Dullien/Fichtner/Haan/Jaeger/Jansen/Ochmann/TomaschEine Arbeitslosenversicherung für den Euroraum als automatischer Stabilisator

Studie des DIW Berlin im Auftrag des BMASK Verlag des ÖGB, Wien 2015, 174 Seiten, € 20,– kostenloser download: www.studienreihe.at

WALTERSCHERRER (SALZBURG)

In den unterschiedlichen Arbeitslosenquoten der Länder des Euroraums – sie liegen zur Zeit zwischen knapp 5 % (in Deutschland) und über 25 % (in Griechenland und Spanien) – kommt neben den vieldiskutierten strukturellen Problemen in manchen, vor allem südeuropäischen Ländern, auch die unterschiedliche Konjunkturlage zum Ausdruck. Auf die Dämpfung von Konjunkturschwankungen und den damit verbundenen negativen Auswirkungen auf die Einkommens- und Beschäftigungssituation in den Mitgliedsländern der Europäischen Währungsunion (EWU) zielt der in diesem Band dargestellte Vorschlag einer Arbeitslosenversicherung für den Euroraum (EWUAlV). Die Dämpfung von Konjunkturunterschieden zwischen den Mitgliedsländern der EWU ist eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren der für den 569gesamten Euroraum notwendigerweise einheitlichen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). In der Vor-Euro-Zeit konnten die jeweiligen nationalen Notenbanken ihre Geld- und Währungspolitik an die jeweilige nationale Konjunkturlage anpassen, was in einer Währungsunion naturgemäß nicht mehr möglich ist. Andere Mechanismen zum Ausgleich einer unterschiedlichen nationalen Wirtschaftsentwicklung wie die internationale Arbeitskräftemobilität, Preis- und Lohnflexibilität sowie fiskalische Ausgleichsmechanismen sind aus verschiedenen Gründen im Euroraum nur sehr eingeschränkt funktionsfähig oder ihr Einsatz wird politisch zumindest in einzelnen Mitgliedsländern nicht gewollt bzw als schwer durchsetzbar erachtet.

Eine EWU-AlV ist nun ein fiskalischer Ausgleichsmechanismus, durch den finanzielle Mittel direkt an die Bürgerinnen und Bürger in Ländern mit schwacher Konjunktur transferiert werden. Sie werden dort rasch für Konsumzwecke verwendet und stabilisieren damit die nationale Konjunktur, während in Ländern mit günstiger Konjunkturlage automatisch höhere Nettozahlungen vom Privatsektor an den Staat fällig werden, was die Gefahr einer Konjunkturüberhitzung verringert. Die EWU-AlV wird durch einen lohnabhängigen Beitrag finanziert, die Auszahlung von Arbeitslosenunterstützungen erfolgt nur für einen kurzen Zeitraum (maximal ein Jahr – in der Studie werden mehrere Varianten gerechnet), und je höher die Einkommensersatzquote ist (auch hier werden mehrere Varianten gerechnet), desto stärker ist klarerweise die Stabilisierungswirkung. Bei geringem Leistungsumfang könnte das System ohne zusätzliche Lasten für Beschäftigte und Unternehmen eingeführt werden, weil die EWU-AlV sowohl bei den Beiträgen als auch bei den Auszahlungen Teile der existierenden nationalen Systeme ersetzen würde. Die Höhe der Versicherungsleistungen könnte – jedenfalls in Ländern mit hohem Absicherungsniveau – unter dem Absicherungsniveau der derzeitigen nationalen Arbeitslosenversicherungen bleiben. Die Einzelstaaten können aber weiterhin eine über dieses Basisniveau hinausgehende Absicherung anbieten, und jene mit niedrigem Absicherungsniveau haben einen Anreiz, dieses anzuheben, weil sie zwar die vollen Beiträge zur EWU-AlV abführen müssten, ihre Versicherten aber nicht die Auszahlungen in voller Höhe des Absicherungsniveaus der EWU-AlV in Anspruch nehmen könnten. Durch die Beschränkung der Auszahlung von Versicherungsleistungen ausschließlich für kurzfristig Arbeitslose wird vermieden, dass nationale Regierungen Maßnahmen zur Reduzierung der strukturellen Arbeitslosigkeit unterlassen.

Bei der Umsetzung in die politische und organisatorische Praxis trifft die vorgeschlagene Form der EWU-AlV auf eine große institutionelle Vielfalt in den europäischen Ländern. Die Studie vergleicht die bestehenden Arbeitslosenversicherungssysteme in den einzelnen Ländern im Hinblick auf die Finanzierung, den Kreis der Bezugsberechtigten, die Kriterien für den Bezug von Leistungen sowie Umfang und Dauer der Leistungen. Dieser Abschnitt sowie der darauf folgende über die Struktur der US-amerikanischen AlV liefern einen guten Überblick über die Vielfalt der bestehenden Regelungen; sie sind für sich genommen lesenswert.

Den Kern der Arbeit bilden Modellberechnungen für verschiedene Umsetzungsvarianten einer EWU-AlV auf der Basis eines umfangreichen Simulations- und Prognosemodells. Dabei wird für den Zeitraum von 1999 bis 2012 eine von der Realität abweichende Wirtschaftsentwicklung simuliert, welche die Veränderungen der Modellvariablen infolge der fiktiven Einführung einer EWU-AlV abbildet. Mehrere Modellvarianten mit unterschiedlichen Annahmen über die Einkommensersatzquote, die Bezugsdauer und den Beitragssatz werden berechnet, wobei in der Studie eine großzügige und eine restriktive Variante ausführlich dargestellt wird. Weiters wird die Stabilisierungswirkung eines einkommensunabhängigen Zuschlags zur Arbeitslosenunterstützung analysiert, der zusätzlich zum nationalen System ausbezahlt wird, sobald in einem Land die Wirtschaft länger als ein Quartal lang geschrumpft ist.

Im Modell werden die Auswirkungen dieser verschiedenen Varianten einer EWU-AlV auf wichtige wirtschaftliche bzw wirtschaftspolitische Kenngrößen wie Bruttoinlandsprodukt, Beschäftigung, Zahlungsflüsse zwischen den Nationalstaaten und Verteilungseffekte in einzelnen Staaten berechnet (auf eine Darstellung des Modells – je OECD-Land umfasst es bis zu 130 Gleichungen – wird verzichtet). Durch den Vergleich der Ergebnisse der Modellrechnungen mit der realen, zwischen 1999 und 2012 beobachteten Entwicklung können die Auswirkungen der EWU-AlV auf die genannten Kenngrößen berechnet werden.

Die Auswirkungen der verschiedenen Varianten einer EWU-AlV werden in der Studie übersichtlich dargestellt und gut nachvollziehbar kommentiert. Für alle Varianten bestätigen die Modellsimulationen, dass die aus den theoretischen Überlegungen abgeleiteten Erwartungen erfüllt werden und dass diese Effekte vor allem bei Umsetzung einer großzügigen Variante gesamtwirtschaftlich bedeutsam gewesen wären. So hätte in einzelnen Ländern im Jahr 2009 das Absinken der Wachstumsrate des BIP um bis zu 0,7 Prozentpunkte gedämpft werden und das Jahresnettoeinkommen niedriger Einkommensschichten um 1 % höher sein können. Ein Zuschlag zur Auszahlung aus der nationalen AlV hätte hingegen nur sehr geringe Wirkungen.

Wäre das vorgeschlagene System der EWU-AlV schon implementiert, wären Frankreich, Griechenland und Spanien im Zeitraum 1999 bis 2012 Netto-Empfängerländer gewesen, während in Österreich die zu leistenden Beiträge die erhaltenen Zahlungen aus der EWU-AlV in jedem Jahr überstiegen hätten. Insgesamt hätte sich für Österreich eine Nettozahlung über den gesamten Zeitraum zwischen 2,1 Mrd € in der restriktivsten Variante und 8,2 Mrd € in der großzügigsten Variante ergeben; das entspricht im Jahresdurchschnitt einem Anteil am österreichischen BIP zwischen 0,06 % und 0,24 %. Auf ähnlich hohe Belastungen kämen die Slowakei, die Niederlande und Irland; deutlich höher wären sie in Finnland gewesen, deutlich niedriger in Belgien, Deutschland und Italien. Die interessante und gut lesbare Studie veranschaulicht damit den Preis einer Maßnahme, die Konjunkturunterschiede im Euroraum dämpfen und dadurch die Wirkung der EZB-Geldpolitik verbessern könnte.570