60 Jahre ASVG

RUDOLFMOSLER (SALZBURG)

Das Bundesgesetz vom 9.9.1955 über die allgemeine Sozialversicherung, BGBl 1955/189, war zweifellos ein ganz großer Wurf. Dass eine Gesamtregelung des Sozialversicherungsrechts tatsächlich gelingen würde, war keineswegs selbstverständlich. Zwar wurde schon im Motivenbericht zur Regierungsvorlage des SV-ÜG 1947 die Notwendigkeit einer grundlegenden Neuregelung des Sozialversicherungsrechts betont. Ursprünglich sollte dies aber in Etappen, also in mehreren aufeinanderfolgenden Gesetzen geschehen. Wie in den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage zum ASVG (599 BlgNR 7. GP 1 f) ausgeführt wird, wurde aber gegen diese Vorgangsweise eingewendet, dass die verschiedenen Bereiche des Sozialversicherungsrechts so stark miteinander zusammenhängen, dass man etwa zum Beitragsrecht nicht Stellung nehmen könne, wenn das Leistungsrecht nicht bekannt ist. Im Übrigen sollte sich das ASVG auf eine Kodifikation des damals geltenden Rechts beschränken, ansonsten „wäre zu befürchten gewesen, dass das Hauptziel der Neuregelung des Sozialversicherungsrechtes, nämlich das derzeit bestehende Vorschriftenchaos durch eine einheitliche und übersichtliche Regelung zu ersetzen, in naher Zeit nicht zu erreichen gewesen wäre“ (599 BlgNR 7. GP 2). Das ASVG sollte „in klarer und übersichtlicher Weise zusammenfassend dargestellt und an die österreichischen Verhältnisse angepasst werden. Hiebei soll die Zahl der einzelnen Bestimmungen gegenüber dem gegenwärtigen Stande wesentlich verringert werden“ (599 BlgNR 7. GP 2).

Diese Ziele dürften erreicht worden sein. Die Stammfassung des ASVG weist eine klare Struktur auf, hat tatsächlich das (damals) gesamte Sozialversicherungsrecht einbezogen und ist sogar in weiten Bereichen gut lesbar, wenn auch vereinzelt schon die Tendenz zu langen und verschachtelten Sätzen erkennbar ist. Was ist von dieser positiven Einschätzung 60 Jahre und über 300 (!) Änderungen später übrig geblieben? Es gibt mehrere Sozialversicherungsgesetze, die Anzahl der Bestimmungen ist wesentlich größer geworden, die Lesbarkeit hat durch die vielen Novellen erkennbar gelitten. Eine Neukodifizierung wäre höchst an der Zeit. Leider ist das anspruchsvolle Projekt der Vorbereitung einer Neuerlassung der Sozialversicherungsgesetze zwischen 1994 und 2002 letztlich gescheitert. Durch eine vom damaligen Sozialminister Hesoun (ein immer noch unterschätzter Politiker) erlassene Verordnung (BGBl 1994/205) wurde eine Kommission eingesetzt, die – auf der Basis von eingeholten Gutachten – eine Grundlage für die Neuerlassung der Sozialversicherungsgesetze vorbereitet hat. Es ging dabei darum, die Verständlichkeit, Übersichtlichkeit und Systematik der Gesetze zu verbessern. An der Notwendigkeit einer solchen Neukodifizierung hat sich nichts geändert. Das ASVG ist in Teilbereichen an den Grenzen der Vollziehbarkeit angelangt. Davon, dass ein/e durchschnittlich gebildete/r Jurist/in das ASVG verstehen können sollte, sind wir wohl ohnehin schon weit entfernt. Aber es sollte doch wenigstens möglich sein, ohne „eine gewisse Lust am Lösen von Denksportaufgaben“ (VfGH 1990/VfSlg 12.420) ein Gesetz vollziehen zu können.

Mit diesem Schwerpunktheft von DRdA soll das Jubiläum „60 Jahre ASVG“ würdig begangen werden. Das geschieht nicht nur durch historische Beiträge, sondern insb auch durch einen Blick auf die Zukunft. Dabei haben wir nicht Vollständigkeit in dem Sinne angestrebt, dass jeder Bereich des ASVG untersucht wird. Betrachtet man allerdings nicht nur die Abhandlungen, sondern auch die anderen Rubriken, wird man sehen, dass fast alle Teile des ASVG angesprochen werden. Dass das Pensionsversicherungsrecht mehrfach „gewürdigt“ wird, hängt nicht nur mit seiner besonderen Bedeutung, sondern auch mit der (offenbar ständig) aktuellen Diskussion über Pensionsreformen zusammen. Das soll aber nicht den Blick darauf verstellen, dass es auch in den anderen Bereichen Reformbedarf gibt, der über eine bessere Formulierung und Verständlichkeit hinausgeht. Wir wünschen jedenfalls dem ASVG noch viele weitere Jahre, wenn auch in neuem Gewand und mit inhaltlicher Fortentwicklung.475