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Anspruch auf und Durchsetzung von Mindestlöhnen bei grenzüberschreitenden Entsendungen

MICHAELAWINDISCH-GRAETZ (WIEN)
Art 3, 5 und 6 RL 96/71/EG; Art 56, 57 AEUV
  1. Die Entsende-RL 96/71/EG verbietet es, dass eine Regelung des Entsendestaats, nach der die Übertragung von Forderungen aus Arbeitsverhältnissen verboten ist, eine Gewerkschaft des Empfangsstaats daran hindert, bei einem Gericht des Empfangsstaats eine Klage auf den Mindestlohn iSd RL 96/71 für die entsandten AN zu erheben, nachdem die entsandten AN ihre Lohnforderungen auf die Gewerkschaft zur Einziehung übertragen haben.

  2. Art 3 Abs 1 und 7 der RL 96/71 ist im Licht der Art 56 und 57 AEUV dahin auszulegen, dass

    • er einer Berechnung des Mindeststundenlohns und/oder Mindestakkordlohns auf der Grundlage der Einteilung der AN in Lohngruppen, wie sie nach den maßgeblichen Tarifverträgen des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehen ist, nicht entgegensteht, sofern diese Berechnung und diese Einteilung nach zwingenden und transparenten Vorschriften vorgenommen werden, was zu prüfen Aufgabe des nationalen Gerichts ist;

    • ein Tagegeld, wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, unter den gleichen Bedingungen als Bestandteil des Mindestlohns anzusehen ist, wie sie für seine Einbeziehung in den Mindestlohn gelten, der einheimischen AN bei ihrer Entsendung innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats gezahlt wird;

    • eine Entschädigung für die tägliche Pendelzeit, die den AN unter der Voraussetzung gezahlt wird, dass ihre tägliche Pendelzeit mehr als eine Stunde beträgt, als Bestandteil des Mindestlohns der entsandten AN anzusehen ist, sofern diese Voraussetzung erfüllt ist, was zu prüfen, Aufgabe des nationalen Gerichts ist;

    • die Übernahme der Kosten für die Unterbringung dieser AN nicht als Bestandteil ihres Mindestlohns anzusehen ist;

    • eine Zulage in Form von Essensgutscheinen, die an diese AN ausgegeben werden, nicht als Bestandteil ihres Mindestlohns angesehen werden darf, und

    • die Vergütung, die den entsandten AN für die Dauer des bezahlten Mindestjahresurlaubs zu gewähren ist, dem Mindestlohn entspricht, auf den diese AN im Referenzzeitraum Anspruch haben.508

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

[...]

11 ESA, ein Unternehmen mit Sitz in Polen, ist in der Elektrobranche tätig und hat eine Zweigniederlassung in Finnland.

12 Für die Ausführung von Elektroarbeiten auf der Baustelle des Kernkraftwerks Olkiluoto in Eurajoki (Finnland) schloss ESA in Polen nach polnischem Recht Arbeitsverträge mit 186 AN. Diese wurden an die finnische Zweigniederlassung von ESA entsandt. Sie wurden auf der Baustelle in Olkiluoto beschäftigt und waren in Wohnungen in Eurajoki etwa 15 km von der Baustelle entfernt untergebracht. Zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens besteht Uneinigkeit über die von den AN für den täglichen Weg von ihrer Unterkunft zur Baustelle und zurück aufgewandte Zeit.

13 Da die betroffenen AN der Auffassung sind, dass ESA ihnen nicht den Mindestlohn gezahlt habe, der ihnen gemäß den nach dem Unionsrecht anwendbaren finnischen Tarifverträgen für die Stromwirtschaftsbranche und für die Haustechnikbranche zustehe, haben sie ihre Forderungen einzeln zur Einziehung auf Sähköalojen ammattiliitto übertragen.

14 Vor dem vorlegenden Gericht trägt Sähköalojen ammattiliitto vor, dass diese Tarifverträge eine Berechnung des Mindestlohns der AN nach für diese günstigeren Kriterien als den von ESA angewandten vorsähen. Diese Kriterien beträfen ua die Art der Einteilung der AN in Lohngruppen, der Einordnung einer Vergütung als Zeit- oder Akkordlohn und der Gewährung von Urlaubsgeld, Tagegeld und Wegezeitentschädigung sowie die Übernahme der Unterbringungskosten der AN.

15 Daher beantragte Sähköalojen ammattiliitto mit Klagen vom 8.8.2011 und vom 3.1.2012, die ESA zu verurteilen, an sie insgesamt 6.648.383,15 € nebst Verzugszinsen wegen der an sie abgetretenen Forderungen zu zahlen.

16 ESA beantragte die Abweisung der Klagen. Sie machte ua geltend, dass Sähköalojen ammattiliitto nicht befugt sei, im Namen der entsandten AN zu klagen, weil das polnische Recht die Übertragung von Forderungen aus einem Arbeitsverhältnis verbiete. [...]

Zu den Vorlagefragen

Zu den Fragen 1 bis 5

19 Mit seinen Fragen 1 bis 5, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die RL 96/71, ausgelegt im Licht des Art 47 der GRC, es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens verbietet, dass eine Regelung des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, das AN in einen anderen Mitgliedstaat entsandt hat, seinen Sitz hat, nach der die Übertragung von Forderungen aus Arbeitsverhältnissen verboten ist, eine Gewerkschaft wie Sähköalojen ammattiliitto daran hindern kann, bei einem Gericht dieses anderen Mitgliedstaats, in dem die Arbeitsleistung erbracht wird, eine Klage zu erheben, um die auf sie übertragenen Lohnforderungen dieser entsandten AN einzuziehen.

20 Hierzu ist festzustellen, dass sich nicht nur aus den Informationen, die das vorlegende Gericht dem Gerichtshof übermittelt hat, sondern auch aus den Antworten auf die in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof gestellten Fragen ergibt, dass sich die Klagebefugnis von Sähköalojen ammattiliitto vor dem vorlegenden Gericht nach dem finnischen Verfahrensrecht bestimmt, das nach dem Grundsatz der lex fori anwendbar ist. Im Übrigen ist unstreitig, dass die Kl nach finnischem Recht befugt ist, im Namen der entsandten AN zu klagen.

21 Somit spielt die Vorschrift des polnischen Arbeitsgesetzbuchs, auf die sich ESA beruft, für die Klagebefugnis von Sähköalojen ammattiliitto vor dem vorlegenden Gericht keine Rolle und berührt nicht deren Recht, Klage beim Satakunnan käräjäoikeus zu erheben.

22 Im Übrigen geht es in dem Ausgangsrechtsstreit um die Bestimmung der Tragweite des Begriffs „Mindestlohnsatz“ iSd RL 96/71, auf den die nach Finnland entsandten polnischen AN Anspruch haben.

23 Aus Art 3 Abs 1 Unterabs 2 der RL 96/71 ergibt sich eindeutig, dass sich Fragen, die den Mindestlohnsatz iS dieser RL betreffen, unabhängig von dem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht nach dem Recht des Mitgliedstaats bestimmen, in den die AN zur Erbringung ihrer Arbeitsleistung entsandt sind, hier also der Republik Finnland.

24 Darüber hinaus ergibt sich ua aus dem Wortlaut der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts, dass die Abtretung der Lohnforderungen an Sähköalojen ammattiliitto zur Einziehung für die entsandten AN mit dem finnischen Recht im Einklang steht und dass außerdem das polnische Unternehmen, das diese AN eingestellt hat, in Finnland eine Zweigniederlassung hat, an die die AN entsandt wurden.

25 Unter diesen Umständen besteht hier entgegen dem Vorbringen von ESA vor dem vorlegenden Gericht kein Grund, der geeignet wäre, die Klage, die die Sähköalojen ammattiliitto beim Satakunnan käräjäoikeus erhoben hat, in Frage zu stellen.

26 Auf die Fragen 1 bis 5 ist daher zu antworten, dass die RL 96/71, ausgelegt im Licht des Art 47 der GRC, es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens verbietet, dass eine Regelung des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, das AN in einen anderen Mitgliedstaat entsandt hat, seinen Sitz hat, nach der die Übertragung von Forderungen aus Arbeitsverhältnissen verboten ist, eine Gewerkschaft wie Sähköalojen ammattiliitto daran hindern kann, bei einem Gericht dieses anderen Mitgliedstaats, in dem die Arbeitsleistung erbracht wird, eine Klage zu erheben, um für die entsandten AN auf sie übertragene Lohnforderungen einzuziehen, bei denen es um den Mindestlohn iSd RL 96/71 geht, da diese Übertragung im Einklang mit dem in diesem anderen Mitgliedstaat geltenden Recht steht.

Zur Frage 6

27 Mit seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 3 der RL 96/71 im Licht der Art 56 AEUV und 57 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es verbietet, vom Mindestlohn Lohnbestandteile auszunehmen, die sich wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aus dem Begriff509 „Grundstundenlohn oder Akkordgarantielohn je nach Lohngruppe“, der Gewährung von Urlaubsgeld, Tagegeld, einer Wegezeitentschädigung und einer Entschädigung für die Unterbringungskosten ergeben, die in einem unter den Anhang dieser RL fallenden Tarifvertrag festgelegt sind, der in dem Mitgliedstaat, in den die AN entsandt werden, allgemeinverbindlich ist, oder die, wie die Ausgabe von Essensgutscheinen, im Herkunftsstaat in dem Arbeitsverhältnis zwischen den entsandten AN und ihrem AG vorgesehen sind.

28 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber die RL 96/71 erlassen hat, um, wie aus dem sechsten Erwägungsgrund hervorgeht, im Interesse der AG und ihres Personals die für das Arbeitsverhältnis geltenden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festzulegen, wenn ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen im Rahmen der Erbringung einer Dienstleistung vorübergehend AN in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsendet (Urteile Laval un Partneri, C-341/05, EU:C:2007:809, Rn 58, und Isbir, C-522/12, EU:C:2013:711, Rn 33).

29 Um sicherzustellen, dass ein Kern zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz beachtet wird, sieht Art 3 Abs 1 Unterabs 1 der RL 96/71 daher vor, dass die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die Unternehmen im Rahmen einer länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten AN bezüglich der in dieser Vorschrift aufgeführten Aspekte die Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen garantieren (Urteil Laval un Partneri, EU:C:2007:809, Rn 73).

30 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art 3 Abs 1 Unterabs 1 der RL 96/71 eine doppelte Zielsetzung verfolgt. Zum einen bezweckt diese Vorschrift, zwischen inländischen Unternehmen und Unternehmen, die länderübergreifende Dienstleistungen erbringen, einen lauteren Wettbewerb sicherzustellen, da sie die letztgenannten Unternehmen dazu verpflichtet, ihren AN für eine begrenzte Liste von Aspekten die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zuzuerkennen, die im Aufnahmemitgliedstaat festgelegt worden sind. Zum anderen bezweckt sie, für die entsandten AN sicherzustellen, dass bei den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die genannten Aspekte die Regeln über den Mindestschutz dieses Mitgliedstaats angewandt werden, während die AN vorübergehend im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätig sind (Urteil Laval un Partneri, EU:C:2007:809, Rn 74 und 76).

31 Diese RL hat jedoch nicht den materiell-rechtlichen Inhalt dieser zwingenden Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz harmonisiert, auch wenn sie einige Informationen hierzu liefert.

wenn sie einige Informationen hierzu liefert.

32 So verweist zum einen Art 3 Abs 1 Unterabs 2 der RL 96/71 zum Zweck dieser RL für die Bestimmung der Mindestlohnsätze iS ihres Art 3 Abs 1 Unterabs 1 ausdrücklich auf die Rechtsvorschriften oder Praktiken des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der AN entsandt wird (Urteil Isbir, EU:C:2013:711, Rn 36).

33 Zum anderen bestimmt Art 3 Abs 7 Unterabs 2 dieser RL in Bezug auf die Entsendungszulagen, inwieweit diese Lohnbestandteile im Rahmen der in Art 3 der RL festgelegten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen als Bestandteil des Mindestlohns gelten.

34 Aus welchen Bestandteilen sich für die Anwendung dieser RL der Mindestlohn zusammensetzt, ist daher, vorbehaltlich der Vorgaben in Art 3 Abs 7 Unterabs 2 der RL 96/71, im Recht des Mitgliedstaats, in den der AN entsandt wird, festzulegen, wobei diese Definition, wie sie sich aus den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften oder Tarifverträgen oder ihrer Auslegung durch die innerstaatlichen Gerichte ergibt, allerdings nicht zu einer Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten führen darf (Urteil Isbir, EU:C:2013:711, Rn 37).

35 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof für einige Lohnbestandteile bereits entschieden hat, dass sie nicht als Bestandteil des Mindestlohns einzustufen sind.

36 So können nach stRsp des Gerichtshofs die Zulagen und Zuschläge, die nicht durch die Rechtsvorschriften oder die Praktiken des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der AN entsandt wird, als Bestandteile des Mindestlohns definiert werden und die das Verhältnis zwischen der Leistung des AN und der von ihm erhaltenen Gegenleistung verändern, nicht aufgrund der RL 96/71 als derartige Bestandteile betrachtet werden (Urteile Kommission/Deutschland, C-341/02, EU:C:2005:220, Rn 39, und Isbir, EU:C:2013:711, Rn 38).

37 Die verschiedenen Lohnbestandteile, die das vorlegende Gericht angeführt hat, sind im Licht der vorstehenden Erwägungen zu prüfen, um zu bestimmen, ob sie Bestandteile des Mindestlohns iSd Art 3 der RL 96/71 sind.

Garantierter Stundenlohn und/oder Akkordgarantielohn je nach Lohngruppeneinteilung der AN

38 Um den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden zu können, fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob Art 3 Abs 1 der RL 96/71 im Licht der Art 56 und 57 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Berechnung des Mindeststundenlohns und/oder Mindestakkordlohns auf der Grundlage der Einteilung der AN in Lohngruppen, wie sie nach den einschlägigen Tarifverträgen des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehen ist, entgegensteht.

39 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich aus der Formulierung des Art 3 Abs 1 Unterabs 2 der RL 96/71 ausdrücklich ergibt, dass der Mindestlohnsatz durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt wird, in dessen Hoheitsgebiet der AN entsandt wird. Diese Formulierung impliziert, dass die Art und Weise der Berechnung des Mindestlohnsatzes und die dafür herangezogenen Kriterien ebenfalls in die Zuständigkeit des Aufnahmemitgliedstaats fallen.

40 Aus dem Vorstehenden ergibt sich erstens, dass nach den im Aufnahmemitgliedstaat in Kraft befindlichen Vorschriften festgelegt werden kann, ob die Berechnung des Mindestlohns auf Stunden oder auf Akkordbasis erfolgen muss. Um jedoch510 dem AG, der seine AN in diesen Mitgliedstaat entsendet, entgegengehalten werden zu können, müssen diese Vorschriften zwingend sein und den Anforderungen an die Transparenz entsprechen, was insb bedeutet, dass sie zugänglich und klar sein müssen.

41 Somit kann der AG, der AN entsendet, in Anwendung dieser Kriterien den anhand der maßgeblichen Tarifverträge berechneten Mindestlohn nicht frei wählen, nur um Arbeitskosten anzubieten, die niedriger sind als die der einheimischen AN.

42 Im Ausgangsverfahren ist es Aufgabe des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die nach den maßgeblichen Tarifverträgen angewandten Regeln für die Berechnung des Mindestlohns zwingend und transparent sind.

43 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich zweitens, dass die Vorschriften über die Einteilung der AN in Lohngruppen, die im Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage verschiedener Kriterien angewandt werden, wie etwa der Qualifikation, der Ausbildung und der Erfahrung der AN und/oder der Art der von ihnen ausgeübten Tätigkeit, an die Stelle der Vorschriften treten, die im Herkunftsmitgliedstaat auf die entsandten AN anwendbar sind. Erst im Rahmen eines Vergleichs zwischen den in Art 3 Abs 7 Unterabs 1 der RL 96/71 genannten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die im Herkunftsmitgliedstaat Anwendung finden, und denen, die im Aufnahmemitgliedstaat gelten, muss die durch den Herkunftsmitgliedstaat vorgenommene Einteilung berücksichtigt werden, wenn sie für den AN günstiger ist.

44 Um jedoch dem AG, der AN entsendet, entgegengehalten werden zu können, müssen die im Aufnahmemitgliedstaat angewandten Vorschriften über die Einteilung der AN in Lohngruppen auch zwingend sein und den Anforderungen an die Transparenz entsprechen, was insb bedeutet, dass sie zugänglich und klar sein müssen. Es ist Aufgabe des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind.

45 Nach allen diesen Erwägungen ist festzustellen, dass Art 3 Abs 1 der RL 96/71 im Licht der Art 56 und 57 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Berechnung des Mindeststundenlohns und/oder Mindestakkordlohns auf der Grundlage der Einteilung der AN in Lohngruppen, wie sie nach den maßgeblichen Tarifverträgen des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehen ist, nicht entgegensteht, sofern diese Berechnung und diese Einteilung nach zwingenden und transparenten Vorschriften vorgenommen werden, was zu prüfen Aufgabe des nationalen Gerichts ist.

Tagegeld

46 Zu der Frage, ob ein Tagegeld, wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, Bestandteil des Mindestlohns iSv Art 3 der RL 96/71 ist, ist darauf hinzuweisen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, dass die maßgeblichen Tarifverträge in Finnland die Zahlung eines Tagegelds an entsandte AN vorsehen. Nach diesen Tarifverträgen ist dieses Tagegeld als tägliche Zahlung eines festen Betrags ausgestaltet, der sich während des maßgeblichen Zeitraums auf 34 € bis 36 € belief.

47 Aus den Akten ergibt sich, dass dieses Tagegeld den AN nicht als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten iSv Art 3 Abs 7 Unterabs 2 der RL 96/71 gezahlt wird.

48 Dieses Tagegeld soll nämlich den sozialen Schutz der betroffenen AN gewährleisten, indem es die Nachteile ausgleicht, die ihnen durch die Entsendung aufgrund der Entfernung von ihrem gewohnten Umfeld entstehen.

49 Somit ist dieses Tagegeld als „Entsendungszulage“ iSv Art 3 Abs 7 Unterabs 2 der RL 96/71 einzustufen.

50 Nach dieser Bestimmung ist diese Zulage Bestandteil des Mindestlohns.

51 Unter diesen Umständen ist dieses Tagegeld entsandten AN wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden im gleichen Umfang zu zahlen wie einheimischen AN bei einer Entsendung innerhalb Finnlands.

52 Nach dem Vorstehenden ist festzustellen, dass ein Tagegeld, wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, unter den gleichen Bedingungen als Bestandteil des Mindestlohns anzusehen ist, wie sie für seine Einbeziehung in den Mindestlohn gelten, der einheimischen AN bei ihrer Entsendung innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats gezahlt wird.

Wegezeitentschädigung

53 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die vorgelegte Frage, soweit sie die Wegezeitentschädigung betrifft, nicht auf den Ausgleich für die Kosten abzielt, die den AN für den Weg zu ihrem Arbeitsort und zurück entstehen, sondern nur da rauf, ob Art 3 der RL 96/71 dahin auszulegen ist, dass ein Ausgleich für die tägliche Pendelzeit als Bestandteil des Mindestlohns dieser AN anzusehen ist.

54 Nach den einschlägigen Bestimmungen der finnischen Tarifverträge wird den AN eine Wegezeitentschädigung gezahlt, wenn ihre tägliche Pendelzeit mehr als eine Stunde beträgt.

55 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass für die Berechnung dieser Pendelzeit die Zeit zu ermitteln ist, die die betreffenden entsandten AN im konkreten Fall tatsächlich für den Weg von dem Ort, an dem sie in Finnland untergebracht sind, zu ihrer Arbeit auf der Baustelle in diesem Mitgliedstaat aufgewandt haben. Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, anhand der Tatsachen des Ausgangsverfahrens zu entscheiden, ob das nach den in Finnland für die Zahlung einer Wegezeitentschädigung geltenden Vorschriften vorgesehene Erfordernis betreffend die Dauer des Weges von den betreffenden AN erfüllt wird.

56 In Anbetracht dessen ist eine solche Wegezeitentschädigung, da sie nicht als Erstattung von Kosten, die dem AN infolge der Entsendung tatsächlich entstanden sind, gezahlt wird, gem Art 3 Abs 7 Unterabs 2 der RL 96/71 als Entsendungszulage und somit als Bestandteil des Mindestlohns zu betrachten.

57 Daher ist eine Wegezeitentschädigung, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die den AN unter der Voraussetzung gezahlt wird, dass ihre511 tägliche Pendelzeit mehr als eine Stunde beträgt, als Bestandteil des Mindestlohns der entsandten AN anzusehen, sofern diese Voraussetzung erfüllt ist, was zu prüfen Aufgabe des nationalen Gerichts ist.

Übernahme der Unterbringungskosten

58 Zu der Frage, ob Art 3 der RL 96/71 im Licht der Art 56 und 57 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Übernahme der Kosten für die Unterbringung der betreffenden AN als Bestandteil ihres Mindestlohns anzusehen ist, ist festzustellen, dass dies nach dem Wortlaut von Art 3 Abs 7 dieser RL nicht in Betracht kommt.

59 Auch wenn nach diesem Wortlaut nur die Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Unterbringungskosten ausgeschlossen ist, und ESA nach den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen diese Kosten der betreffenden AN übernommen hat, ohne dass diese sie vorstrecken und ihre Erstattung beantragen mussten, spielt die von ESA gewählte Art der Kostenübernahme keine Rolle für die rechtliche Qualifizierung dieser Kosten.

60 Darüber hinaus erlaubt es, wie der Generalanwalt in Nr 111 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bereits der Zweck des Art 3 Abs 7 der RL 96/71 nicht, bei der Berechnung des Mindestlohns der entsandten AN die Kosten für ihre Unterbringung zu berücksichtigen.

Essensgutscheine

61 Zur Auslegung von Art 3 der RL 96/71 im Licht der Art 56 und 57 AEUV hinsichtlich des Begriffs „Mindestlohn“ im Hinblick auf die Berücksichtigung von Essensgutscheinen, die den betreffenden AN von ESA ausgegeben wurden, ist darauf hinzuweisen, dass die Ausgabe dieser Gutscheine weder auf Rechts- oder Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats noch auf den einschlägigen Tarifverträgen, auf die sich Sähköalojen ammattiliitto beruft, beruht, sondern auf das zwischen den entsandten AN und ihrem AG ESA in Polen begründete Arbeitsverhältnis zurückgeht.

62 Darüber hinaus werden diese Zulagen ebenso wie die als Ausgleich für die Unterbringungskosten gezahlten Zulagen gezahlt, um die den AN infolge ihrer Entsendung tatsächlich entstandenen Lebenshaltungskosten zu erstatten.

63 Somit geht bereits aus dem Wortlaut von Art 3 Abs 1 und 7 der RL 96/71 klar hervor, dass diese Zulagen nicht als Bestandteil des Mindestlohns iSv Art 3 dieser RL angesehen werden dürfen.

Vergütung, die während des Urlaubs gezahlt wird

64 Was den Anspruch auf eine Vergütung während des Urlaubs betrifft, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art 31 Abs 2 der Grundrechtecharta jeder AN das Recht auf bezahlten Jahresurlaub hat.

65 Dieses in Art 7 der RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl L 299, S 9) näher bezeichnete Recht, von dem diese RL keine Abweichung zulässt, räumt jedem AN einen Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen ein. Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, der nach stRsp als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, wird somit jedem AN unabhängig von seinem Beschäftigungsort innerhalb der Union gewährt (vgl in diesem Sinne Urteile Schultz-Hoff ua, C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn 54, sowie Lock, C-539/12, EU:C:2014:351, Rn 14).

66 Außerdem geht aus der Rsp des Gerichtshofs klar hervor, dass der in Art 31 der GRC und in Art 7 Abs 1 der RL 2003/88 enthaltene Begriff des „bezahlten [J]ahresurlaubs“ bedeutet, dass das Arbeitsentgelt für die Dauer des Jahresurlaubs iS dieser Vorschriften weiterzugewähren ist und dass der AN maW für diese Ruhezeit das gewöhnliche Arbeitsentgelt erhalten muss (vgl Urteile Robinson-Steele ua, C-131/04 und C-257/04, EU:C:2006:177, Rn 50, und Lock, EU:C:2014:351, Rn 16).

67 Nach dieser Rsp behandelt die RL 2003/88 den Anspruch auf Jahresurlaub und den auf Zahlung des Urlaubsentgelts nämlich als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs. Durch das Erfordernis der Zahlung des Urlaubsentgelts soll der AN während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist (vgl Urteil Lock, EU:C:2014:351, Rn 17und die dort angeführte Rsp).

68 Daher ist, wie der Generalanwalt in Rn 89 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Vergütung, die der AN während des Urlaubs erhält, untrennbar mit der Vergütung verbunden, die er als Gegenleistung für die erbrachte Arbeit erhält.

69 Folglich ist Art 3 der RL 96/71 im Licht der Art 56 und 57 AEUV dahin auszulegen, dass die Mindestvergütung, die dem AN gem Art 3 Abs 1 zweiter Gedankenstrich Buchst b dieser RL für die Dauer des bezahlten Mindestjahresurlaubs zu gewähren ist, dem Mindestlohn entspricht, auf den dieser AN im Referenzzeitraum Anspruch hat. [...]

ANMERKUNG

Ausgangssachverhalt des vorliegenden EuGH-Urteils ist ein klassischer Entsendesachverhalt: Polnische Bauarbeiter werden von ihrem polnischen AG von Polen nach Finnland entsandt, um dort Elektroarbeiten durchzuführen. Nach dem die Entsende-RL 96/71/EG umsetzenden finnischen Recht haben die AN für die Zeit der Entsendung Anspruch auf den finnischen Mindestlohn. Die Arbeiter meinen, diesen nicht in vollem Ausmaß erhalten zu haben und übertragen ihre Forderungen auf die finnische Gewerkschaft zur Lohndurchsetzung. Die Gewerkschaft klagt die Lohnforderungen ein, im folgenden Verfahren stellen sich jene Rechtsfragen, die zu einem Vorlageverfahren vor dem EuGH führen.

Der EuGH entscheidet in seinem Urteil zwei grundsätzlich unterschiedliche Rechtsfragen. Zunächst geht es um das Klagerecht der finnischen Gewerkschaft in Verbindung mit der dazu erfolgten Abtretung der Lohnansprüche der AN zur Einziehung. Der AG wendet gegen die Klagslegitimität der Gewerkschaft ein, nach polnischem Recht sei512 die Übertragung von Lohnforderungen verboten. Neben dieser formellrechtlichen Frage hatte der EuGH die materiellrechtliche Frage zu entscheiden, welche Lohnbestandteile eines Tarifvertrags zum Mindestlohn iSd Art 3 Abs 1 Entsende-RL zählen.

1.
Durchsetzung von Lohnansprüchen im Ausland

Der EuGH fasst die Vorlagefragen dahingehend zusammen, ob es die Entsende-RL 96/71/EG verbietet, dass eine Regelung des Entsendestaats, nach der die Übertragung von Lohnforderungen unzulässig ist, eine Gewerkschaft des Empfangsstaats hindern kann, auf sie übertragene Lohnforderungen entsandter AN vor den Gerichten des Empfangsstaats einzuklagen.

Die Antwort des EuGH kommt kurz und bündig. Der Gerichtshof stellt fest, dass sich die Klagebefugnis der finnischen Gewerkschaft aus finnischem Verfahrensrecht ergibt und verweist für dessen Anwendbarkeit auf den im internationalen Zivilverfahrensrecht allgemein anerkannten Grundsatz der lex fori (Rn 20). Nach diesem Grundsatz haben die Gerichte eines Staates grundsätzlich das Verfahrensrecht des eigenen Staates anzuwenden (Matscher in

Fasching/Konecny
, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, Vor Art IX EGJN, Rz 90). Der EuGH wehrt den Einwand der Bekl, nach polnischem Recht sei die Übertragung von Lohnforderungen verboten, in Rn 21 ab, indem er schlicht behauptet, diese Vorschrift spiele in Anbetracht der lex fori keine Rolle. Vom Ergebnis her ist dies mE richtig, was die Begründung betrifft, hätte man sich eine tiefere Auseinandersetzung erwartet.

Der EuGH setzt sich vor allem mit einer Frage, die im Verfahren vorgebracht und in den Schlussanträgen (18.9.2014, C-396/13, Sähköalojen ammattiliitto ry) ausführlich erörtert wird, nicht ausdrücklich auseinander, nämlich welche Rolle die kollisionsrechtliche Regelung des Art 14 Abs 2 VO (EG) 593/2008 (Rom I-VO) in diesem Zusammenhang spielt. Gem Art 14 Abs 2 Rom I-VO bestimmt sich die Übertragbarkeit einer Forderung und die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Übertragung dem Schuldner entgegengehalten werden kann, nach dem Recht, dem die übertragene Forderung unterliegt. Die Forderung des im Empfangsstaat geltenden Mindestlohns unterliegt nach den kollisionsrechtlichen Bestimmungen der Entsende-RL aber ohnehin zweifelsfrei dem Recht des Empfangsstaats. Art 14 Abs 2 Rom I-VO würde also zu keinem anderen Ergebnis führen, das Urteil könnte aber falsch begründet sein. Denn die Rom I-VO regelt lediglich materiell-rechtliche Fragen des Kollisionsrechts, nicht dagegen verfahrensrechtliche. Ob die Zession im vorliegenden Fall eine im materiellen oder im formellen Recht begründete ist, geht aus dem Urteil nicht klar hervor, da keine entsprechenden finnischen Regelungen zitiert sind. Ob eine Regelung dem materiellen oder dem formellen Recht zugehört, entscheidet der jeweilige Staat selbst (Matscher in

Fasching/Konecny
, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, Vor Art IX EGJN, Rz 95). Ist die Übertragung der Lohnforderung eines AN an eine Gewerkschaft zur Lohndurchsetzung im Rahmen des nationalen Verfahrensrechts geregelt, ist davon auszugehen, dass auch diese Regelung dem formellen Recht zugehört und die Rom I-VO in diesem Zusammenhang keine Anwendung findet.

Die den beiden klaren, wenn auch sehr knapp gehaltenen Rn 20 und 21 folgenden Erörterungen des EuGH sind dagegen äußerst kryptisch und in dieser Form entbehrlich. Rn 22 und 23, in denen der EuGH darauf verweist, dass es ja um Mindestlöhne gehe und diese dem finnischen Recht unterliegen, können möglicherweise als unausgesprochene Auseinandersetzung mit Art 14 Abs 2 Rom I-VO gedeutet werden. Sinnlos ist dagegen Rn 24, in dem darauf verwiesen wird, dass das polnische Unternehmen in Finnland eine Zweigniederlassung habe, an die die AN entsandt worden seien. Ob eine Entsendung zur bloßen Erbringung von Dienstleistungen für einen im Empfangsstaat tätigen Dienstleistungsempfänger (Art 1 Abs 3 lit a RL 96/71/EG – Dienstleistungsentsendung) oder in eine Zweigniederlassung des eigenen Unternehmens im Empfangsstaat (Art 1 Abs 3 lit b RL 96/71/ EG – „Konzernentsendung“) erfolgt, ist für Fragen nach dem anwendbaren Recht gleich und daher kein Argument in die eine oder andere Richtung.

2.
Anspruch auf bestimmte Lohnbestandteile

Im zweiten Teil des Urteils setzt sich der EuGH mit der Frage auseinander, welche Lohnbestandteile als Bestandteile des Mindestlohns iSd Art 3 Abs 1 Entsende-RL zu qualifizieren sind. Die RL selbst ist diesbezüglich wenig aufschlussreich. Gem Art 3 Abs 1 Entsende-RL hat der Empfangsstaat den entsandten AN die dort geltenden Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze zu garantieren. Gem Art 7 gelten Entsendungszulagen als Bestandteil des Mindestlohns, soweit sie nicht als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandenen Kosten wie zB Reise-, Unterbringungs- und Verpflegskosten gezahlt werden. Nach den Rs Kommission/Deutschland (EuGH 14.4.2005, C-341/02) und Isbir (EuGH 7.11.2013, C-522/12) ist dies die dritte E, in der der EuGH zu diesem komplexen Rechtsproblem Stellung nehmen konnte.

Wesentlich ist zunächst, dass die Frage, aus welchen Bestandteilen sich der Mindestlohn iSd Art 3 Abs 1 Entsende-RL zusammensetzt, nach den Rechtsvorschriften des Empfangsstaats zu beantworten ist (Art 3 Abs 1 RL 96/17/EG; Rn 34). Der Empfangsstaat definiert also den Mindestlohn, der für Arbeiten auf seinem Territorium gilt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Lohnregelungen transparent sein müssen (Rn 40), um für das entsendende Unternehmen nicht zu einem unzulässigen Hindernis der Dienstleistungsfreiheit zu werden. Die Dienstleistungsfreiheit des Entsenders einerseits und der Schutz der im Empfangsstaat tätigen Unternehmen vor unlauterem Wettbewerb andererseits sind auch in Bezug auf weitere Fragen der Mindestlohngarantie des Art 3 Abs 1 Entsende-RL die maßgebenden und gegeneinander abzuwägenden Grundätze.513

Wichtig ist das Urteil vor allem zur Frage, ob dem entsendenden AG für die Zeit der Entsendung die Lohnstruktur des Empfangsstaates „aufgezwungen“ werden kann (bejahend Rebhahn, Grundfreiheiten und Arbeitskampf, in

Scholz/Becker
[Hrsg], Die Auswirkung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf das Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten [2009] 17). Der EuGH bejaht sie ebenfalls und sagt, dass die Vorschriften über die Einteilung der AN in Lohngruppen, die auf der Grundlage von Kriterien wie Qualifikation, Ausbildung, Erfahrung etc an die Stelle der Vorschriften treten, die im Herkunftsstaat gelten. Dasselbe gilt für die Frage, ob die Lohngestaltung auf Stunden oder Akkordbasis beruht (Rn 43). Offen bleibt die spannende Frage, ob damit auch beim AG bereits verbrachte Dienstzeiten sowie Vordienstzeiten zu berücksichtigen sind, sofern sie für die Einreihung in eine bestimmte Lohnstufe relevant sind. In der Bauwirtschaft wird das kein Problem sein, im Angestelltenbereich dagegen schon. Aufgrund des vorliegenden Urteils muss das Dienstalter mE bei der Ermittlung des Mindestlohns berücksichtigt werden, insb da aufgrund anderweitiger Judikatur des EuGH davon ausgegangen werden muss, dass nach Dienstalter gestaltete Lohnschemata durch ein Ansteigen der Berufserfahrung begründet sind (zB EuGH 3.10.2006, C-17/05, Cadman). Eine Ermittlung von Vordienstzeiten wird für den Entsender aufgrund der Komplexität eines solchen Vorgangs wohl eine unverhältnismäßige Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellen.

Tagegelder und Wegzeitenentschädigungen, die Bauarbeitern nach finnischem Recht gebühren, wenn diese auf entfernt gelegene Baustellen entsandt werden, werden vom EuGH als „Entsendungszulagen“ iSd Art 3 Abs 7 Entsende-RL qualifiziert. Da sie im konkreten Fall nicht dem Ausgleich tatsächlicher Aufwendungen des AN dienen, qualifiziert sie der EuGH als Bestandteile des Mindestlohns (Rn 46-57). Die entsandten AN haben somit Anspruch auf Tagegelder und Wegzeitenentschädigungen für die innerhalb Finnlands zwischen dem Ort ihrer Unterkunft und den jeweiligen Baustellen stattfindenden „Entsendungen“.

Das Ergebnis des EuGH ist in der Sache richtig, die Begründung jedoch wiederum fragwürdig. Es sind im vorliegenden Zusammenhang nämlich zwei Perspektiven zu unterscheiden: Die eine betrifft die Frage, welche Lohnbestandteile im Empfangsstaat als Mindestlohn gelten, die andere die Frage, welche Leistungen, die der Entsender tatsächlich bezahlt, bei der Prüfung, ob der vom Empfangsstaat vorgeschriebene Mindestlohn vom Entsender eingehalten wird, auf diesen Mindestlohn angerechnet werden können (Rebhahn in

Franzen/Gallner/Oetker
[Hrsg], Kommentar zum Europäischen Arbeitsrecht [2015 in Druck], RL 96/71/EG, Art 3 Rz 15). Art 3 Abs 7 Entsende-RL, der sich örtlich weit von Abs 1 geregelt findet, bezieht sich mE nur auf die Anrechenbarkeit von Entsendungszulagen, die der Entsender zahlt, auf den im Empfangsstaat geltenden Mindestlohn (so auch Rebhahn in
Franzen/Gallner/Oetker
[Hrsg], Kommentar zum Europäischen Arbeitsrecht, Art 3 Rz 19). Eine Entsendezulage, die ua den Zweck hat, höhere Aufwendungen des entsandten AN aufgrund höherer Lebenshaltungskosten im Ausland abzugelten bzw eine Annäherung an das dortige Lohnniveau zu bewirken, ist richtigerweise bei der Berechnung der im Ausland zustehenden Mindestlöhne anzurechnen, nicht jedoch Aufwandsentschädigungen für Fahrt- oder Unterbringungskosten. Die Qualifikation von Taggeldern und Weggzeitenentschädigungen für Reisebewegungen im Empfangsstaat selbst als Bestandteile des Mindestlohns ist jedoch keine Frage der Anrechnung und kann daher auch nicht mit Art 3 Abs 7 Entsende-RL begründet werden. Hier geht es nur um die Frage, ob diese Zulagen als Bestandteile des Mindestlohns iSd Art 3 Abs 1 Entsende-RL angesehen werden können, und diesbezüglich verweist die RL ausdrücklich auf das Recht des Empfangsstaats.

Die Rsp des EuGH zu Zulagen ist aber schon in seiner Vorjudikatur unklar, insb weil den verschiedenen Kammern (jeweils nur kleine) des EuGH die eben dargestellten unterschiedlichen Perspektiven nicht bewusst sein dürften. Fragen der Anrechnung (so in EuGH Rs Kommission/Deutschland) werden mit Fragen der Definition des Mindestlohns (Rs Isbir) vermischt. Der EuGH hat in der Rs Kommission/Deutschland festgehalten, dass nur solche Zulagen und Zuschläge, die das Verhältnis zwischen der Leistung des AN und der von ihm erbrachten Gegenleistung nicht verändern, auf den Mindestlohn angerechnet werden können. Ein 13. und 14. Monatsgehalt ist daher anzurechnen, Feiertagszuschläge, Schmutzzulagen etc dagegen nicht. ME ist es jedoch völlig verfehlt, wenn der EuGH daraus auch schließt, dass solche Zulagen nicht als Bestandteile des Mindestlohns im Empfangsstaat selbst qualifiziert werden können (so aber EuGH Rs Isbir). Für die Definition des Mindestlohns sind wie erwähnt die Mitgliedstaaten zuständig. Manche Lohnschemata mögen so aufgebaut sein, dass sich der Lohn, auf den ein inländischer AN gesetzlichen oder tarifvertraglichen Anspruch hat, zu einem hohen Prozentsatz aus Zulagen zusammensetzt. Es wäre unverständlich, warum etwa Gefahren- und Schmutzzulagen, die für den inländischen AN zum Mindestlohn zählen, nicht auch vom Entsender bezahlt werden müssten. Es widerspräche dem Ziel der Entsende-RL, eine gleiche Wettbewerbssituation zwischen in- und ausländischen Unternehmen in Bezug auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen herzustellen, wenn dieser Prozentsatz an Zulagen nicht auch den entsandten AN als Mindestlohn bezahlt werden müsste. Es bleibt zu hoffen, dass der EuGH in einer nächsten E diese drei Urteile grundlegend überdenkt und mehr Klarheit in diese Materie bringt.

Richtig dagegen ist die E, dass Unterbringungskosten und Essensgutscheine (Rn 58, 61), die die polnischen Bauarbeiter vom Entsender erhalten, auf den finnischen Mindestlohn nicht anzurechnen sind. Diese sind als eine Art Aufwandsentschädigung, nun tatsächlich richtig mit Art 3 Abs 7 Entsende-RL begründet, von der Anrechnung auf den Mindestlohn des Empfangsstaats ausgenommen. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass diese Regelung allerdings dazu führen kann, dass die514 Lohnkosten für Entsender während der Zeit der Entsendung über denen liegen können, die die Unternehmen des Empfangsstaats zu tragen haben, was wiederum zu Wettbewerbsverzerrungen führt (Rebhahn, Entsendung von Arbeitnehmern in der EU – arbeitsrechtliche Fragen zum Gemeinschaftsrecht,

).

Auch die Entscheidung, dass die Vergütung, die während des Urlaubs gezahlt wird, zum Mindestlohn zählt, ist richtig. Hier handelt es sich lediglich um den während des Urlaubs fortzuzahlenden Lohn.