Das Recht der Prävention und Gesundheitsförderung in der österreichischen Sozialversicherung

HELMUTIVANSITS (WIEN)
Zunehmend gewinnt die Einsicht an Boden, dass Sozialsysteme nicht nur Leistungen bei Eintritt von sozialen Risiken wie Krankheit und Invalidität erbringen, sondern auch die Aufgabe übernehmen müssen, diesen „Versicherungsfällen“ vorzubeugen. Anstatt die Erhaltung der Gesundheit in den Mittelpunkt zu stellen, orientiert sich die Gesundheitspolitik vor allen Dingen am Paradigma einer auf Behandlung von Krankheiten ausgerichteten kurativen Medizin („Reparaturmedizin“), obwohl Ausgaben für Prävention und Gesundheitsförderung weithin als Zukunftsinvestitionen anerkannt sind, die zu höherer Lebensqualität und längerem Arbeitsvermögen führen und sich betriebs- und volkswirtschaftlich (mit Einsparungen im Gesundheits- und Invaliditätsbereich) rechnen. Der ökonomische Nutzen von betrieblicher Gesundheitsförderung ist gut dokumentiert:*) Internationale Studien weisen einen Return of Investment zwischen 1 : 3 und 1 : 6 aus.*)
  1. Einleitung

  2. Der Bericht des Rechnungshofes zum „System der Gesundheitsvorsorge“ und der Untersuchungsgegenstand des Aufsatzes

  3. Gesundheitswissenschaftlicher Hintergrund: Prävention oder Gesundheitsförderung?

  4. Organisation von Prävention und Gesundheitsförderung: Das Problem multipler Zuständigkeiten und das Transparenzmanko

  5. Rechtsgrundlagen der Finanzierung von Prävention und Gesundheitsförderung

  6. Aufgabenkatalog und Leistungen der KV im Bereich der Gesundheitsvorsorge

  7. Pflichtleistungen – freiwillige Leistungen

  8. „Versicherungsfall der Gesundheitsvorsorge“?

  9. Die einzelnen Tatbestände der Gesundheitsvorsorge in der KV

    1. Evidenzbasierte Früherkennung von und Frühintervention bei Krankheiten (§§ 132a, 132b ASVG)

    2. Sonstige Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit (§ 132c ASVG)

    3. Prävention und Gesundheitsförderung (§ 154b)

      1. Zur rechtlichen Abgrenzung von Prävention und Gesundheitsförderung

      2. Zur Auslegung von § 154b ASVG

    4. Maßnahmen zur Festigung der Gesundheit (§ 155 ASVG)

    5. Krankheitsverhütung (§ 156 ASVG)

  10. Vorschläge zur Förderung von Prävention und Gesundheitsförderung

1.
Einleitung

Die WIFO-Studie über die Kosten arbeitsbedingter körperlicher Erkrankungen (2008) errechnet ein beträchtliches Einsparungspotenzial durch Prävention. Eine weitere Studie (WIFO/Universität Krems [2009]) weist zudem Kosten für arbeitsbedingte psychische Erkrankungen im Umfang von rund 3,3 Mrd € jährlich aus. In Österreich entfallen rund 9,3 % des BIP auf das Gesundheitssystem (ohne Langzeitpflege), davon sind 8,1 % öffentliche Gesundheitsausgaben. Der Vergleich mit anderen Staaten ergibt, dass wesentliche Gesundheitsindikatoren (darunter die Zahl der Lebensjahre, die beschwerdefrei verbracht werden) unter dem internationalen Durchschnitt liegen.* Letzteres dürfte auch daran liegen, dass lediglich 1,9 % der 500öffentlichen Gesundheitsausgaben auf Vorbeugung entfallen (EU-27: 2,9 %).

2.
Der Bericht des Rechnungshofes zum „System der Gesundheitsvorsorge“ und der Untersuchungsgegenstand des Aufsatzes

In seinem im November 2014 erschienenen Berichtes zum „System der Gesundheitsvorsorge“ hat sich der Rechnungshof (RH) kritisch mit diesem Bereich des österreichischen Gesundheitswesens befasst. Der RH beanstandet vor allem das Fehlen bundesweiter Übersichten darüber, welche Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention von Bund, Ländern und SV gesetzt wurden. Bemängelt wird auch, dass den rund 461 Mio €, die im Jahr 2014 für Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge ausgegeben wurden, keine umfassende systematische Planung, Erfassung und Evaluierung zugrunde liegt.

Für diesen Aufsatz bedeutsam sind aber eher die kritischen Anmerkungen des RH zur höchst unterschiedlichen und verwirrenden Begrifflichkeit von „Gesundheitsvorsorge“ in der österreichischen Rechtsordnung respektive im Gesundheitsqualitätsgesetz, im Gesundheitsförderungsgesetz und vor allem in der SV, wo von Krankheitsverhütung, Prävention und Gesundheitsförderung die Rede ist, aber eine gemeinsame Klammer fehlt. Juristisch gesehen handelt es sich um Rechtsbegriffe, als solche müssen sie iSd Legalitätsprinzips für Zwecke der Rechtsanwendung implementiert und von einander abgrenzbar sein, wenn sie nicht dasselbe aussagen sollen.

Im Folgenden wird zunächst auf die beiden im gesundheitswissenschaftlichen Diskurs relevantesten vorsorgepolitischen Grundausrichtungen – Prävention und Gesundheitsförderung – eingegangen. Sie sind nicht nur Gegenstand eines sehr grundlegenden Richtungsstreits in der Gesundheitsvorsorge, sie finden sich auch als Rechtsbegriffe im ASVG und in den anderen Sozialversicherungsgesetzen wieder. Es liegt auf der Hand, dass die einschlägige, wissenschaftlich als „state of the art“ anerkannte Terminologie auch für die juristische Auslegung der beiden Rechtsbegriffe maßgebend ist. Im Anschluss daran werden die einzelnen gesetzlichen Bestimmungen zur Gesundheitsvorsorge in der SV – aus Platzgründen mit dem Fokus auf die gesetzliche KV – in ihrer rechtlichen Dimension untersucht.

3.
Gesundheitswissenschaftlicher Hintergrund: Prävention oder Gesundheitsförderung?

Im Diskurs über den „richtigen Weg“ in der Prävention haben sich zwei in ihren Zielsetzungen unterschiedliche präventionspolitische Richtungen bzw ätiologische Sichtweisen herausgebildet: Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung.

Die „klassische“ Prävention entwickelte sich aus der Sozialmedizin des 19. Jahrhunderts (Hygiene, Kampf den Infektionskrankheiten). Der Begriff der Gesundheitsförderung dagegen ist deutlich jünger und umfassender zu verstehen; er hat sich in der Community erst nach der in der WHO-Konferenz in Ottawa beschlossenen Charta (1986) etabliert.

Prävention zielt darauf ab, Risikofaktoren (Schadstoffe, psychische Überlastung etc), die nach jeweiligem Wissensstand mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Erkrankung (zB Berufskrankheit) verursachen, zu beseitigen. Es handelt sich um einen vorwiegend auf das biomedizinische Modell von Krankheit beruhenden pathogenetischen Ansatz, der zwar zu großen Erfolgen in der Prävention von Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen im AN-Schutz und in der UV geführt hat, aber zur Erklärung der Entstehung von Krankheiten und deren Vorbeugung unzweifelhaft zu kurz greift. Während also Prävention auf die Beseitigung oder Senkung von unmittelbaren Risikofaktoren für bestimmte Erkrankungen („morbiditätsorientiert“) ausgerichtet ist, ist die Gesundheitsförderung als breiterer Ansatz bemüht, Gesundheit durch Stärkung von (auch persönlichen) Schutzfaktoren gegen Krankheiten zu erhalten (gesundheitsorientierte Promotionsstrategie).* Ihr geht es darum, in möglichst allen Lebenswelten (Arbeit, Familie, Schule, Wohnumgebung) auf partizipativem Weg gesundheitsförderliche Bedingungen zu schaffen, um Menschen vor dem gesundheitsschädlichen Einfluss von sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Verhältnissen, aber auch (eigenen) Verhaltensweisen auf die Gesundheit zu bewahren.*

Die beiden Ansätze ergänzen einander, zumal Maßnahmen der Gesundheitsförderung (vor allem Maßnahmen zur Erhebung von Gesundheitsrisiken beispielweise in Gesundheitszirkeln) oft erst die Voraussetzungen für eine krankheitsspezifische Prävention schaffen. Wenn man jedoch das enge Risikofaktorenmodell der Prävention um Gesundheitsdeterminanten mit einer weniger wahrscheinlichen Zukunftsprognose bis hin zur Frage nach der gesellschaftlichen Verursachung von Krankheit erweitert, ergibt sich eine weitgehende Konvergenz der beiden Ansätze. Beide Grundansätze sind theoretisch und praktisch weiterentwickelt worden: Das rein biomedizinische Konzept der Risikofaktoren wurde durch Modelle multifaktori-501eller Determinierung von Gesundheit ergänzt,* im Bereich der Gesundheitsförderung erweist sich die „Salutogenese“ als eine besonders einflussreiche Strömung.*

Beide Ansätze müssen sich letzten Endes an ihren Erfolgen zur Verringerung der Morbidität messen lassen. Der Umstand, dass das Leitziel sowohl der Krankheitsprävention als auch der Gesundheitsförderung die Vorbeugung ist, hat in der Präventionsforschung zunehmend zur Auffassung geführt,* diese beiden Ansätze durch Oberbegriffe wie „Krankheitsverhütung“ oder eben „Gesundheitsvorsorge“ zu ersetzen.*

Hauptziel jeder Prävention ist es, das Auftreten von Krankheiten oder den ersten Symptomen abzuwenden (Primärprävention). Die Sekundärprävention dient der Früherkennung von Krankheiten (zB bei hohen Blutfetten). Tertiärprävention setzt erst nach der Krankheit ein und soll die Verschlimmerung der Folgen oder Folgeerkrankungen verhindern (zB Frührehabilitation bei Herzinfarkten). Da gesundheitsschädliches Verhalten (ua falsche Ernährung, Alkoholabusus) nachweislich Folge gesundheitsschädlicher Verhältnisse ist, sollte die Verhältnisprävention schon deshalb Vorrang vor der Verhaltensprävention haben, weil nicht jeder über „persönliche Ressourcen“ (Gesundheitskompetenz) verfügt, die ein eigenverantwortliches gesundheitsförderliches Verhalten ermöglichen.

4.
Organisation von Prävention und Gesundheitsförderung: Das Problem multipler Zuständigkeiten und das Transparenzmanko

Derzeit sind die öffentlichen Präventionskompetenzen auf Gebietskörperschaften, die SV (hier: Krankenkassen, Unfallversicherungs- und Pensionsversicherungsträger) auf den „Fonds Gesundes Österreich“ aufgeteilt. Seit einiger Zeit bietet auch Fit2Work Beratungen im Bereich des Betrieblichen Eingliederungsmanagements an. Dazu kommt, dass sich Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung auf viele Politikfelder (dh auf „Lebenswelten“ wie den Arbeitsplatz, die Schule und den Kindergarten) erstrecken; daher sind auch verschiedene Behörden („Präventionsträger“: Sozialversicherungsträger, Ministerien, Landesregierungen) zuständig. Welche Aufgaben die einzelnen Präventionsträger haben, ist nicht immer bekannt, was wohl mit ein Grund für die geringe Verbreitung von betrieblicher Gesundheitsförderung ist. Tatsache ist auch, dass diese innerhalb der Sozialversicherungsträger mit sehr unterschiedlicher Intensität stattfindet. Die organisatorische Zersplitterung bringt auch eine Vielzahl von Rechtsquellen unterschiedlicher Provenienz hervor.*

Leider fehlen klare Vorstellungen über die zukünftige Organisation von Prävention und Gesundheitsförderung (Präventionskonzept). Um eine breite Wirksamkeit zu erlangen, müssten Maßnahmen für die Präventionsträger gesetzlich verpflichtend („Präventionsgesetz“) und finanziell abgesichert werden. In diesem Sinne wurden im Jahr 2012 von der Bundesgesundheitskommission Rahmengesundheitsziele beschlossen, deren Implementierung derzeit im Gange ist und mit etwas Optimismus in eine umfassende Health in all Policies-Strategie münden werden.

5.
Rechtsgrundlagen der Finanzierung von Prävention und Gesundheitsförderung

Die Finanzierung erfolgt je nach Zuständigkeit entweder aus Steuern oder aus den Beitragseinnahmen in der SV. Kassen mit Gebarungsproblemen haben daher bisher weitgehend auf Prävention verzichtet. Wichtigste Einrichtung zur Förderung von betrieblicher Gesundheitsförderung ist der mit rund 7 Mio € dotierte Fonds Gesundes Österreich. Für den Fonds für Vorsorge-(Gesunden-)Untersuchungen und Gesundheitsförderung (§ 447h ASVG) besteht eine Sonderfinanzierung für Vorsorgeuntersuchungen sowie für Prävention und Gesundheitsförderung aus Mitteln der Tabaksteuer (§ 447a Abs 11 ASVG) vor (2015: rund 4 Mio €). Zudem wurden im Rahmen der Gesundheitsreform 2013 für jedes Land „Gesundheitsförderungsfonds nach § 19 des Gesundheitszielsteuerungsgesetzes – G-ZG“ (§ 447g ASVG) für 2013 bis 2022 eingerichtet, an denen sich die Gesundheitspartner (SV und Länder) auf der Grundlage einer gemeinsamen „Gesundheitsförderungsstrategie“ nach festen Anteilen finanziell zu beteiligen haben. Welcher Anteil dabei auf betriebliche Gesundheitsförderung entfällt, ist noch offen.* Die Mittel werden auf die Kassen nach einem Versichertenschlüssel aufgeteilt.* Hoffnung auf mehr Geld in der Gesundheitsvorsorge ergibt sich auch aus dem letzten Regierungsübereinkommen (2013), wonach ab 2016 auf betrieblicher Ebene Teile der Erträge aus dem einzurichtenden Bonus-Malus-System bei Unterbeschäftigung älterer Personen in Betrieben für Zwecke der betrieblichen Gesundheitsförderung zu widmen sind. Zu beachten ist jedoch, dass der Fonds Gesundes Österreich im Jahr 2014 502erhebliche Rücklagen auswies, weil die Nachfrage der Betriebe nach betrieblicher Gesundheitsförderung gering war. In Deutschland gibt das Sozialgesetzbuch (SGB) V einen Orientierungswert für die Krankenkassen vor, wieviel pro Jahr und Versicherten ausgegeben werden muss.

6.
Aufgabenkatalog und Leistungen der KV im Bereich der Gesundheitsvorsorge

Nach § 116 ASVG trifft die KV Vorsorge für die Erfüllung folgender Aufgaben der Gesundheitsvorsorge:

  • die evidenzbasierte Früherkennung von und die Frühintervention bei Krankheiten sowie die Erhaltung der Volksgesundheit (Abs 1 Z 1),

  • vorbeugende zahnmedizinische Leistungen (Abs 1 Z 3),

  • eine zielgerichtete, wirkungsorientierte Gesundheitsförderung (Salutogenese) und Prävention (Abs 1 Z 5).

Überdies können aus Mitteln der KV Maßnahmen

  • zur Festigung der Gesundheit (Abs 2 Z 1) und

  • zur Krankheitsverhütung (Abs 2 Z 2)

gewährt werden.

Die Konkretisierung dieser Aufgaben erfolgt in mehreren Leistungsbestimmungen:

Die im Aufgabenkatalog der KV genannten Leistungen sind nur zum Teil primärpräventive Maßnahmen (Gesundheitsförderung und Prävention, humangenetische Vorsorgeuntersuchungen, diverse Impfungen und die Unterbringung in Kuranstalten zur Verhinderung einer unmittelbar drohenden Krankheit). Jugendlichen- und Vorsorgeuntersuchungen dienen der Sekundärprävention; durch sie können Krankheiten früh erkannt verhindert werden. Die übrigen Leistungen sind tertiärpräventiv ausgerichtet.

Die Durchsicht der primärpräventiven Maßnahmen im Bereich der KV zeigt eine klare Präferenz für den Individualansatz. Präventionsangebote richten sich demnach in erster Linie an den einzelnen Versicherten, der Setting-Ansatz bezieht sich dem gegenüber auf Lebenswelten (ua Arbeitswelt, Schule). Genau genommen sind mit einer Ausnahme alle gesetzlichen Maßnahmen individualorientiert. Die Ausnahme betrifft § 154b ASVG (Gesundheitsförderung und Prävention), wo über Aufklärung und Beratung von Versicherten und Angehörigen die Bereitschaft zur Teilnahme an Maßnahmen der Verhältnisprävention erhöht werden soll.

Nach § 172 Abs 1 ASVG trifft die UV Vorsorge für die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten inklusive Forschung nach den wirksamsten Methoden und Mitteln und Erfüllung dieser Aufgaben sowie die arbeitsmedizinische Betreuung der Versicherten, soweit sie der UV übertragen wurde, ua auch die Kostentragung von Präventivdiensten (§ 73 ff ASchG). § 185 ASVG verpflichtet die Unfallversicherungsträger zur Unfallverhütung. § 186 ASVG enthält eine demonstrative Aufzählung von einschlägigen Maßnahmen der Unfallverhütung (Werbung, Beratung, Forschung, vorbeugende Betreuung der von Berufskrankheiten bedrohten Versicherten, Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen). Die §§ 187 bzw 188a ASVG sehen einen Unfallverhütungsdienst und vorbeugende Maßnahmen der Unfallversicherungsträger gegen Berufskrankheiten vor. Psychische Erkrankungen sind nicht als Berufskrankheiten anerkannt.

Nach § 307d ASVG können die Träger der PV unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts, der finanziellen Leistungsfähigkeit und der Auslastung der verfügbaren Einrichtungen Versicherten (bei Tuberkulose auch Angehörigen) tertiärpräventive Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge gewähren. Darunter fallen auch die vorbeugende Unterbringung in einem Erholungsheim und Aufenthalte in Kurorten und Kuranstalten.

7.
Pflichtleistungen – freiwillige Leistungen

In der PV sind sämtliche Leistungen aus den gesetzlichen Versicherungsfällen Pflichtleistungen. Die außerhalb von Versicherungsfällen stehenden Rehabilitationsleistungen nach § 301 ASVG (Ausnahme: medizinische Rehabilitation nach § 253f ASVG iVm § 367 Abs 1 ASVG) und der Gesundheitsvorsorge (§ 307d ASVG) sind lediglich Pflichtaufgaben der PV.

In der KV sieht das ASVG mehrere Leistungsarten der Gesundheitsvorsorge vor, die keinem Versicherungsfall zugeordnet sind. Sie sind entweder gesetzliche Pflichtleistungen (Früherkennung von Krankheiten, vorbeugende Zahnbehandlung), Pflichtaufgaben wie die sogenannten sonstigen Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit (§ 132c ASVG) und Leistungen der Prävention/Gesundheitsförderung (§ 154b ASVG) oder freiwillige Ermessensleistungen wie die Maßnahmen zur Festigung der Gesundheit oder der Krankheitsverhütung.

Auf freiwillige Leistungen besteht kein Rechtsanspruch, sie stehen vielmehr im Ermessen der zuständigen Krankenkasse, die die Leistung erbringen kann, aber nicht muss. Dieses Handlungsermessen muss stets iSd Gesetzes ausgeübt werden. Liegt ein Ermessensfehler vor, hat die Partei ein subjektives öffentliches Recht auf Rechtskontrolle durch den VwGH bzw im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz („Willkürverbot“) durch den VfGH. Pflichtaufgaben (zB berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nach § 303 Abs 1 ASVG) sind ihrer Rechtsnatur nach ebenfalls freiwillige Leistungen, die im Gesetz durch die Anordnung eines Sollens – allerdings ohne Rechtsanspruch und damit auch ohne Möglichkeit gerichtlicher Rechtsdurch-503setzung– in ihrer rechtspolitischen Bedeutung ausdrücklich aufgewertet wurden.

8.
„Versicherungsfall der Gesundheitsvorsorge“?

SV bedeutet kollektive Vorsorge gegen die finanziellen Folgen sozialer Lebensrisiken. Im Rahmen des Versicherungsverhältnisses werden Beiträge entrichtet, nach Eintritt des Risikos (versicherungstechnisch: Versicherungsfalles) aus dem Leistungsverhältnis Leistungen erbracht. Der Versicherungsfall wird von der Lehre als sinngebende und insofern primäre Anspruchsvoraussetzung bezeichnet, deren Eintritt – bei Erfüllung der übrigen Leistungsvoraussetzungen – den Anspruch auf Leistungen auslöst oder bei freiwilligen Leistungen dem zuständigen Versicherungsträger die Erbringung solcher Leistungen ermöglicht. Es spielt dabei keine Rolle, ob es sich ihrer Rechtsnatur nach um Pflicht- oder freiwillige Leistungen handelt; das ist eine Frage der rechtlichen Qualifizierung in Gesetz oder Satzung, hat aber mit dem Versicherungsfall nichts zu tun.

Die Versicherungsfälle sind in den einzelnen Versicherungszweigen des ASVG explizit geregelt. In ihrem Bemühen um die Systematisierung der Sozialversicherungsleistungen hat die Lehre über die gesetzlichen Versicherungsfälle hinaus den Versuch unternommen, virtuelle Versicherungsfälle zu generieren, um Leistungen mit einem ähnlichen Leistungszweck zu einem gemeinsamen „sozialen Risiko“ zusammenzufassen. So wurde beispielsweise in einschlägigen Lehrbüchern aus Krankenbehandlung und vorbeugender Zahnuntersuchung der hybride „Versicherungsfall (bleibender) Gesundheitsstörung“* und aus den diversen Leistungen der Gesundheitsvorsorge ein eigener „Versicherungsfall der Gesundheitsbedrohung“ abgeleitet.

ME spricht nichts dagegen, alle primärpräventiven Leistungen gemeinsam unter den „Versicherungsfall der Gesundheitsbedrohung“ oder besser unter einen „Versicherungsfall der „Gesundheitsvorsorge“ zu subsumieren. Im Unterschied zu den im Gesetz vorgesehenen Versicherungsfällen würden die Leistungen der KV aus diesem Versicherungsfall nicht der finanziellen Abdeckung von eingetretenen Gesundheitsschäden, sondern deren Vorbeugung dienen. Warum dieses Anliegen bisher nicht auch im Gesetz seinen Niederschlag gefunden hat, dürfte zum einen auf eine doch erhebliche Heterogenität der Leistungsarten (nicht alle unter Pkt 6 genannten Maßnahmen „verhüten“ Krankheiten, einige davon setzen bereits Krankheit voraus und sind in ihrer Wirkung sekundärpräventiv), zum anderen aber offenbar auf einen weder rechtspolitisch noch legistisch für vordringlich gehaltenen Systemanspruch des Gesetzgebers zurückzuführen sein. Ein „Versicherungsfall der Gesundheitsvorsorge“ könnte daher sicherlich einen Beitrag zur Wiederherstellung einer geschlossenen Leistungssystematik in der KV leisten. Letztlich ist der Lehre darin zuzustimmen, dass der Gesetzgeber längst auf das Fehlen eines Versicherungsfalles im Bereich von Prävention und Gesundheitsförderung reagieren hätte können.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob und welche rechtliche Konsequenzen oder gar Nachteile damit verbunden sind, wenn Leistungen der KV keinem gesetzlichen Versicherungsfall zugeordnet sind (wie in der AlV, die überhaupt kein solches Ordnungsprinzip kennt). Der Unterschied besteht darin, dass bei Bündelung von Leistungen in einem Versicherungsfall nicht nur das zu schützende soziale Risiko hervorgehoben werden kann, sondern auch gemeinsame Leistungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen daran geknüpft werden können. So macht beispielsweise § 122 ASVG die Anspruchsberechtigung in der KV vom Eintritt des Versicherungsfalles abhängig; auch die für die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der KV wesentlichen Behandlungsgrundsätze des § 133 Abs 2 ASVG beziehen sich nur auf Leistungen der Krankenbehandlung.

9.
Die einzelnen Tatbestände der Gesundheitsvorsorge in der KV
9.1.
Evidenzbasierte Früherkennung von und Frühintervention bei Krankheiten (§§ 132a, 132b ASVG)

Jugendlichen- und Vorsorge-(Gesunden-)Untersuchungen werden hier nicht näher untersucht. Beide Leistungen sind unter bestimmten Voraussetzungen Pflichtleistungen. Sie setzen demnach bereits eine Frühsymptomatik einer Krankheit voraus, verhindern aber bei entsprechender Behandlung den Ausbruch der Krankheit.*

9.2.
Sonstige Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit (§ 132c ASVG)

Die sonstigen Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit (§ 132c ASVG) verfolgen zwei Ziele: Zum einen sollen genetische Dispositionen für bestimmte Erkrankungen (mit Hilfe von humangenetischen Vorsorgemaßnahmen, also insb Familienberatung, pränatale Diagnose und zytogenetische Untersuchungen) festgestellt werden, zum anderen stellen die Kassen die notwendigen Impfungen gegen die Frühsommermeningoenzephalitis (FSME) und bei der Ausrufung einer Epidemie durch die WHO gegen Influenza bereit.

Es handelt sich um Pflichtaufgaben der KV, die in § 132c ASVG demonstrativ (arg „insbesondere“) aufgezählt sind (bezogen auf humangenetische Vorsorgemaßnahmen in § 132c Abs 1 Z 1 ASVG sogar doppelt). Bezüglich der sogenannten sonstigen vordringlichen Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit in der Z 3 haben die Kassen erhebliche Spielräume erhalten. § 132c ASVG 504wurde am 1.1.1981 mit der 35. ASVG-Novelle wirksam; die Bestimmung sah schon damals vor, dass für die Anerkennung der sonstigen Maßnahmen als Pflichtaufgabe eine ministerielle VO erlassen werden musste. Auch die Verordnungsermächtigung des BM für Gesundheit im geltenden § 132c Abs 2 zielt darauf ab, die „sonstigen vordringlichen Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit“ zu konkretisieren bzw deren Ziele und den Adressatenkreis (mit hohem Risikopotential) festzulegen, wobei für Grippeimpfungen eine solche Einschränkung des Personenkreises nicht möglich ist. Das bedeutet, dass die im Gesetz aufgezählten Maßnahmen erst durch die VO rechtswirksam werden können. Dass diese Maßnahmen – originär Pflichtaufgaben – nach Einbeziehung in die VO als Pflichtleistung einklagbar sein sollen, erscheint wenig schlüssig, zumal die VO ihrer Funktion nach lediglich zur Konkretisierung des Umfanges der Pflichtaufgaben dient und schon die VO des ursprünglichen § 132c ASVG nicht diese spezifische Rechtswirkung erzeugen wollte.*

Die Durchführung der Maßnahmen (humangenetische Vorsorgeuntersuchungen und Influenzaimpfungen) ist kraft Gesetzes den Krankenkassen übertragen, die sie durch eigene Einrichtungen oder Vertragspartner erbringen,* die übrigen Leistungen sind vom BM für Gesundheit nach Anhörung des Hauptverbandes den Kassen explizit zuzuweisen. In diesen Fällen leisten die Kassen (siehe Satzungen) nur einen Kostenzuschuss.

Einschränkungen des Personenkreises sind nur für die Grippeimpfung unzulässig. Die Grippeimpfung nach § 132c Abs 3 ASVG gilt als Krankenbehandlung und „ist Inhalt der Gesamtverträge (§ 342 Abs 3 ASVG)“. Da in § 343a ASVG ohnehin für sämtliche Maßnahmen nach den §§ 132a bis 132c ASVG eine gesamtvertragliche Vereinbarung vorgesehen ist, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Regelung. Konsistent wäre es, die Grippeimpfung jedenfalls, dh auch ohne Regelung durch die Vertragsparteien, unmittelbar als einen Teil des Gesamtvertrages anzusehen, der von VertragsärztInnen als Kassenleistung erbracht werden muss. Disponibel wäre somit nur mehr die Höhe der Vergütung der Leistung.

9.3.
Prävention und Gesundheitsförderung (§ 154b)
9.3.1.
Zur rechtlichen Abgrenzung von Prävention und Gesundheitsförderung

Die in den Sozialversicherungsgesetzen verwendeten Begriffe Prävention und Gesundheitsförderung (§ 154b ASVG), aber auch Krankheitsverhütung und Festigung der Gesundheit, sind einander im allgemeinen Sprachgebrauch ähnlich. Alle haben mit Vermeidung und Verminderung von Krankheit zu tun. Da nicht unterstellt werden kann, dass der Gesetzgeber für ein und denselben Tatbestand verschiedene Begriffe verwenden wollte und die Unterscheidungen bewusst getroffen hat, sind klare begriffliche Abgrenzungen für die Praxis unverzichtbar. Außerdem wurde mit den in den EB zum Gesundheitszielsteuerungsgesetz (G-ZG) zum Teil nicht näher erläuternden Ausdrücken wie „zielgerecht“, „wirkungsorientiert“ und „evidenzbasiert“, die allesamt verlangen, dass sich die Kassen am Effektivitätsgrundsatz orientieren, sowie durch die prominente Anführung eines spezifischen präventionstheoretischen Ansatzes („Salutogenese“) im G-ZG die Sache für die Rechtsanwendung insgesamt nicht einfacher.

Die mit der 50. ASVG-Novelle (1991) eingeführte „Gesundheitsförderung“ soll laut den EB zur Novelle gesundheitsriskante Faktoren im Leben und in der Arbeitswelt vermindern helfen. Dadurch soll die Rolle der Krankenkassen „im Bereich der Prävention verstärkt werden“. Diese Anmerkung macht deutlich, dass Gesundheitsförderung damals materiell iSd Prävention nach heutigem Verständnis begriffen wurde. Erst durch die Gesundheitsreform 2013 hat auch der Begriff der Prävention Eingang in die §§ 116 Abs 1 Z 5 und § 154b ASVG gefunden. Im selben Gesetz wurde Gesundheitsförderung inhaltlich durch den Klammerausdruck „Salutogenese“ umgedeutet, sodass sich heute diese beiden Rechtsbegriffe mit der gesundheitswissenschaftlichen Nomenklatur decken. MaW: Die ursprüngliche Gesundheitsförderung war materiell Prävention und wurde erst später in diese Richtung korrigiert, die neue Gesundheitsförderung durch den Zusatz „Salutogenese“ zu dem, was heute in Wissenschaftskreisen darunter verstanden wird. Betrachtet man jedoch den Wortlaut des § 154b Abs 1 ASVG, wird diese an sich sinnvolle Unterscheidung durch die gemeinsame am Begriff der Gesundheitsförderung orientierte Zielbestimmung (Ermöglichung und Stärkung der Selbstbestimmung über Gesundheit) erneut relativiert.

Der Gesetzgeber hat sich jedenfalls in den EB zum G-ZG explizit weder zu dieser Abgrenzungsproblematik noch zum Ausdruck „Salutogenese“ geäußert, obwohl er wissen hätte müssen, dass er damit begriffliche Unklarheiten bis hin zu Kompetenzkonflikten innerhalb der Organisation der SV heraufbeschwören könnte. Lösbar sind diese Auslegungsprobleme letztlich nur durch den Rückgriff auf die im einschlägigen gesundheitswissenschaftlichen Diskurs gebildete Fachterminologie. Jedenfalls enthält der durch die Gesundheitsreform 2013 eingeführte § 154b ASVG, der die Überschrift „Gesundheitsförderung und Prävention“ trägt, keine Legaldefinitionen, was aber wohl darauf hinweist, dass die beiden Begriffe für Zwecke der Operationalisierung iSd („vorgefundenen“) gesundheitswissenschaftlichen Nomenklatur, letzten Endes auch bezogen auf den Begriff der Salutogenese, verwendet werden sollen. Dieser Interpretation könnte allenfalls entgegengehalten werden, dass der gesundheitswissenschaftliche Diskurs darüber noch nicht abgeschlossen ist.505

Werfen wir einen Blick auf das im Setting Betrieb etwas klarer gefasste deutsche Sozialrecht (§§ 20, 20a und 20b SGB V): Unter Betrieblicher Gesundheitsförderung firmieren dort Leistungen der Kassen mit dem Ziel, unter Beteiligung der Versicherten und der Verantwortlichen in den Betrieben die gesundheitliche Situation einschließlich Risiken und Potenziale zu erheben und Vorschläge zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation sowie der gesundheitlichen Ressourcen zu entwickeln. Diese Definition spiegelt das wissenschaftliche Verständnis von Gesundheitsförderung zumindest weitgehend wider. Eher diffus ist hingegen die Definition von „Primärprävention“ in § 20 SGB V, wo sehr allgemein von Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes die Rede ist. Auffällig ist, dass anders als in Österreich auch arbeitsbedingte Erkrankungen in die Präventionszuständigkeit der UV fallen und nicht bloß Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Die Krankenkassen haben die Unfallversicherungsträger insoweit zu unterstützen, als sie diese über Erkenntnisse, die sie im Zusammenhang zwischen arbeitsbedingten und Berufserkrankungen und Arbeitsbedingungen gewonnen haben, informieren.

9.3.2.
Zur Auslegung von § 154b ASVG

§ 116 Abs 1 Z 5 ASVG weist die „zielgerichtete, wirkungsorientierte Gesundheitsförderung (Salutogenese)“ den Krankenkassen als Pflichtaufgabe zu. Bedeutet nun nach dieser Bestimmung „Aufgabe“, dass die Krankenkassen alle nur denkbaren Leistungen im Zusammenhang mit einer effektiven Gesundheitsförderung oder nur jene Leistungen erbringen können, die in § 154b ASVG (Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogramme) umrissen sind? Da die Leistungen der KV in § 117 ASVG erschöpfend aufgezählt sind, wären weitergehende Leistungen der Kassen (zB die Finanzierung von Rücken- oder Aerobic-Kursen) wohl gesetzwidrig.

Im Mittelpunkt der Leistung der Gesundheitsförderung und Prävention in § 154b ASVG stehen zudem die Aufklärung und Beratung der Versicherten und ihrer Angehörigen über Gesundheitsgefährdungen und deren Verhütung. Die grundlegende Zielsetzung besteht darin, diesen Personen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie „zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“.* Unter Berufung auf § 116 Abs 1 Z 5 ASVG handelt es sich um eine Pflichtaufgabe in der KV.* Mit § 116 Abs 4 ASVG besteht insofern ein Zusammenhang, als Mittel der KV auch zur Erforschung von Krankheits- und Unfallursachen (Ausnahme: Arbeitsunfälle),* was ja die Voraussetzung für Aufklärungsarbeit durch Kassen ist, verwendet werden dürfen.

Was bedeutet „aufklären“, worin besteht der Unterschied zu „beraten“ und was hat der letzte Satz des § 154b Abs 1 ASVG mit der Wortfolge „dazu sind“ mit den genannten Leistungen zu tun? Unter Aufklärung dürfte wohl das Bereitstellen von Erfahrungswissen (zB von Informationen aus den Bereichen Fehlernährung oder AIDS) durch die Krankenversicherungsträger zu verstehen sein. Zum Erfahrungswissen gehört auch das Wissen um Wirkungszusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen und arbeitsbedingten Gesundheitsschäden und die Erhebung der Art und der Intensität der Gesundheitsgefährdung (beispielsweise von psychischen Belastungen, die sich aus Überforderung und Konflikten ergeben). Beratung setzt zusätzlich zur Aufklärung die Inanspruchnahme von Beratungsleistungen von Versicherten und deren Angehörigen beispielsweise hinsichtlich einer alternsgerechten Arbeitsorganisation in Betrieben voraus.

Das Gesetz sieht solche Leistungen nicht nur für Betriebe vor, sondern adressiert sie dem Wortlaut nach an Versicherte und deren Angehörige bzw an Gruppen von Anspruchsberechtigten aus allen Lebenswelten. Den Kassen wird demnach die Pflichtaufgabe auferlegt, wirksame lebensweltbezogene und Aufklärungs- oder Beratungsleistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention für eine Personenmehrheit bereit zu stellen. Wichtig ist der Hinweis des Gesetzgebers zu Beginn des letzten Satzes des § 154b Abs 1 („Dazu sind gezielt ...“), die Aufklärungs-Beratungsarbeiten der Kassen müssten über entsprechende Programme laufen. Als Gruppe von Anspruchsberechtigten iSd § 154b ASVG sind zB Belegschaften von Betrieben oder Belegschaftsteile zu verstehen, die für betriebliche Gesundheitsförderung in Frage kommen. Dem Gesetz ist jedenfalls keine individuelle Ausrichtung zu entnehmen.

Der Hinweis in § 154b Abs 1 letzter Satz, wonach diese Maßnahmen stets auf die im Gesetz genannten Zwecke (aufklären, beraten) zu beziehen sind, bedeutet daher keineswegs, dass die Erhebung von Gesundheitsgefahren (zB mittels Gesundheitszirkeln oder Fragebögen) im Unterschied zu deren Abwehr nicht zum Leistungskatalog gehören. Diese Bestimmung ist zweckmäßigerweise vielmehr so auszulegen, dass zu den aufklärenden oder beratenden „Programmen“ auch die Erhebung von Gesundheitsgefahren verstanden werden muss, weil sich sinnvollerweise erst daraus ein Maßnahmenkatalog ableiten lässt und erst so Evidenzbildung und gesundheitsförderliche Maßnahmen eine Einheit bilden können. Da § 154b ASVG auf Selbstbestimmung und Befähigung zur Stärkung der Gesundheit abzielt, indem Versicherte dahingehend aufgeklärt werden sollen, dass es in ihren Betrieben erhebliche Gesundheitsgefahren gibt, fällt unter „Aufklärung“ auch betriebliche Gesundheitsförderung.

In der Gesundheitsreform 2013 wurde – wiederum ohne nähere Erläuterungen im G-ZG 2013 – die „zielgerichtete wirkungsorientierte Gesundheitsförderung“ in § 116 Abs 1 Z 5 ASVG (nicht auch in § 154b ASVG) mit dem Klammerausdruck „Salutogenese“ versehen. Die Rechtsänderung ist als authentische Interpretation zu verstehen. Trotzdem ist unklar, ob hier der allgemeine, auf Gesunderhaltung ausgerichtete Ansatz verstanden werden soll oder die spezifische, von Antonovsky* entwickelte Methode der Salutogenese, die im Unterschied zur klassischen Gesundheitsförderung vor allem auf 506den Aufbau persönlicher Widerstandsressourcen („Resilienz“) gegen Erkrankungen fokussiert.*

Die Frage, was diese Rechtsänderungen nun für die Praxis der Gesundheitsförderung bedeuten, ist schwierig zu beantworten. Ohne Zweifel bedurfte es vorweg einer Klarstellung hinsichtlich der Zielgerichtetheit und Wirkungsorientierung der Gesundheitsförderung, weil die Kassen verständlicherweise unter Berufung auf das allgemeine Wirksamkeits- und Ökonomiegebot nur für effektive und qualitätsgesicherte Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung leistungszuständig sein sollen.* Ob dies mit diesem Passus gelungen ist, ist fraglich, zumal ein spezifisches Verständnis von Salutogenese auch eine juristisch gesehen sehr diffuse Komponente („Kohärenzgefühl“) aufweist. So gesehen sollte Salutogenese eher in einem allgemeineren Sinn aufgefasst werden, und zwar so wie sie sich gesundheitswissenschaftlich als „Gesundheitsförderung“ darstellt. Unter dieser Voraussetzung ist ihre Anführung für die Zielfunktion von Gesundheitsförderung in der KV und für die Abgrenzung von Prävention hilfreich.

Insgesamt ist von einer umfassenden gesetzlichen Ermächtigung zur Gesundheitsförderung durch Krankenkassen auszugehen. Alles in allem wäre aber eine Neuordnung von Prävention und Gesundheitsförderung in einer klareren Sprache wünschenswert gewesen.

9.4.
Maßnahmen zur Festigung der Gesundheit (§ 155 ASVG)

Als Maßnahme zur Festigung der Gesundheit des § 155 ASVG gelten insb* freiwillige Leistungen* wie Landaufenthalte und Aufenthalte in Kurorten, die Unterbringung in Genesungs- und Erholungsheimen und in Kuranstalten und die Übernahme von Reisekosten nach Maßgabe der Bestimmungen der Satzungen unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten bzw Angehörigen.

Die in Abs 1 Z 3 genannte Unterbringung in Kuranstalten kommt sowohl zur Vorbeugung der Verschlimmerung einer bestehenden Krankheit, aber auch zur Vorbeugung einer unmittelbar drohenden Krankheit in Betracht, was darauf hinweist, dass zumindest die letztgenannte Maßnahme einen primärpräventiven Charakter aufweist. Maßnahmen der Krankheitsverhütung in ihrer Gesamtheit als „vorbeugende Gesundheitsfürsorge“ zu bezeichnen,* ist aufgrund ihrer tertiärpräventiven Wirkung gerade noch vertretbar. Ein Kuraufenthalt kann jedenfalls nur dann gewährt werden, wenn eine Krankheit nach § 120 ASVG vorliegt oder unmittelbar droht. Die Unterbringung in einer Kuranstalt wird vom OGH als Krankenbehandlung angesehen. In Ermangelung analoger Anordnungen für Landaufenthalte oder Aufenthalte in Kurorten sind Maßnahmen dieser Art bei Landaufenthalten auch ohne (drohende) Krankheit zulässig, die Unterbringung in Genesungs- und Erholungsheimen setzt streng nach dem Gesetzeswortlaut zumindest für Genesungsaufenthalte eine bereits eingetretene Krankheit voraus.

Bei Unterbringung in einer der oben genannten Einrichtungen (davon ausgenommen sind Fälle der Zuschussgewährung durch die Kasse) für Rechnung der Kasse haben Versicherte (Angehörige) eine Zuzahlung zu leisten. Die Höhe bestimmt sich nach § 154a Abs 7 ASVG (medizinische Maßnahmen der Rehabilitation in der KV).* Diese Beträge sind einkommensabhängig (Orientierung am Ausgleichszulagenrichtsatz) und jährlich mit der Aufwertungszahl zu valorisieren. Umgekehrt kann der Hauptverband in einer Richtlinie Zuschüsse für Landaufenthalte gewähren.* Juristisch interessant ist in diesem Zusammenhang, ob bei Unterbringung in einer Kuranstalt Unfallversicherungsschutz besteht,* was von der Judikatur bejaht, in der Literatur aber relativ kritisch gesehen wird.

9.5.
Krankheitsverhütung (§ 156 ASVG)

Zur Verhütung des Eintritts und der Verbreitung von Krankheiten sieht § 156 ASVG folgende Leistungen vor: Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge, Maßnahmen zur Bekämpfung der Volkskrankheiten und der Zahnfäule und Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz der Versicherten und ihrer Angehörigen (Health-Literacy).

Bei diesem Maßnahmenkatalog handelt es sich um freiwillige Leistungen (arg „können“). Dazu gehört auch die Übernahme von Reisekosten für die genannten Maßnahmen nach Maßgabe der Satzung unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Versicherten (Angehörigen).

Die Aufzählung im Gesetz ist demonstrativ (arg „insbesondere“), andere Leistungen aus dem Titel „Krankheitsverhütung“ sind nur zulässig, wenn sie mit dem Zweck der gesetzlich angeführten Leistungen übereinstimmen. Wenig konsistent ist, dass der VwGH Krankheitsverhütung und Reihenuntersuchungen im Begriff der „vorbeugenden Heilfürsorge“ zusammenfasst.*

Worin besteht der Unterschied zu den sonstigen Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit in § 132c ASVG? § 116 Abs 1 Z 1 ASVG führt die sonstigen Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit als Pflichtaufgaben der Krankenversiche-507rungsträger, während Maßnahmen der Krankheitsverhütung nur als freiwillige Leistungen qualifiziert werden. Davon abgesehen ist unerfindlich, warum die in den beiden Tatbeständen geregelten Maßnahmen von ihrem Zweck her nicht in einem Tatbestand (als Pflichtaufgaben) geregelt sind.

Hinsichtlich der Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz (erst seit der Gesundheitsreform 2013 rechtlich relevant) wäre eine Rezeption in § 154b ASVG sachgerechter gewesen. Die in § 156 Abs 1 Z 1 genannte „Gesundheitsfürsorge“ wiederum wäre wohl in § 155 besser aufgehoben. Insgesamt zeigt sich gerade am § 156 ASVG die sachlich nicht immer nachvollziehbare Architektur der Leistungszuordnung im Bereich der Gesundheitsvorsorge. ME wäre § 156 ASVG – aufgeteilt auf andere Tatbestände – überhaupt entbehrlich. Aus der Überschrift „Krankheitsverhütung“ folgt, dass es sich jedenfalls nicht um kurative Interventionen handeln kann; unter „Bekämpfung“ der Volkskrankheiten ist daher nur deren Prävention zu verstehen.

10.
Vorschläge zur Förderung von Prävention und Gesundheitsförderung

Österreich soll im Bereich der Krankheitsvorbeugung Vorbild für die EU werden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wurde bereits mit den Rahmengesundheitszielen gesetzt. In weiterer Folge sind diese Ziele mit konkreten Maßnahmen zu implementieren. Zur Umsetzung der Ziele bedarf es einer alle Lebenswelten erfassenden nationalen Präventionsstrategie und darauf aufbauend dahingehend gesetzlicher Regelungen, welcher Präventionsträger für welches Präventionssetting zuständig ist (zB für betriebliche Gesundheitsförderung die SV und der Fonds Gesundes Österreich, für Schulen Länder und Bund, beim Bund das Gesundheits- und/oder das Unterrichtsministerium), einschließlich eines rechtsverbindlichen Auftrages an die zuständigen Präventionsträger, in den jeweiligen Verantwortungsbereichen präventiv tätig zu werden. Rechtliche Basis hierfür wäre analog der Gesundheitsreform (Zielsteuerung – Gesundheit) eine Vereinbarung zwischen dem Bund, der SV und den Ländern, der in weiterer Folge Präventionsgesetze auf Bundes- und Länderebene folgen müssten. Nach dem Vorbild der Gesundheitsreform sollte das BM für Gesundheit die Koordinierung („Leadership“) des Vorhabens übernehmen.

Damit betriebliche Gesundheitsförderung wirksam eingesetzt werden kann, ist für eine höhere Angebotstransparenz und eine gemeinsame Ansprechstelle (für interessierte Betriebe und BR) zu sorgen. Förderungen sollten nur bei zertifizierten Methoden und AnbieterInnen zulässig sein. Im Rahmen eines Krankenstands-Monitorings könnten Betriebe einer Branche mit auffällig vielen Krankenständen („Risikobetriebe“) leichter für betriebliche Gesundheitsförderung gewonnen werden. In der AUVA ist ein Kompetenzzentrum zur Vorbeugung arbeitsbedingter Erkrankungen einzurichten. Trotz gesetzlicher Verpflichtung besteht für die Evaluierung psychischer Erkrankungen noch Nachholbedarf.