Der „Hillegeist-Plan“ als Basis für das Pensionsrecht im ASVG

GUENTHERSTEINER (WIEN)

Als am 9.9.1955 das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) vom Nationalrat verabschiedet wurde, war dies der erfolgreiche Abschluss eines zehn Jahre dauernden Weges zu einem neuen österreichischen Sozialversicherungsrecht. Wiewohl der Ausschussbericht das Gesetz nicht als „Schlusspunkt einer sozialpolitischen Entwicklung“, sondern nur als eine Etappe „auf dem Weg zu einer befriedenden Lösung des Problems der sozialen Sicherheit* und zu einer umfassenden Neuregelung des Systems der SV gesehen hatte.

Inhaltlich wichtigster Teil war der vierte, jener über die PV. Während das Gesetz in der KV und UV in weiten Teilen eine Kodifikation darstellte, erfuhr die PV eine völlige Neuordnung. Diese Neuordnung wiederum basierte wesentlich auf jener Denkschrift zur Rentenreform, die am 26.8.1950 vom Zentralvorstand der Gewerkschaft der Privatangestellten beschlossen wurde, und die nach dem Obmann dieser Gewerkschaft, Friedrich Hillegeist, als „Hillegeist-Plan“ in die Geschichte der österreichischen SV eingehen sollte.

1.
Das Pensionssystem vor 1945

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten war mit der sogenannten „Einführungsverordnung“* das reichsdeutsche Sozialversicherungsrecht in Österreich eingeführt worden. Dieses blieb auch nach Gründung der Zweiten Republik im April 1945 weiter in Geltung. Im Bereich der SV zum österreichischen Recht vom Stand März 1938 zurückzukehren, war nicht möglich, weil KV und UV durch die reichsdeutsche Gesetzgebung eine bedeutende Erweiterung erfahren hatten. Außerdem war es zum Zusammenschluss von Arbeitern und Angestellten in diesen beiden Versicherungszweigen gekommen. Vor allem aber hatte die Reichsversicherungsordnung den Arbeitern erstmals eine Alters- und 558Hinterbliebenenpension gebracht.* Zwar hatte das Arbeiterversicherungsgesetz vom 1.4.1927* eine Invalidenversicherung vorgesehen, sie jedoch an eine sogenannte „Wohlstandsklausel“* gebunden, dh an bestimmte wirtschaftliche Parameter, etwa eine gewisse Mindestzahl der Arbeitslosen, wodurch weite Teile des Gesetzes nicht in Kraft getreten waren. Die „Wohlstandsklausel“ wurde auch vom Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz 1935 (GSVG)* übernommen, das das Arbeiterversicherungsgesetz ablöste. Beide Gesetze kannten eine unzulängliche Altersfürsorgerente.

2.
Die Notwendigkeit der Rentenreform

Schon unmittelbar nach Wiedererrichtung der Republik gab es daher Bestrebungen um ein Sozialversicherungs- Überleitungsgesetz (SV-ÜG). Beschlossen wurde es jedoch erst am 12.6.1947. Es regelte ua die Organisation der Sozialversicherungsträger, die Wiederherstellung der Selbstverwaltung, die Aufsicht, die Versicherungspflicht und -berechtigung, die Übernahme der Ansprüche und Anwartschaften, die Beziehung zu den Vertragspartnern, die Aufbringung der Mittel sowie die Schiedsgerichte.* Gleichzeitig erklärte der Nationalrat in einer Entschließung baldige Maßnahmen zur Sicherstellung der Leistungen in der Renten- und der PV für dringend und forderte die Regierung auf, einen Gesetzesentwurf vorzulegen, in dem die Beiträge in der Rentenversicherung und der AlV so abgeändert würden, dass dies gewährleistet sei.* Was das SV-ÜG nämlich nicht leistete – zu diesem Zeitpunkt auch nicht leisten konnte –, war eine Neuregelung des Leistungsund Beitragsrechtes der SV. Voraussetzung dafür war die Stabilisierung und Regelung der Währung und der wirtschaftlichen Verhältnisse. Erst Ende 1947 wurde das Währungsschutzgesetz* verabschiedet. In den Jahren 1947 bis 1951 wurde mit fünf Lohn-Preis- Abkommen die wirtschaftliche Lage stabilisiert.

Wie sehr die Frage der Renten und Pensionen einer Erledigung bedurfte, belegen die Zahlen: Die durchschnittliche Rente aus der Invalidenversicherung bzw der Altersfürsorgerente der Arbeiter betrug 1945 S 42,-* (42 Schilling im April 1946 entsprechen heute ca € 152,-*. Die durchschnittliche Direktrente der Angestellten zum gleichen Zeitpunkt S 116,60.* Beginnend mit 1946 wurden die Renten in mehreren Schritten mit Anpassungsgesetzen gewissermaßen im Nachziehverfahren zu den Lebenshaltungskosten erhöht; unregelmäßig, je nach politischer und finanzieller Möglichkeit, und trotzdem unzureichend.*

Einer der wesentlichsten dieser Schritte war das BG über die Änderung einiger Vorschriften in der Invalidenversicherung* vom 19.5.1949. Dieses Gesetz brachte „die Verwirklichung der Arbeiterpension“;* konkret wurde der Grundbetrag in der Invalidenversicherung der Arbeiter jenem in der Angestelltenversicherung angeglichen. Sozialminister Karl Maisel betonte, dass dieses Gesetz nur möglich war als Tauschgeschäft gegenüber der Wirtschaft für die Zustimmung zur Sanierung der Staatsfinanzen.* Im Zusammenhang mit der Angleichung der Arbeiterrenten an jene der Angestellten stand das Zusatzrentengesetz vom 19.5.1949. Damit sollten besonders geringe Angestelltenrenten um einen festen Betrag erhöht werden.*

Das Problem bei diesen Erhöhungen der Renten im Nachziehverfahren war, abgesehen davon, dass die Rentenleistungen unzureichend blieben, dass es sich hierbei auch um fixe Beträge (zB Ernährungszulage) handelte, die zu einer weiteren Nivellierung der Rentenleistungen führten, wodurch das Versicherungsprinzip, dh die Relation von Einkommen als Grundlage für den Beitrag und die Leistung, verletzt wurde. Dies traf die Angestellten in viel stärkerem Maße als die Arbeiter, da ihre Einkommen und auch die Einkommensunterschiede höher waren und sie andererseits schon länger Beiträge bezahlt hatten, existierte die PV für Privatangestellte doch schon seit 1909.

Eine weitere Quelle für den Wunsch der Anhebung der Pensionen der Angestellten waren die Ruhegenüsse der Angestellten des öffentlichen Dienstes, die an den Letztgehalt gekoppelt waren. Gerade im Jahr 1950 war es hier zu einem „Nachziehverfahren“ der Gehälter des öffentlichen Dienstes gekommen, was auch Auswirkungen auf die Ruhegenüsse dieser Berufsgruppe hatte. Das Pensionsüberleitungsgesetz vom 13.7.1949 brachte ab 1950 eine Erhöhung der Ruhegenüsse der Alt-Pensionisten des öffentlichen Dienstes.* Eine Angleichung der Leistungsbestimmungen in der PV der Angestellten in der Privatwirtschaft an jene der öffentlich Bediensteten war das Ziel Friedrich Hillegeists.559

Die Pensionisten des öffentlichen Dienstes erreichten zu der Zeit nach 40 Dienstjahren eine Höchstpension bzw richtiger: einen Ruhegenuss von 78,3 % ihres letzten Aktivbezuges. Die Arbeiter und Angestellten erhielten hingegen nach einer 40-jährigen Dienstzeit nur eine Rente von 48 % ihrer durchschnittlichen monatlichen Beitragsgrundlage während dieser Zeit. (Das geltende Pensionsrecht sah einen einheitlichen Steigerungsbetrag von 1,2 % pro Jahr für die gesamte Versicherungsdauer vor.*) Dazu kam noch ein Grundbetrag von S 107,–. Bei Annahme einer durchschnittlichen Beitragsgrundlage von S 800,– monatlich betrug die Rente nach einer 40-jährigen Versicherungszeit S 491,– brutto im Monat (entspricht € 262,05 im Juli 2015*), also 46,5 % der Höchstbeitragsgrundlage von S 1.050,–. Wenn der Betreffende zum Zeitpunkt der Pensionierung einen Gehalt von S 1.500,– hatte, bekam er 32,7 % seines letzten Gehaltes als Rente.*

Die Höchstrente, die ein Versicherter nach 40 Versicherungsjahren erreichen konnte, betrug S 580,–. Die durchschnittliche Altersrente bei den Angestellten belief sich auf S 401,–, die durchschnittliche Invaliditätsrente der Angestellten auf S 350,–, die durchschnittliche Witwenrente auf S 181,–. Bei einem Monatseinkommen in der Höhe der Höchstbeitragsgrundlage betrug die Pension nur etwa 55 % des Letztbezugs, im Durchschnitt jedoch nur 35 % des Letztbezuges.* Dies erklärte auch, warum so viele Versicherte nicht in Pension gehen konnten, ohne erhebliche Einbußen ihrer Einkommen zu erleiden. Diese gewissermaßen gezwungenermaßen länger im Arbeitsleben stehenden Versicherten hinderten wiederum den beruflichen Aufstieg der Jungen.

3.
Der „Hillegeist-Plan“

Dies brachte Friedrich Hillegeist schließlich zur Ausarbeitung einer Denkschrift für die Rentenreform der Privatangestellten. Die Reform hatte zum Ziel, die unzulänglichen Renten der Angestellten den sozialen und wirtschaftlichen Erfordernissen der Versicherten anzupassen und die Unterversicherung zu beseitigen und sollte außerdem eine Verwaltungsvereinfachung bringen. Die Denkschrift – ursprünglich nur für die Angestellten gedacht – orientierte sich am österreichischen Angestelltenversicherungsrecht vor 1938. Im Einzelnen wollte man diese Forderung durch folgende Maßnahmen erreichen:

Der Rentenreformplan*

Wiedereinführung eines prozentualen Grundbetrages von 30 % der Bemessungsgrundlage

Neuregelung der Steigerungsbeträge:

  • in den ersten zehn Jahren 7,8 % (0,78 % pro Jahr),

  • in den nächsten zehn Jahren 10,8 % (1,08 % pro Jahr),

  • in den nächsten zehn Jahren 13,8 % (1,38 % pro Jahr),

  • darüber hinaus 1,68 % pro Jahr.

Nach einer Versicherungszeit von 40 Jahren würde sich sonach ein Steigerungsbetrag von 49,2 %, zusammen mit dem Grundbetrag ein Betrag von 79,2 % der Bemessungsgrundlage ergeben. Das Höchstausmaß der Rente sollte mit 85 % der Bemessungsgrundlage begrenzt werden.

Wiederherstellung der früheren österreichischen Rentenbemessungsgrundlage in der Höhe des Durchschnitts der Beitragsgrundlagen der letzten 36 Beitragsmonate vor Eintritt des Versicherungsfalles. Blieb dieser Durchschnitt hinter dem Durchschnitt der vorher liegenden 120 Beitragsmonate zurück, wäre über Antrag des Versicherten der Berechnung der Rente der Durchschnitt dieser 120 Monate zu Grunde zu legen.

Erhöhung der Höchstbemessungsgrundlage auf S 2.100,–

Geänderter Aufbau der Invaliditätsrente

Der Grundbetrag sollte 50 % bei Eintritt der Berufsunfähigkeit vor dem 40. Lebensjahr betragen und sich bei jedem Jahr nach dem 40. Lebensjahr um ein Prozent (in 5-Jahres-Schritten) vermindern, sodass er im Alter von 60 Jahren 30 % betragen sollte.

Erhöhung der Witwenrente auf 60 % (bisher 50 %) der dem Versicherten gebührenden Rente.

Fakultative Gewährung einer Altersrente bei mehr als 40-jähriger, bei Frauen mehr als 35-jähriger anrechenbarer Versicherungszeit.

Erhöhung der derzeitigen Mindestrente:

  • der Alters- und Invaliditätsrente auf S 300,–,

  • der Witwenrente auf S 180,–,

  • der Waisenrente auf S 120,–.

Gewährung einer Rente nach einjähriger Arbeitslosigkeit bei Männern nach dem 60., bei Frauen nach dem 55. Lebensjahr.

Wiedereinführung eines Hilflosenzuschusses in der Höhe von 50 % der Rente.

Kinderzuschüsse und Waisenrenten über das 18. Lebensjahr hinaus (wenn die Kinder noch studieren oder infolge geistiger oder körperlicher Gebrechen dauernd erwerbsunfähig sind).

Übergangsbestimmungen
Die bis zum Inkrafttreten der Reform bestehenden Rentenansprüche sollten nach der geltenden Bestimmung abgehandelt werden. Jedoch sollten alle Renten auf die Höhe der Mindestrente erhöht werden, überdies sollten die Witwenrenten um 20 % erhöht werden, ein Hilflosenzuschuss sowie ein Anschaffungsbeitrag und schließlich eine Beihilfe von S 50,– bis zu einer Rente von S 600,– gewährt werden.

Die nach Inkrafttreten der Bestimmungen anfallenden Renten sollten nach den neuen Bestimmungen berechnet werden, wobei der Grundbetrag jedoch nur sukzessiv in zehn Jahren auf 30 % und auch die Höchstbemessungsgrundlage sukzessive in zehn Jahren auf S 2.100,– angehoben werden sollte.560

Finanzierung des Mehraufwandes

  • A. Einsparungen bei den Ausgaben:

    Ruhen der Renten während der Dauer einer eventuellen Abfertigung.

    Ruhen der Renten bei gleichzeitigem Bestand eines an sich versicherungspflichtigen Dienstverhältnisses oder Ausübung eines selbständigen Berufs.

    Aufhebung aller noch bestehenden Kriegsbestimmungen, die darauf hinauslaufen, den Verlust von Anwartschaften aus einer längeren Unterbrechung oder aus nicht erfüllter Wartezeit zu verhindern.

  • B. Schaffung erhöhter Einnahmen:

    Schrittweise Erhöhung des derzeitigen Beitragssatzes für die Rentenversicherung der Angestellten von 10 auf 14 %.

    Erhöhung der Höchstbeitragsgrundlage auf S 2.100,– (nur für die Rentenversicherung).

    Einführung der Versicherungspflicht für alle Rentner der Angestellten- und Invalidenversicherung sowie für die aktiven Beamten und Pensionisten des öffentlichen Dienstes.

    Übernahme einer allgemeinen Ausfallshaftung des Bundes über den bisherigen Bundesbeitrag von 25 % hinaus.

Der Reformplan wurde beinah augenblicklich Gegenstand der öffentlichen Debatte. Friedrich Hillegeist, der unermüdlich für sein Konzept warb, wurde gewissermaßen seine Personifizierung. Sehr schnell wurde die Denkschrift solcherart zum „Hillegeist-Plan“, was für den Namensgeber durchaus nicht immer schmeichelhaft gemeint war. Wie hoch, neben dankbaren und befürwortenden Äußerungen, die es auch gab, der persönliche Hass schlug, wird aus den Reaktionen deutlich. Hillegeist selbst bekannte, dass er jeden Tag Drohbriefe bekomme, von Menschen, die ihm das Aufhängen anschaffen und einen Strick gleich mitschicken würden.*

4.
Hillegeist gegen Maisel um den Reformplan

Die Denkschrift führte auch zu Unstimmigkeiten innerhalb der sozialdemokratischen Gewerkschaft. Der Obmann der größten Arbeitergewerkschaft, jener der Metall- und Bergarbeiter, Sozialminister Karl Maisel, Anhänger einer einheitlichen Volksversicherung, sprach von „unzeitgemäßem Kastengeist“ zugunsten der Angestellten.* Die Metall- und Bergarbeitergewerkschaft verabschiedete einen Beschluss gegen die Reform.*

Seit Vorstellung des Rentenreformplans im Sommer 1950 blieben die Vorschläge zur Rentenkürzung bzw -stilllegung in der öffentlichen Debatte hängen und überschatteten die anderen Ansätze der Reform. Friedrich Hillegeist wandte sich in einem „Offenen Brief an die Doppelbezieher von Rente und Arbeitseinkommen“, in dem er sich energisch gegen das Argument des „wohlerworbenen Rechtes“ eines Rentenbezuges aufgrund von Beitragsleistungen verwahrte. In der SV, so Hillegeist, ginge es nicht um das Versicherungs-, sondern um das Versorgungsprinzip; wollte man sie auf das Versicherungsprinzip stützen, müssten Renten unter Umständen ganz eingestellt werden, da diese von den aktuellen Beiträgen bezahlt würden, weil von seinerzeit eingezahlten Beträgen kriegsbedingt nichts mehr vorhanden sei. Er argumentierte, es würde auch niemand verlangen, dass eine Feuerversicherung Leistungen auszahle, obwohl es keinen Brand gebe, nur weil man Beiträge geleistet habe.*

Die Denkschrift thematisierte die Grundfrage der SV, und diese kam am stärksten in der PV zum Tragen: nämlich, ob sie eine Versicherungsleistung zu sein habe, auf die der Versicherte Anspruch habe, weil er entsprechende Beiträge eingezahlt habe oder eine Sozialleistung, auf die der Versicherte Anspruch habe, falls und weil er aus Gründen des Alters oder der Invalidität nicht im Stande war, seine wirtschaftliche Existenz aus Erwerbsarbeit zu bestreiten. Hillegeist vertrat hier einen doppelten Ansatz: Einerseits trat er deutlich für das Versicherungsprinzip ein, indem er die Leistungen in einem direkten Verhältnis zu den Beiträgen, die sich aus dem Erwerbseinkommen ableiteten, sehen wollte und sich gegen nivellierende Fixbeträge aussprach. Mit der Rente sollte der Lebensstandard aus dem Erwerbseinkommen gehalten werden können. Andererseits vertrat er mit dem Eintreten für Ruhensbestimmungen das Sozialleistungsprinzip, indem er meinte, es sei nicht einzusehen, jemanden, der sich aus Erwerbsarbeit seine Existenz sichern konnte, eine Sozialversicherungsrente zu gewähren. Wenn jemand nur von der Rente leben müsse, dann solle er davon leben, seinen Lebensstandard halten können. Wenn jemand von einem Erwerbseinkommen leben könne, solle er keine Rente bekommen.

Der Präsident der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien, Karl Mantler, stellte sich auf die Seite Hillegeists. Die Tatsache, dass Altersrentner, die noch berufstätig waren, eine Rente bezogen, bezeichnete er als „unerträglich ... nicht nur vom finanziellen Gesichtspunkt her, sondern auch vom Gesichtspunkt unserer jungen arbeitsfähigen Menschen und vom Gesichtspunkt der Altersrentner selbst, denn die Rente ist ja schliesslich dazu gedacht, unseren Alten einen möglichst sorgenfreien Lebensabend zu gewährleisten, nicht jedoch als Zuschuss zum Lohn. ... Entweder arbeitet man, dann besteht kein Anspruch auf eine Rente, oder man bezieht die Rente, dann nimmt man den Jungen nicht die Arbeit weg.* Außerdem sah er die Gefahr, dass Arbeitskräfte, die eine Rente bezogen, zu Lohndrückern würden.*

Auch der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger trat für Ruhensbestimmungen bei den Renten ab einer bestimmten Einkommens-561höhe ein. Er bewertete das soziale Faktum der SV höher als das reine Versicherungsprinzip.* Auch Hauptverbands- und Gewerkschaftsbundpräsident Johann Böhm sprach sich für Ruhensbestimmungen aus.* Laut Friedrich Hillegeist hatte sich auch Bundeskanzler Julius Raab wiederholt und vor Zeugen für die Rentenstilllegung ausgesprochen.* Die Angestelltengewerkschaft initiierte eine Urabstimmung über den Rentenreformplan.* Der Erfolg fiel mit einer Beteiligung von 69.572 abgegebenen Stimmzetteln doch recht bescheiden aus.* Die Zahl der Mitglieder der Gewerkschaft der Privatangestellten im Vergleich betrug 146.974.* Dem Unterfangen fehlte die Unterstützung des Gesamt-ÖGB. „Der Grund für die in diesem Zeitpunkt noch nicht gerade sehr aktive Unterstützung durch den ÖGB“, schrieb Friedrich Hillegeist im Rückblick, „lag zweifellos darin, daß die Arbeiter und ihre Vertreter noch nicht davon überzeugt waren, daß die Anwendung dieser Grundsätze unseres Reformplanes auch für sie eine Verbesserung ... bringen würde.* Das wäre auch verständlich, so Hillegeist:

„Die Arbeiter, bei denen das Bestreben mehr nach der Richtung einer allgemeinen Steigerung der Renten und weniger nach einer verstärkten Differenzierung ging, waren mit den Grundsätzen der bisherigen Regelung, die zu einer weitgehenden Nivellierung der Renten geführt hatte, weitaus zufriedener als die Angestellten. Sie tendierten viel stärker in die Richtung einer allgemeinen Volksversicherung mit gleichen Leistungen für alle, wie sie etwa in England besteht, und sahen aus der anderen Entwicklung ihres Lohneinkommens in der ‚Durchrechnungsmethode‘ – also in der Berücksichtigung des Durchschnittseinkommens während der ganzen Versicherungsdauer für die Berechnung der Rente – keineswegs eine solche Benachteiligung, wie dies bei den Angestellten der Fall war. [...]“*

Die Spanne zwischen Mindest- und Höchsteinkommen war bei den Angestellten höher als bei den Arbeitern; nicht ohne Grund argumentierte Hillegeist mit den besser verdienenden Angestellten, nicht ohne Grund ging es ihm um das „Lebensstandardprinzip“. Auch war die Lebensverdienstkurve bei den Angestellten steiler als bei den Arbeitern, wodurch Erstere bei einer Durchrechnung der gesamten Verdienstzeit für die Pensionsbemessung mehr Einbußen gehabt hätten als bei Heranziehung der letzten fünf Jahre als Bemessungsgrundlage. Und schließlich ging es nicht zuletzt darum, was man schon mal hatte oder nicht. Nicht von ungefähr argumentiert Hillegeist mit dem Angestelltenversicherungsgesetz der Ersten Republik; die Angestellten hatten dieses System schon gehabt, die Arbeiter erhielten erst durch die deutsche Versicherungsordnung eine geringfügige Altersversorgung, sie kannten aus der Ersten Republik nur die Altersfürsorge; für sie wäre eine Volksversicherung zumindest keine Verschlechterung gewesen. Und man darf letztlich wohl auch mit der Gewerkschaft argumentieren: Eine massive Nivellierung in der SV der Angestellten wäre für die Angestelltengewerkschaft schwer zu vertreten gewesen. Und Friedrich Hillegeist hatte massiv für eine eigene Angestelltengewerkschaft plädiert, weil nur so die Angestellten in ihrer großen Masse für die Gewerkschaftsbewegung zu gewinnen wären. „Standesdünkel“ auf beiden Seiten dürfen als Argument auch nicht außer Acht gelassen werden. Hillegeist gelang es mit seiner unermüdlichen Präsenz, dass der Plan nicht in einer Schublade entsorgt werden konnte.

Am 25.7.1951 fasste der Nationalrat im Zuge der Debatte um das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz auf Antrag der Abgeordneten Hillegeist und Dr. Fritz Bock, also beider Regierungsparteien, einstimmig eine Entschließung, womit die Bundesregierung aufgefordert wurde, ehestens ein umfassendes Reformprogramm für die gesamte SV vorzulegen.*

Die Differenzen zwischen Hillegeist und Sozialminister Maisel in der Frage der Rentenstilllegung wurden denn auch am Bundeskongress des ÖGB 1951 offen ausgetragen. Friedrich Hillegeist bezeichnete sie als „kein Geheimnis“:*

„Ja, was für eine Ungeheuerlichkeit ist denn diese Renten- und Pensionsstillegung? Sie würde zunächst bedeuten, daß zehntausende Rentner, und zwar gerade die ärmsten Teufel, denen die Rente auf Grund der jetzigen Bestimmungen eingestellt wird, wenn sie auch nur das kleinste Nebeneinkommen haben, in Hinkunft ihren Nebenverdienst verdienen könnten, ohne daß ihnen die Rente gekürzt wird. Diese Rentenstilllegung würde den paradoxen Zustand herbeiführen, daß zunächst zehntausende Menschen bessere Renten bekämen und dazu auch noch die Möglichkeit hätten, etwas zu verdienen. Sie würde aber gleichzeitig bewirken – und ich habe den Mut, das hier auszusprechen, der Sozialversicherung den richtigen Sinn zu geben, denn die Sozialversicherung ist nicht dazu da, jemanden eine Prämie zu bezahlen, weil er Beiträge eingezahlt hat. Die Sozialversicherung ist ausschließlich dazu da, jenen, die ... sich ihre Existenz nicht mehr durch eigene Arbeit schaffen können (Zustimmung), eine zum Leben ausreichende Versorgung zu garantieren. (Beifall.)“*562

Sozialminister Maisel begründete seine Ablehnung zum einen mit dem Verwaltungsaufwand für die Sozialversicherungsträger und die damit verbundene Verkomplizierung, da die Stilllegung erst bei einer gewissen Einkommensgrenze in Kraft treten würde: „Es muß also festgestellt werden: Welches Einkommen hat der Rentner? Es muß die Summe errechnet werden, die er über seine Rente verdienen kann. Wenn er mehr verdient, muß erst berechnet werden, um wie viel die Rente zu kürzen ist, denn das hängt ja von der Höhe des anderweitigen Einkommens ab.“ Dieses könne sich allerdings, so Maisel, mehrmals ändern. Außerdem könne dabei „nach allen Regeln der Kunst geschwindelt werden“. Zum Zweiten war Maisel überzeugt, dass die Rentenstilllegung den „großen, großen Teil der in Arbeit stehenden Rentner“ ob des geringen Einkommens gar nicht betreffen würde, letztlich aus dieser Maßnahme für die SV nicht viel Einsparungspotenzial zu lukrieren sei.* (Ein Argument, das Hillegeist im Übrigen gar nicht bestritt.*) Schließlich sei die Wirtschaftskonjunktur unsicher und die Berechnungen würden vielleicht für den Moment stimmen, könnten sich aber in kurzer Zeit wieder ändern.*Maisel argumentierte also mit einer Aufwand-Nutzen-Rechnung der Rentenstilllegung, auf das Argument der Gerechtigkeit, des „Sinns der Sozialversicherung“ von Hillegeist ging er nicht wirklich ein. Scharfer Widerspruch zu Hillegeist kam auch von der Gewerkschaft der öffentlich Bediensteten, hauptsächlich mit dem Argument, dass der erhöhte Verwaltungsaufwand durch die Rentenstilllegung die möglichen Einsparungen größtenteils auffressen würde.* Der Antrag der Gewerkschaft der Privatangestellten, der ÖGB möge sich für eine Rentenreform iSd Grundsätze dieser Teilgewerkschaft – also des „Hillegeist-Plans“ – einsetzen, wurde dem Bundesvorstand zugewiesen.*

Am Parteitag der SPÖ, im Herbst 1951, brachte Hillegeist eine Resolution ein, mit der er die Partei auf die Grundsätze seines Rentenreformplanes verpflichten wollte.* Dass der Antrag der Parteivertretung zugewiesen wurde,* wertete der Antragsteller dahingehend, dass „sich die SPÖ eindeutig für die positiven Ziele des ‚Hillegeist-Plans‘ ausgesprochen“ habe „und auch den Grundsatz bejaht, daß Renten und Pensionen nicht neben einem ausreichenden Arbeitseinkommen gebühren sollen.* Damit, so meinte er, war innerhalb der SPÖ eine grundsätzliche Entscheidung zugunsten des wichtigsten Programmpunktes des Reformplanes gefallen.* Dass die Partei nicht zu allen Zeiten und in allen Teilen über den Rentenreformplan Hillegeists erfreut war, davon zeugt ein Brief des stellvertretenden Parteivorsitzenden Oskar Helmer an Friedrich Hillegeist vom 29.8.1951, in dem er sich über den Alleingang Hillegeists mit seinem Reformplan beklagte, der der Partei Erregung und Schwierigkeiten bereitet hätte.*

Ab etwa 1950 beklagten AN-Vertreter zunehmend ein Stocken in den Bemühungen um die Sozialversicherungsgesetzgebung. Dies hatte auch wesentlich mit dem Wechsel an der Spitze der ÖVP und dem damit verbundenen wirtschaftsliberalen Kurs – Stichwort: Raab-Kamitz-Kurs – zu tun.* 1952 erreichte die Kritik an der SV mit dem mit dieser wirtschaftspolitischen Ausrichtung der ÖVP verbundenen Bestreben nach Budgetkonsolidierung* einen Höhepunkt. Im Herbst dieses Jahres standen demnach neue Verhandlungen über den Bundesbeitrag an. Und an diesen – ua – zerbrach die Regierung am 22.10.1952.* Die SPÖ warb bei dieser Nationalratswahl mit dem Slogan vom „Rentenraub“ – gemeint war damit die Kürzung des Bundeszuschusses zu den Renten, die ÖVP-Finanzminister Reinhard Kamitz ihrer Auffassung nach plante. Vom „Rentenraub“ und „Rechtsraub“ sprach allerdings auch die ÖVP. Sie meinte damit die Ruhensbestimmungen des „Hillegeist-Plans“. Bei der Nationalratswahl am 22.2.1953 wurde die SPÖ erstmals in der Zweiten Republik stimmenstärkste Partei und blieb nur durch die Wahlarithmetik ein Mandat hinter der ÖVP – als deren Juniorpartner sie wieder in eine Koalition ging.

5.
Der Ministerialentwurf auf Basis des Reformplanes

Nach den Wahlen wurden in einer Zusammenarbeit zwischen einer Expertengruppe im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger und dem Sozialministerium sukzessive die Entwürfe für die Teile des ASVG erarbeitet und in Begutachtung geschickt. Im April 1954 versandte das Sozialministerium den vierten Teil, jenen zur PV. Der Entwurf sah Folgendes vor:

  • Grundbetrag: 40 % der Bemessungsgrundlage.

  • Steigerungsbeträge: für das erste Jahrzehnt 3 %, für das zweite 5 %, für das dritte 9 %, für das vierte und darüber hinaus 15 %, in der563Bergarbeiterversicherung galten höhere Steigerungsbeträge. Damit sollte sich nach 40 Versicherungsjahren eine Rente im Ausmaß von 72 % der Bemessungsgrundlage ergeben.

  • In der Arbeiterversicherung sollten ab dem 15. Lebensjahr pro Jahr acht Versicherungsmonate für jedes Jahr vor 1939 angerechnet werden.

  • Bemessungsgrundlage sollte der Durchschnitt der letzten 60 Beitragsmonate sein. Die Beitragsgrundlagen aus der Zeit von 1939 bis 1946 sollten auf das Sechsfache, von Oktober 1950 bis 31.7.1951 auf das 1,2-fache aufgewertet werden. 1947 bis September 1950 sollte wegen der uneinheitlichen Lohnentwicklung außer Ansatz bleiben. Außerdem sah der Entwurf eine zweite Bemessungsgrundlage bei Vollendung des 45. Lebensjahres vor.

  • Erhöhung der Höchstbeitragsgrundlage auf S 2.400,–.

  • Keine Mindestrente; die Frage einer Zulage ließ der Entwurf offen.

  • Der Entwurf sah einen Hilflosenzuschuss von S 300,– bis S 600,– vor.

  • Waisenrenten bis zum 24. Lebensjahr, wenn der Waise in Berufsausbildung und unbegrenzt bei körperlichen oder geistigen Gebrechen stand.

  • Witwenrente von 50 %, Waisenrente 40 % der Witwenrente, bei Doppelwaisen 60 %.

  • 13. Rente.

  • Ruhensbestimmungen: Freibetrag von S 240,–; danach sollten Einkünfte zunächst auf den Grundbetrag der Rente angerechnet werden; überstieg die Summe aus Einkommen, Freibetrag und den Steigerungsbeträgen das Zweifache des steuerfreien Existenzminimums, sollte auch der restliche Teil der Rente in Höhe des resultierenden Mehrbetrages ruhen. Ähnliche Ruhensbestimmungen schlug der Entwurf für mehrere Leistungen der SV vor.*

Unzweifelhaft trug der Entwurf die Handschrift des Hillegeist-Planes. Die Bestimmungen galten für Arbeiter und Angestellte gleichermaßen. Abweichend waren sie nur für die knappschaftliche PV.

Gewissermaßen ein Vorgriff auf und eine Vorleistung für die Pensionsbestimmungen im ASVG war das Rentenbemessungsgesetz* vom 6.7.1954, das auf einem Initiativantrag von Johann Böhm fußte, der das Ziel einer Neubemessung der Renten aus allen Rentenversicherungszweigen sowie eine Neubemessung der Altrenten aus der UV und die Gewährung einer 13. Rente zum Ziel hatte. Trotz der Kosten, die diese Maßnahmen verursachten, sahen sich die Antragsteller dazu veranlasst, da sie die Unzufriedenheit der Arbeiter fürchteten, wenn nur bei den Renten der Angestellten eine Entnivellierung stattfinden würde, wie dies vom Initiativantrag der ÖVP-Abgeordneten Ignaz Köck und Genossen gefordert wurde. Damit sollte die Äquivalenz zwischen Beitragsleistungen und Versicherungsleistungen wiederhergestellt werden. Die Renten wurden mit dem 1,89-Fachen der Bemessungsgrundlage bemessen. Die Ernährungszulage entfiel dafür im Gegenzug. Neben der solcherart vorgenommenen Valorisierung der Renten sah das Gesetz eine Erhöhung der Beiträge sowie der Höchstbeitragsgrundlage vor. Ebenso enthielt es Ruhensbestimmungen. Schließlich wurde die 13. Rente eingeführt.*

Die Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft nahm im Begutachtungsverfahren des Ministerialentwurfes zum ASVG in einer Weise Stellung, „aufgrund dessen es unwahrscheinlich erschien, in Beratungen mit den Interessenvertretungen auch nur voranzukommen, geschweige denn zu einem gemeinsamen Vorschlag an den Ministerrat“.* Die Wirtschaftskammer sprach sich in diesem Gutachten gegen eine Angleichung der Rentenbestimmungen von Arbeitern und Angestellten aus. Für Ruhensbestimmungen sprach sie sich nur bei einem Einkommen aus unselbständiger Arbeit aus, nicht jedoch bei selbständiger Tätigkeit oder solcher in einem öffentlichen Dienstverhältnis.* Die Bundeswirtschaftskammer hatte weiters eine Parität in allen Verwaltungskörpern der SV und einen neutralen, unparteiischen Obmann bzw Präsidenten der Sozialversicherungsträger verlangt.* Dass es im Übrigen nicht nur an der PV hakte, bewies der heftige Widerstand der Ärztevertreter, die der Gesetzentwurf zu Streiks und Demonstrationen trieb, im Zuge derer es sogar zu Handgreiflichkeiten kam.

6.
Der Weg zum ASVG

In Reaktion auf das ablehnende Gutachten der Wirtschaft setzte Sozialminister Karl Maisel ein Verhandlungskomitee unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Julius Raab ein. Dieses sollte eine Einigung über das ASVG auf politischer Ebene herbeiführen.* Seine Arbeit begann am 24.2.1955. Wie schwierig die Gespräche waren, lässt sich auch daran ersehen, dass immer wieder einzelne Fragen zurückgestellt und in späteren Sitzungen neu beraten wurden und erneut offen gelassen werden mussten. Am 22. und 27.6.1955 wurde der vierte Teil (PV) erneut im Gesamtkomitee beraten.* Aus einer Zusammenstellung der noch offenen Punkte – die leider kein Datum trägt und daher schwer einzuordnen ist – geht hervor, dass noch viele Fragen offen waren. Die interessantesten davon: Anrechnung der Beschäftigungszeiten vor dem 1.1.1939 für Arbeiter mit acht oder sechs Monaten; ersteren Standpunkt vertrat das Sozial-, zweiteren das Finanzministerium; Einführung der Berufsunfähigkeitsrente bei Arbeitslosigkeit auch in der PV der Arbeiter, Ausmaß der 564Alters- und Invaliditätsrente sowie Ausmaß der Knappschaftsrente, Ausgleichszulagen.*

Der Gesetzesentwurf zum ASVG wurde vom Ministerrat am 19.7.1955 dem Parlament zugewiesen.* Im Ausschuss für soziale Verwaltung wurde die Regierungsvorlage vom 30.8. bis 2.9.1955 beraten und erfuhr auch dort noch 154 Abänderungen.* Dort auch legte der VdU-Abgeordnete Jörg Kandutsch einen Entschließungsantrag vor, der die Regierung aufforderte, unverzüglich den Entwurf eines neues Sozialversicherungsgesetzes auszuarbeiten, der auch alle bisher nicht von der SV erfassen Berufsgruppen einbeziehen sollte,* der jedoch keine Mehrheit fand.* In den späten Abendstunden des 2.9. wurden die Ausschussbehandlungen abgeschlossen.* Der Ausschussbericht hielt fest, dass das ASVG demnach keine völlige Neuordnung der SV sei, man sich aber für die Zukunft fragen müsse, „inwieweit die Sozialversicherung in den überkommenen Formen geeignet ist, der Forderung nach umfassender sozialer Sicherheit der Gesamtbevölkerung bestmöglich zu dienen.“ Auch „[d]ie Feststellungen über den neuen Rentenaufbau sollen nun nicht etwa die Tatsache bestreiten, daß auch in Österreich früher oder später eine echte und grundlegende Sozialreform durchgeführt werden muß.* Das Gesetz war demnach eigentlich ein Provisorium, ein Kompromiss des politisch Machbaren. Überlegungen, das Sozialversicherungsrecht auf eine neue Basis zu stellen, gab es auch zu späterer Zeit, sie scheiterten jedoch an der Komplexität der Gesetzesmaterie und auch am übereinstimmenden politischen Willen.

Die Beratungen gingen aber buchstäblich bis zur letzten Minute vor der Beschlussfassung weiter. Sogar nach Abschluss der Verhandlungen im Sozialausschuss wurde in Detailbesprechungen noch eine Reihe von Änderungen vorgenommen.* Am 9.9.1955 konnte das ASVG schließlich vom Nationalrat verabschiedet werden. Berichterstatter in der Plenardebatte war Friedrich Hillegeist:

„Die äußerst komplizierte Materie ... läßt es verständlich erscheinen, daß es einer von sachlichen Rücksichten völlig unberührten Kritik gelingen konnte, gegen dieses Gesetz und seine Auswirkungen Stimmung zu machen und bei Uninformierten den Eindruck erwecken, als handle es sich hier wirklich um ein durch ‚Rechtsbruch und Rentenraub‘ belastetes ‚Schandgesetz‘ – wie es in einer gewissen Presse charakterisiert wurde –, dessen Zustandekommen gar nicht im Interesse der Versicherten liege und daher besser verhindert werden sollte. ... Das ASVG. ist entgegen aller unsachlichen Hetze, die gerade in letzter Zeit dagegen entfacht wird, das hervorragendste sozialpolitische Gesetzeswerk, das in Österreich nach 1945 geschaffen wurde und das vor allem auf dem Sektor der Pensionsversicherung hinsichtlich der Leistungen ein Niveau herbeiführt, das die Kennzeichnung dieses Gesetzes als vorbildlich durchaus rechtfertigt.“*

Und er kam zur abschließenden Überzeugung:

„... Die Arbeiter und Angestellten, für die dieses Gesetz gilt, haben nach Meinung des Ausschusses allen Grund, das ASVG als einen außerordentlichen Fortschritt und als einen Meilenstein auf dem Wege zu dem Ideal einer umfassenden sozialen Sicherheit aller arbeitenden Menschen zu begrüßen und sich durch die unsachliche Stellungnahme eines Teiles der Öffentlichkeit nicht in ihrem positiven Urteil beirren zu lassen.“*

7.
Der Plan im Gesetz

Wie sehr der pensionsrechtliche Teil auf dem „Hillegeist- Plan“ fußte, zeigt ein Vergleich zwischen den Eckpunkten desselben und jenen des Gesetzes: Der Grundbetrag im ASVG betrug 30 %, die Steigerungsbeträge bis zum 120. Monate 6 %, vom 121. bis 240 Monate 9 %, vom 241. bis 360 Monate 12 %, ab 361 Monate 15 %, jedoch höchstens 540 Monate. Bemessungsgrundlage im Gesetz waren die letzten 60 Monate; dazu gab es eine zweite Bemessungsgrundlage bei Vollendung des 45. Lebensjahres. Die Höchstbemessungsgrundlage betrug S 2.600,–. Für die Invaliditätsrente galten grundsätzlich die gleichen Grund- und Steigerungsbeträge wie für die Altersrente, jedoch erhöhte sich der Grundbetrag um einen Zuschlag von 10 %, wenn dadurch die Gesamtinvaliditätsrente 50 % der Bemessungsgrundlage nicht überstieg. Die Witwenrente blieb bei 50 %, eine Erhöhung auf 60 % erfolgte erst mit der 25. Novelle zum ASVG, BGBl 1970/385. Die vorzeitige Altersrente wegen langer Versicherungsdauer kam erst mit der 8. ASVG-Novelle, BGBl 1960/294. Die vorzeitige Rente für Arbeiter wegen langer Arbeitslosigkeit kam mit der 3. ASVG-Novelle 1957/294. Von einer Mindestrente wurde zugunsten eines Systems der Ausgleichszulage Abstand genommen. Was nun die umstrittenen Ruhensbestimmungen anbelangt, so legte § 94 beim Zusammentreffen einer Rente mit unselbständigem Erwerbseinkommen fest, dass der Grundbetrag um jenen Betrag ruhte, der S 500,– überstieg, höchstens jedoch mit dem Betrag, um den die Summe aus Rente und Entgelt im Monat den Betrag von S 1.300,– überschritt. Ein Ruhen betraf jedoch immer nur den Grundbetrag. Ruhensbestimmungen gab es auch für das Zusammentreffen der Rente aus der PV mit einer solchen aus der UV oder mit einem Ruhegenuss oder einem pensionsversicherungsfreien Dienstverhältnis.565

8.
Was blieb vom Hillegeist- Plan?

Zur Anpassung der Altrenten vor dem ASVG und zur Dynamisierung der Pensionen kam es mit der 8. ASVG-Novelle 1960 und dem Pensionsanpassungsgesetz 1965. Eine erste wesentliche Veränderung der Eckpunkte des Hillegeist-Plans erfuhr das ASVG mit der 40. Novelle, mit der der Grundbetrag abgeschafft wurde. Der Steigerungsbetrag war abhängig von der Anzahl der Versicherungsmonate (maximal 540). Für je zwölf Versicherungsmonate bis zum 360. Monat betrug die Steigerung 1,9 vH und vom 361. bis zum 540. Monat 1,5 vH der Bemessungsgrundlage. Der Bemessungszeitraum wurde erstmals verlängert, auf zehn Jahre. Mit 2004 erfolgte die schrittweise Verlängerung des Pensionsbemessungszeitraumes auf 40 Jahre. Damit wurde das „Lebensstandardprinzip“ von Hillegeist endgültig zugunsten einer vollen Durchrechnung aufgegeben. Mit der 62. ASVG-Novelle wurde ein einheitliches Pensionsrecht für alle Erwerbstätigen geschaffen. Die Ruhensbestimmungen wurden sukzessive gelockert, der § 94 über das Zusammentreffen eines Pensionsanspruches aus der PV mit Erwerbseinkommen wurde 1991 schließlich aufgehoben, §§ 91 bis 93 schon 1960.

Der 1950 von der Gewerkschaft der Privatangestellten präsentierte Rentenreformplan, der „Hillewww. oegbverlag.at Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes GmbH | Fachbuchhandlung T +43 1 405 49 98-132 | F +43 1 405 49 98-136 Fachbuchhandlung des ÖGB-Verlags | 1010 Wien, Rathausstraße 21 www.arbeit-recht-soziales.at | kontakt@arbeit-recht-soziales.at 60 Jahre Allgemeines Sozialversicherungsgesetz Der Sozialstaat und seine Institutionen sind genauso rar und kostbar wie die Schätze in den Museen und Konzertsälen Dr. Guenther Steiner, Historiker Zeitgeschichte / 2015 / 216 Seiten / EUR 29,90 ISBN 978-3-99046-183-9 Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) ist das Stammgesetz der Sozialversicherung der unselbständig Erwerbstätigen nach 1945. In ihm spiegeln sich auch die sozioökonomischen Veränderungen der letzten 60 Jahre wider. Aus Anlass der 60. Wiederkehr des Inkrafttretens des ASVG am 1. Jänner 1956 wird in dieser Arbeit das Werden des Gesetzes sowie seine Entwicklung anhand der wesentlichen Marksteine und Novellen, gegliedert nach den Bereichen Allgemeines, Krankenversicherung, Unfallversicherung und Pensionsversicherung, dargestellt und damit auch ein wesentlicher Teil der Geschichte der Sozialversicherung der Zweiten Republik nachgezeichnet. geist-Plan“, war Basis für die PV im 1955 beschlossenen ASVG und blieb dies in seinen Eckpunkten für viele Jahrzehnte. Erst die Notwendigkeit der Pensionsreform unter dem Druck der weiteren Finanzierbarkeit des Pensionssystems ab Anfang der 1980er-Jahre veränderte dies nachhaltig. Umgekehrt war die ökonomische Situation der 1950er-Jahre, die dieses System sowohl für Angestellte als auch für Arbeiter möglich machte und damit den Arbeitern die Angst nahm, dies könnte für sie nicht finanzierbar sein, ein wesentlicher Grund für seinen Erfolg. Erfolg hatte es aber auch, weil es im Grunde keine wirkliche Alternative gab. Die Idee einer einheitlichen Volkspension war aus der historischen Entwicklung des österreichischen Pensionsversicherungssystems, man könnte auch sagen: aus der Pfadabhängigkeit der SV letztlich überholt. Erfolg hatte es aber auch aufgrund des unermüdlichen Eintretens seines Schöpfers, Friedrich Hillegeist, der damit zu einem „Säulenheiligen“ der österreichischen SV wurde.

Der Text fußt wesentlich auf den Publikationen des Autors: Ein Mann und sein Plan. Friedrich Hillegeist in der österreichischen Sozialversicherung (2013); Der Sozialpolitiker Karl Maisel (2012) sowie Johann Böhm in der österreichischen Sozialversicherung (2011).566