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Recht auf Elternurlaub besteht unabhängig von der Erwerbssituation des anderen Elternteils

BIANCASCHRITTWIESER
RL 2006/54/EG
EuGH 16.7.2015, C-222/14, Konstantinos Maïstrellis/Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton

Jeder Elternteil verfügt über das Recht auf Elternurlaub, was bedeutet, dass die Mitgliedstaaten keine Regelung erlassen dürfen, nach der einem Beamten, der Vater ist, das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt.

SACHVERHALT

Herr Maïstrellis ist Richter und beantragte 2010 beim Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton (Minister für Justiz) nach griechischem Recht bezahlten Urlaub von neun Monaten zur Betreuung seines Kindes. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass ein Richter, der Vater ist, zwar grundsätzlich Anspruch auf Elternurlaub zur Betreuung seines Kindes hat. Er steht ihm allerdings nicht zu, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist. Es sei denn, die Mutter kann wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen. Im vorliegenden Fall ist die Ehegattin von Herrn Maïstrellis arbeitslos. Gegen diesen Bescheid erhob Herr Maïstrellis Klage beim Symvoulio tis Epikrateias (griechischer Staatsrat).

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Der Symvoulio tis Epikrateias beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Er fragt den Gerichtshof, ob die hier anzuwendende griechische Bestimmung hinsichtlich der Inanspruchnahme eines Elternurlaubs für Väter mit den Richtlinien 96/34 (Elternurlaubs-RL) und 2006/54 (RL über die Gleichbehandlung in Beschäftigungsfragen) vereinbar ist.

Der EuGH hält fest, dass nach der Elternurlaubs-RL erwerbstätige Männer und Frauen ein „individuelles Recht“ auf Elternurlaub im Fall der Geburt eines Kindes haben, damit sie sich (für die Dauer von254 mindestens drei Monaten) um ihr Kind kümmern können. Die Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen soll dadurch gefördert werden, weshalb das Recht auf Elternurlaub prinzipiell auch nicht auf den anderen Elternteil übertragbar ist. Die Voraussetzungen und die Modalitäten für die Inanspruchnahme eines Elternurlaubs sind zwar in den Mitgliedstaaten unter Einhaltung der Mindestanforderungen zu regeln. Nach Ansicht des EuGH haben die Mitgliedstaaten aber keineswegs die Möglichkeit, einem Elternteil das Recht auf Elternurlaub wegen der Erwerbssituation des anderen Elternteils vorzuenthalten.

Auch nach der RL 2006/54 sollen die Mitgliedstaaten ua „angemessene Regelungen für den Elternurlaub, die von beiden Elternteilen in Anspruch genommen werden könnten“, erlassen, um es sowohl Männern als auch Frauen zu ermöglichen, Familie und Beruf besser miteinander in Einklang zu bringen. Nach griechischem Recht haben aber nur Mütter, die Beamtinnen sind, stets Anspruch auf Elternurlaub, während Väter, die die gleiche Stellung haben, diesen nur dann in Anspruch nehmen können, wenn die Mutter des Kindes erwerbstätig ist. Die Eigenschaft als Elternteil allein reicht also für Männer, die Beamte sind, nicht aus. Die griechische Regelung ist daher weit davon entfernt, die volle Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben zu gewährleisten. Derartige Regelungen verfestigen eher herkömmliche Rollenverteilungen zwischen Männern und Frauen. Folglich kommt der EuGH zum Schluss, dass eine derartige gesetzliche Regelung mit der Elternurlaubs-RL nicht vereinbar ist und zudem eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts von Beamten, die Väter sind, darstellt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Nach […] der Rahmenvereinbarung haben erwerbstätige Männer und Frauen ein ‚individuelles Recht‘ auf Elternurlaub im Fall der Geburt oder Adoption eines Kindes. […] Dieses Recht auf Elternurlaub stellt für jeden Elternteil eines Kindes eine der in der Rahmenvereinbarung aufgestellten Mindestanforderungen […] dar. […]

Wie die Generalanwältin […] ausgeführt hat, ermöglichen diese Voraussetzungen und Modalitäten keineswegs, einem Elternteil – namentlich wegen der Erwerbssituation seines Ehegatten – das Recht auf Elternurlaub vorzuenthalten.

Die Rahmenvereinbarung zielt nämlich […] darauf ab, die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben erwerbstätiger Eltern zu erleichtern […].

Mit demselben Ziel ist der Anspruch auf Elternurlaub in […] der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unter den sozialen Grundrechten aufgenommen worden […]. Nach dieser Bestimmung hat jeder Mensch u. a. Anspruch auf einen Elternurlaub nach der Geburt oder Adoption eines Kindes […]. In diesem Sinne heißt es […], dass die Familienpolitik im Rahmen der ‚Förderung einer Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben‘ gesehen werden müsse und dass Männer ermutigt werden sollten, ‚in gleichem Maße familiäre Verantwortung‘ zu übernehmen […]. Folglich geht sowohl aus dem Wortlaut der Rahmenvereinbarung als auch ihren Zielen und ihrem Regelungszusammenhang hervor, dass jeder Elternteil über das Recht auf Elternurlaub verfügt, was bedeutet, dass die Mitgliedstaaten keine Regelung erlassen dürfen, nach der einem Beamten, der Vater ist, das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt. […]

Im Hinblick auf […] der Richtlinie 2006/54 führt eine Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren streitige, die weit davon entfernt ist, die volle Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben zu gewährleisten, im Übrigen eher zu einer Verfestigung der herkömmlichen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, indem den Männern weiterhin eine im Hinblick auf die Wahrnehmung ihrer Elternschaft subsidiäre Rolle gegenüber den Frauen zugewiesen wird. […]“

ERLÄUTERUNG

Im vorliegenden Fall geht es um unterschiedliche gesetzliche Voraussetzungen für Väter und Mütter bei der Inanspruchnahme einer Elternkarenz.

Väter haben zwar grundsätzlich nach griechischem Recht einen Anspruch auf Elternkarenz, allerdings geht er verloren, wenn die Mutter nicht erwerbstätig ist. Anderes gilt für Mütter: Ihr Anspruch ist nicht von der beruflichen Situation des Vaters abhängig. Der EuGH sieht darin sowohl einen Verstoß gegen die Elternurlaubs-RL als auch eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Nach den Richtlinien sollen die Chancengleichheit von Männern und Frauen gefördert und Männer damit ermutigt werden, Kinderbetreuung zu übernehmen. Rollenzuschreibungen sind aufzubrechen und nicht zu verfestigen. Daher sieht die Elternurlaubs-RL auch einen individuellen prinzipiell nicht übertragbaren Anspruch auf Elternurlaub für jeden Elternteil vor. Mit diesem Urteil hält der EuGH fest, dass Müttern und Vätern unabhängig von der Erwerbssituation des anderen Elternteils (arbeitslos, in Ausbildung, nicht erwerbstätig, selbstständig ua) ein Anspruch auf Elternkarenz zu gewähren ist. Die Rahmenbedingungen der Inanspruchnahme müssen dabei für beide Elternteile dieselben sein.

Die E hat mE Auswirkung auch auf die österreichische Gesetzeslage. In Österreich wurden die Mindestanforderungen für den Elternurlaub im Mutterschutz- und Väter-Karenzgesetz grundsätzlich umgesetzt. Allerdings haben auch Eltern in Österreich keinen von der Erwerbssituation des anderen Elternteils völlig losgelösten Anspruch auf Karenz. Mütter können Karenz grundsätzlich nur im An- 255schluss an das Beschäftigungsverbot nach der Geburt des Kindes oder im Anschluss an eine Karenz des Vaters in Anspruch nehmen. Väter hingegen haben mE nach dem Wortlaut des Gesetzes auch die Möglichkeit, Karenz zu einem „späteren Zeitpunkt“ in Anspruch zu nehmen. Und zwar auch dann, wenn die Mutter keine Karenz in Anspruch nimmt oder keinen Anspruch auf Karenz hat.

Dies kann in der Praxis zu folgender Situation führen: Betreut beispielweise eine Mutter, die sich in Ausbildung befindet (und daher keinen Anspruch auf Karenz hat), ihr Kind im ersten Lebensjahr, dann kann der Vater im zweiten Lebensjahr eine Karenz in Anspruch nehmen, wenn er die Karenz spätestens acht Wochen nach der Geburt meldet. Sein Kündigungsschutz beginnt aber erst frühestens vier Monate vor Antritt der Karenz. Umgekehrt könnte in diesem konkreten Fall aber eine Mutter überhaupt keine Karenz im zweiten Lebensjahr in Anspruch nehmen, wenn der Vater nicht in Karenz war oder keinen Anspruch darauf hat, weil ihr Anspruch (zu einem „späteren Zeitpunkt“) von der Karenz des Vaters abhängt.

Die derzeit im MSchG und VKG vorgesehenen Möglichkeiten für die Inanspruchnahme von Elternkarenz machen es Müttern und Vätern unmöglich, Karenz zu einem „späteren Zeitpunkt“ in Anspruch zu nehmen, wenn der andere Elternteil keinen Anspruch auf Karenz hat (wie beispielsweise freie DN) oder nicht in Karenz geht. Die derzeit geltenden Regelungen sind somit mit den in der RL verankerten Grundsätzen unvereinbar und stellen zudem ein Hindernis für mehr Väterbeteiligung dar. Es bedarf einer richtlinienkonformen Anpassung des Gesetzes.