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Pflegegeldanspruch eines schwer behinderten Kindes: Zuerkennung außergewöhnlichen Pflegebedarfs bei notwendiger mehrmaliger nächtlicher Nachschau schließt Erschwerniszuschlag nicht aus.

ANDREATUMBERGER

Der am 16.8.2012 geborene Kl wurde von der AK Wien im Verfahren vor dem OLG vertreten, das Urteil ist rechtskräftig. Dem Kl wurde von der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) Pflegegeld der Stufe 2 zugesprochen. Die dagegen eingebrachte Klage begehrte eine höhere Einstufung und das Erstgericht sprach dem Kl ab 1.9.2014 Pflegegeld der Stufe 5 zu.36

Der grundsätzliche Pflegemehrbedarf gegenüber einem gesunden Kind beträgt 142,5 Stunden pro Monat. Weil beim Kl mehrere voneinander unabhängige Funktionseinschränkungen vorliegen, wurde der Erschwerniszuschlag gem § 4 Abs 3 BPGG bis zum vollendeten 7. Lebensjahr in Höhe von 50 Stunden monatlich angerechnet. Damit liegen insgesamt 192,5 Stunden Pflegebedarf vor. Weiters ist aufgrund der mangelnden Mobilität beim Kl eine vier- bis fünfmalige nächtliche Nachschau notwendig: Der Kl ist nicht in der Lage, sich selbstständig aus Gefahrensituationen zu befreien. Aufgrund dessen stellte das Erstgericht zusätzlich einen außergewöhnlichen Pflegebedarf (§ 4 Abs 2 BPGG iVm § 6 EinstV) fest, womit die Voraussetzung für die Pflegegeldstufe 5 erfüllt ist.

In der Berufung brachte die PVA vor, dass eine unrichtige rechtliche Beurteilung vorliege. Ein Pflegeaufwand, der auch bei einem nicht behinderten Kind altersbedingt anfalle, könne nicht als „außergewöhnlich“ iSd Anspruchsvoraussetzungen für die Stufe 5 gewertet werden. Es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass auch ein gleich altes gesundes Kind immer wieder während der Nacht aufwache und eine Nachschau erforderlich sei.

Selbst wenn im Vergleich zu einem nicht behinderten gleichaltrigen Kind ein bestehender Mehraufwand vorliegen würde, dann wäre dieser bereits durch den Erschwerniszuschlag abgedeckt. Daher liege kein außergewöhnlicher Pflegebedarf vor und somit bestehe nur Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 4.

Der OGH bestätigte demgegenüber den Anspruch auf die Pflegegeldstufe 5. Der Vergleich mit einem gesunden Kind gleichen Alters ergibt den vom Erstgericht festgestellten außergewöhnlichen Pflegebedarf: Zwar wachen auch gesunde Kinder nachts auf und verlangen die Aufmerksamkeit ihrer Eltern, es muss jedoch nicht Nachschau gehalten werden, ob sich das Kind in einer Gefahrensituation befindet. So kann sich etwa ein zwei- bis dreijähriges Kind selbstständig aus der Bettdecke befreien, wenn ihm diese über Mund und Nase gerutscht ist. Das ist beim Kl nicht der Fall.

Gegen das Argument, dass der außergewöhnliche Pflegeaufwand bereits durch den Erschwerniszuschlag berücksichtigt sei, hielt das OLG fest, dass mit der Einführung des Erschwerniszuschlags die Berücksichtigung von pflegeerschwerenden Faktoren angestrebt wurde, die davor, auch durch die Zusatzkriterien für die Stufen 5 bis 7 noch keine Berücksichtigung fanden, so dass eine Doppelverwertung hintangehalten wird (EB 677 BlgNR 23. GP 7). Eine Doppelverwertung ist daher ausgeschlossen (Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld3 [2013] Rz 719).

Dies trifft auch auf den vorliegenden Fall zu: Während durch die Berücksichtigung des Erschwerniszuschlags jene pflegeerschwerenden Faktoren berücksichtigt werden, die sich aus dem Zusammentreffen der schweren Ernährungsstörung, des Ausbleibens der motorischen Entwicklung und des Ausbleibens der Sprachentwicklung ergeben, resultiert der außergewöhnliche Pflegemehrbedarf aus dem Erfordernis der nächtlichen Nachschau in relativ kurzen Zeitabständen. Die Gewährung des Erschwerniszuschlags steht daher der Annahme eines behinderungsbedingten außergewöhnlichen Pflegebedarfs nicht entgegen.