [RN 33]

Sodann ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der betreffende Begriff des ‚Arbeitnehmers‘ anhand objektiver Kriterien zu definieren ist, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Betroffenen kennzeichnen. In diesem Kontext besteht das wesentliche250 Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. Urteil Kommission/Italien, C596/12, EU:C:2014:77, Rn. 17, das insoweit im Wege der Analogie auf das Urteil Danosa, C232/09, EU:C:2010:674, Rn. 39, verweist). [RN 34] […]

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die Leitungsperson einer Kapitalgesellschaft wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende von der Gesellschafterversammlung der Kapitalgesellschaft ernannt wird, die die betreffende Leitungsperson jederzeit gegen ihren Willen abberufen kann. Zudem unterliegt diese Leitungsperson bei der Ausübung ihrer Tätigkeit der Weisung und Aufsicht des genannten Organs sowie den ihr insoweit auferlegten Vorgaben und Beschränkungen. Darüber hinaus ist zu bemerken – auch wenn dieser Gesichtspunkt im vorliegenden Kontext für sich allein genommen nicht ausschlaggebend ist –, dass eine Leitungsperson wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende keine Anteile an der Gesellschaft besitzt, in der sie ihre Aufgaben wahrnimmt. [RN 40] […]

Erstens erfasst der Begriff des Arbeitnehmers im Unionsrecht nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs auch Personen, die einen Vorbereitungsdienst ableisten oder in einem Beruf Ausbildungszeiten absolvieren, die als eine mit der eigentlichen Ausübung des betreffenden Berufs verbundene praktische Vorbereitung betrachtet werden können, wenn diese Zeiten unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis für einen Arbeitgeber nach dessen Weisung absolviert werden. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass daran auch der Umstand nichts ändert, dass die Produktivität des Betreffenden gering ist, er keiner Vollzeitbeschäftigung nachgeht und deshalb nur eine verringerte Anzahl von Wochenarbeitsstunden leistet und er infolgedessen nur eine beschränkte Vergütung erhält (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile Lawrie-Blum, 66/85, EU:C:1986:284, Rn. 19 bis 21, Bernini, C3/90, EU:C:1992:89, Rn. 15 und 16, Kurz, C188/00, EU:C:2002:694, Rn. 33 und 34, und Kranemann, C109/04, EU:C:2005:187, Rn. 13). [RN 50]

Zweitens ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch, dass weder der rechtliche Kontext des Beschäftigungsverhältnisses im nationalen Recht, in dessen Rahmen eine Berufsausbildung oder ein Praktikum absolviert wird, noch die Herkunft der zur Vergütung des Betreffenden eingesetzten Mittel und insbesondere im vorliegenden Fall deren Finanzierung aus öffentlichen Mitteln irgendeine Rolle für die Beantwortung der Frage spielen, ob jemand als Arbeitnehmer anzusehen ist oder nicht (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile Bettray, 344/87, EU:C:1989:226, Rn. 15 und 16, Birden, C1/97, EU:C:1998:568, Rn. 28, und Kurz, C188/00, EU:C:2002:694, Rn. 34). [RN 51].“

ERLÄUTERUNG

Einige arbeitsrechtliche Richtlinien, wie etwa die Betriebsübergangs-RL oder die Entsende-RL verweisen beim AN-Begriff in der RL selbst auf die jeweiligen nationalen Vorschriften. Bei Richtlinien, wo dies nicht der Fall ist, wie etwa der Arbeitszeit- RL oder wie im gegenständlichen Fall der Massenentlassungs- RL wird der Begriff des AN regelmäßig vom EuGH einheitlich iS eines europäischen AN-Begriffes ausgelegt. Maßgeblich ist dabei, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Die Bezeichnung oder Einordnung des Beschäftigungsverhältnisses nach nationalem Recht ist dann für die AN-Eigenschaft iSd Unionsrechts ohne Bedeutung. Bereits 2010 hat der EuGH in der Rs Danosa (11.11.2010, C-232/09) iZm dem Kündigungsschutz nach der Mutterschutz-RL geurteilt, dass es die Stellung als Geschäftsführerin einer Kapitalgesellschaft nicht von vornherein ausschließt, dass die betreffende Person AN ist bzw sich in einem Unterordnungsverhältnis gegenüber der betreffenden Gesellschaft befindet. Noch weiter ging der Gerichtshof 2014 in der Rs Haralambidis (10.9.2014, C-270/13), wonach sogar der Präsident der Hafenbehörde von Brindisi als AN anzusehen ist. Die Einordnung des Geschäftsführers der gegenständlichen GmbH als AN ist daher in Anbetracht dieser Vorjudikatur nicht überraschend. Die Unterordnung ergibt sich für den EuGH auf Grund des Umstandes, dass er von der Generalversammlung ernannt und jederzeit gegen seinen Willen wieder abberufen werden kann und bei der Ausübung der Tätigkeit der Weisung und Aufsicht eben dieser Generalversammlung unterliegt. Auch nach österreichischem Recht sind Geschäftsführer einer GmbH idR als AN zu qualifizieren, wenn sie Fremdgeschäftsführer oder Minderheitsgesellschafter sind (siehe etwa OGH 17.10.2002, 8 ObA 68/02m). Insofern deckt sich die Judikatur des EuGH mit jener des OGH. Andererseits wird in Anbetracht der oben angeführten Definition ein Teil der nach österreichischem Recht als freie DN einzustufenden Beschäftigungsverhältnisse europarechtlich als AN anzusehen sein. Nach der Judikatur des OGH maßgebliche Kriterien wie etwa die organisatorische Gebundenheit, insb an Arbeitszeit, Arbeitsort und Kontrolle (vgl etwa OGH 24.7.2013, 9 ObA 46/13z) oder das Vertretungsrecht (vgl etwa OGH 22.3.2011, 8 ObA 49/10d), sind für den EuGH bislang nämlich per se nicht von Relevanz. UU kann sich daher für einen freien DN ein Urlaubsanspruch nach der Arbeitszeit-RL oder ein Kündigungsschutz nach der Mutterschutz-RL ergeben. UU können ähnlich wie im vorliegenden Fall Kündigungen wegen unterlassener Anzeige nach dem Kündigungsfrühwarnsystem gem § 45a AMFG unwirksam sein, weil nicht alle AN nach der oben angeführten Definition des EuGH für die Berechnung des Schwellenwertes angerechnet wurden.251

Im Fall der im Unternehmen als Praktikantin eingestuften Frau S hat der EuGH iS seiner bisherigen Judikatur festgehalten, dass der unionsrechtliche Begriff des AN auch Personen erfasst, die einen Vorbereitungsdienst ableisten oder in einem Beruf Ausbildungszeiten absolvieren, die als eine praktische Vorbereitung auf den Beruf betrachtet werden können. Klargestellt wurde auch, dass daran auch der Umstand nichts ändert, dass die Produktivität von Frau S gering ist. Nicht relevant ist auch die Herkunft der zur Vergütung von Frau S eingesetzten Mittel und insb deren Finanzierung aus öffentlichen Mitteln der Arbeitsmarktförderung. Zu beachten ist jedoch, dass die Produktivität beim sogenannten zweiten Arbeitsmarkt sowohl für den EuGH als auch den OGH ein relevantes Kriterium sein kann. So etwa ging sowohl der EuGH iZm der Beschäftigung Drogenabhängiger in einer sozialen Einrichtung (EuGH 31.5.1989, C-344/87, Bettray) als auch der OGH iZm der Beschäftigung von Personen mit Beeinträchtigungen in sogenannten geschützten Werkstätten (OGH 29.10.2009, 9 ObA 105/09w; Resch, Wirtschaftliches Eigeninteresse und Arbeitnehmerbegriff, ZAS 2011, 19 ff) davon aus, dass kein Arbeitsverhältnis vorliege.