Holoubek/Lienbacher (Hrsg)GRC – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Kommentar

Manz Verlag, Wien 2014, XXIV, 806 Seiten, Leinen, € 178,–

ELIASFELTEN (SALZBURG)

Kommentare zur Europäischen Grundrechtecharta (EGRC) gibt es bereits einige. Die bisher erschienenen Werke untersuchen diese Rechtsquelle jedoch durchwegs mit der deutschen Brille. Ein Kommentar, der die EGRC aus österreichischer Sicht beleuchtet, fehlte bis dato. Diese Lücke haben Holoubek/Lienbacher als Herausgeber zu schließen versucht. Das zeigt sich daran, dass jede Kommentierung auch auf die „Implikationen für Österreich“ eingeht. An dieser Stelle kann bereits vorausgeschickt werden, dass ihnen dieses Unterfangen gelungen ist.

Der GRC-Kommentar präsentiert sich als „klassischer“ Kommentar. Dh, dass jeder Artikel der EGRC zuerst im Volltext wiedergegeben und dann von einem/einer AutorIn oder einem Team von AutorInnen kommentiert wird. Der eigentlichen Kommentierung ist freilich jeweils noch ein eigener Punkt zur „Entstehungsgeschichte“ des betreffenden Artikels sowie zu den „inkorporierten Rechtsquellen“ vorgeschalten. Damit wird der komplizierten Entwicklungsgeschichte der Charta Rechnung getragen. Nicht nur, dass diese politisch hoch umstritten und Gegenstand unzähliger Debatten war. Sie ist auch in ein Gewirr unterschiedlicher Grundrechtsgarantien auf europäischer Ebene eingebettet. Daraus ergeben sich Wechselwirkungen, insb mit der EMRK und den ungeschriebenen Grundrechten der Union. Wie sich diese unterschiedlichen Grundrechtsquellen gegenseitig beeinflussen und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, ist allerdings noch weitgehend ungeklärt. Insofern überzeugt es, dass diesen Fragen jeweils ein eigener Gliederungspunkt gewidmet wird.

Das wird zB im Rahmen der Kommentierung des Art 28 EGRC deutlich. Art 28 EGRC garantiert den AN und AG sowie ihren Organisationen ein Recht auf Abschluss von Tarifverträgen sowie ein Recht auf Durchführung kollektiver Maßnahmen, einschließlich Streiks. Zwar hatte der EuGH bereits vor Inkrafttreten der EGRC judiziert, dass das Streikrecht als ein Grundrecht der EU zu qualifizieren sei (EuGH 11.12.2007, C-438/05, Viking und EuGH 18.12.2007, C-341/05, Laval). Ein Grundrecht auf Durchführung von Tarifverhandlungen und Abschluss von Tarifverträgen suchte man freilich zuvor vergebens. Das gilt grundsätzlich auch für die EMRK. Dem Wortlaut der EMRK ist weder ein Recht auf Streik, noch ein Recht auf Tarifvertragsverhandlungen zu entnehmen. Dennoch ist beides von Art 11 EMRK umfasst. Das hat der EGMR durch seine Rsp klargestellt. Darauf weist Köchle im Rahmen ihrer Kommentierung des Art 28 EGRC bei den „inkorporierten Rechtsquellen“ zu Recht hin (Art 28 Rz 10). Ihr ist daher auch vollinhaltlich zuzustimmen, dass zwischen Art 11 EMRK und Art 28 EGRC „ein enger Zusammenhang“ besteht. Das ist deshalb eine wichtige Klarstellung, da sich daraus Rückschlüsse zur Auslegung des Art 28 EGRC ziehen lassen; welche konkret, lässt Köchle allerdings im Vagen.

Dennoch ist Köchle in Bezug auf Art 27 und 28 – die aus arbeitsrechtlicher Sicht von besonderem Interesse sind – eine durchwegs überzeugende Kommentierung gelungen. So ist ihr bspw darin zuzustimmen, dass Art 27 EGRC lediglich eine Verpflichtung zur Information und Anhörung der AN im Betrieb statuiert (Art 27 Rz 14). Ein Recht auf Mitbestimmung, vergleichbar mit jenen des ArbVG, sieht die EGRC nicht vor. Dh, dass die Garantien des ArbVG grundsätzlich über die Vorgaben des Art 27 EGRC hinausgehen. Folglich könnte man daraus den Schluss ziehen, dass sich aus dieser Bestimmung keinerlei Implikationen für Österreich ergeben. Allerdings weist Köchle zu Recht darauf hin, dass Art 27 EGRC auch ein Recht des einzelnen AN auf Anhörung begründet, insb dann, wenn es keine entsprechende AN-Vertretung im Betrieb geben sollte (Art 27 Rz 16).

Das ist deshalb von Relevanz, da Informationsrechte des einzelnen AN der österreichischen Arbeitsrechtsordnung weitgehend fremd sind und eine Vielzahl österreichischer Betriebe auf Grund ihrer geringen Mitarbeiterzahl nicht dem ArbVG unterliegen. Vor diesem Hintergrund überrascht es also, dass Köchle diesbezüglich keinerlei Implikationen für Österreich ortet. Das ist aber primär einem formalen Argument geschuldet. Ihrer Ansicht nach sind nämlich die Garantieren des Art 27 EGRC zu unbestimmt, als dass sie als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte einer Überprüfung durch den VfGH zugänglich wären (Art 27 Rz 36). Als Begründung führt sie an, dass Art 27 EGRC unter dem Vorbehalt der Ausgestaltung durch das Unionsrecht und die einzelstaatlichen Gepflogenheiten steht. In diesem Zusammenhang kann sie sich auf gewichtige Stimmen in der Lehre berufen. Wirklich zwingend ist diese Sichtweise dennoch nicht. Zum einen kennt auch die österreichische Verfassungsordnung Grundrechte, die einer Ausgestaltung durch einfaches Gesetz zugänglich sind (vgl bloß Art 12 StGG). Zum anderen wird man trotz des Ausgestaltungsvorbehalts des Art 27 EGRC von der Existenz eines zwingenden Grundrechtskerns ausgehen müssen. Das ergibt sich schon allein daraus, dass – wie Köchle selbst festhält – Art 27 EGRC als „Ausdruck gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen“ gesehen werden kann (Art 27 Rz 11). Die Annahme eines zwingenden Grundrechtskerns ergibt sich also in erster Linie aus der Wechselwirkung mit anderen europäischen Grundrechtsquellen; nichts anderes gilt im Übrigen – auf Grund des engen Zusammenhangs mit Art 11 EMRK – für Art 28 EGRC.

In diesem Zusammenhang weist Köchle auch zu Recht darauf hin, dass Art 28 EGRC die Richtigkeit der bisher vorherrschenden „Trennungstheorie“ in Frage stellt (Art 28 Rz 58). Die ausdrückliche Gewährung eines Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen impliziert, dass die Teilnahme an einer solchen nicht zur vorzeitigen Auflösung des Arbeitsvertrages berechtigen kann. In Bezug auf das Recht, Tarifverträge auszuverhandeln und abzuschließen, ortet sie hingegen keine Implikationen für Österreich, da das sehr differenziert ausgestaltete Kollektivvertragssystem den Ausgestaltungs- und Gewährleistungspflichten der EGRC bereits hinreichend Rechnung trage (Art 28 Rz 57). In dieser Allgemeinheit erscheint dies allerdings zweifelhaft. Wie Köchle nämlich selbst festhält, ist der Begriff des „Tarifvertrags“ in Art 28 EGRC europäisch zu verstehen (Art 28 Rz 27). Er ist also nicht mit dem Begriff des KollV iSd § 2 ArbVG gleichzusetzen. Aus der Zurverfügungstellung eines ausdifferenzierten Kollektivvertragssystems 571kann also nicht automatisch geschlossen werden, dass die österreichische Rechtsordnung den Vorgaben des Art 28 EGRC vollinhaltlich entspricht.

Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass dem GRC-Kommentar ein überzeugendes Gesamtkonzept zu Grunde liegt. Die Kommentierungen sind materialreich und bleiben nicht bloß auf einer abstrakten Metaebene stehen, sondern gehen in die Tiefe und stellen durchwegs Bezüge zu konkreten Problemstellungen her. Lediglich die Implikationen für Österreich sind mancherorts kursorisch und bleiben an der Oberfläche. Das vermag jedoch den positiven Gesamteindruck dieses Werkes in keiner Weise zu beeinträchtigen. Den Herausgebern und AutorInnen ist es gelungen, eine wichtige Lücke in der österreichischen Kommentarliteratur zu schließen.