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Neubemessung des Pflegebedarfs nach Vollendung des 15. Lebensjahres

ANDREATUMBERGER

Das Überschreiten des 15. Lebensjahres stellt eine wesentliche Änderung beim Pflegebedarf dar, aufgrund dessen eine Neubemessung des Pflegegeldes zulässig ist, ohne dass eine Gegenüberstellung des Zustandsbildes des Pflegebedürftigen und des damit verbundenen Pflegebedarfs zum Zeitpunkt der Gewährung zu jenem im Zeitpunkt der Neubemessung des Pflegegeldes zu erfolgen hat.

SACHVERHALT

Der zum Zeitpunkt der Klage 24-jährige Kl leidet seit seiner Geburt an Mukoviszidose, die Diagnose wurde im 7. Lebensmonat gestellt. Aufgrund dieser Erkrankung und anderer gesundheitlicher Beeinträchtigungen bezog er bereits als Kind, damals noch nach dem Landespflegegesetz, Pflegegeld.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Zuletzt wurde beim damals 14-jährigen Kl der Pflegebedarf zur Bemessung des Pflegegeldes im Jahr 2003, mit der Zuerkennung der Stufe 5, beurteilt. Mit Bescheid entzog die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) dem Kl im November 2013 das Pflegegeld mit Ablauf des Monats Dezember 2013. Gegen den Entziehungsbescheid vom November 2013 brachte der Kl eine Klage ein und begehrte zumindest das Pflegegeld der Stufe 1 in gesetzlicher Höhe. Auch wenn er mittlerweile das 15. Lebensjahr überschritten habe, habe sich sein Gesundheitszustand im Vergleich zum Gewährungsbescheid in Bezug auf die Mukoviszidose nicht wesentlich gebessert.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren des Kl mit der Begründung ab, dass die letzte Gewährung des Pflegegeldes 2003 erfolgt sei und der Kl damals 14 Jahre alt war. Aufgrund der altersbedingt geänderten Kriterien bei der Ermittlung des Pflegegeldes sei eine Neueinstufung erforderlich, ohne dass es auf sonstige geänderte Verhältnisse ankomme. Der Kl benötige nur noch einen durchschnittlichen Pflegeaufwand in der Höhe von 40 Stunden monatlich. Daher bestehe kein Anspruch auf Weitergewährung des Pflegegeldes. Der dagegen erhobenen Berufung des Kl gab das Berufungsgericht nicht Folge.

Die dagegen erhobene ordentliche Revision erachtete der OGH für zulässig, aber nicht berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Nach § 9 Abs 4 BPGG kann ein rechtskräftig zuerkanntes Pflegegeld entzogen werden, wenn eine Voraussetzung für die Gewährung wegfällt. Das Pflegegeld ist neu zu bemessen, wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintritt.

Demnach setzt ein Leistungsentzug grundsätzlich eine wesentliche Veränderung des Zustandsbildes des Pflegebedürftigen und in dessen Folge eine Änderung im Umfang des Pflegebedarfs voraus, die die Gewährung einer anderen Pflegegeldstufe erforderlich macht. Ausgehend von den Tatsachengrundlagen ist zu beurteilen, ob sich die objektiven Grundlagen für die seinerzeitige Leistungszuerkennung so wesentlich geändert haben, dass sich eine Veränderung mit Anspruch auf eine andere Pflegegeldstufe ergeben hat. Dabei sind auch die Änderungen im Pflegebedarf, der für das Ausmaß der Pflegegeldstufe maßgeblich ist, zueinander in Beziehung zu setzen, um daraus ableiten zu können, ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist (RIS-Justiz RS0123144; 10 ObS 150/07t, SSV-NF 21/88 ua; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld [2013] Rz 276). […] § 4 Abs 3 BPGG sieht vor, dass bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen ist, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht (= Differenzpflegebedarf). Die Altersgrenze von 15 Jahren wurde mit der Änderung des BPGG BGBl I Nr 128/2008 eingeführt und trat mit 1.1.2009 in Kraft (§ 49 Abs 13 BPGG). […] Damit waren bei Kindern und Jugendlichen auch schon vor Einführung der konkreten Altersgrenze andere Kriterien für die Ermittlung des Pflegebedarfs maßgebend als bei Erwachsenen. Erreicht der Pflegegeldempfänger ein Alter, in dem eine nicht pflegebedürftige Person keiner Betreuung mehr bedarf, ist der Pflegebedarf nach anderen rechtlichen Grundsätzen – nämlich ohne die dargestellten Besonderheiten des Differenzpflegebedarfs – zu beurteilen. Diese Änderung in den rechtlichen Beurteilungskriterien stellt aber eine wesentliche Änderung iSd § 9 Abs 4 BPGG dar, die eine Neubemessung des Pflegegeldes erlaubt, ohne dass eine Gegenüberstellung des Zustandsbildes des Pflegebedürftigen und des damit verbundenen Pflegebedarfs zum Zeitpunkt der Gewährung zu jenem im Zeitpunkt der Neubemessung des Pflegegeldes zu erfolgen hätte. […] Zu Recht sind daher die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass eine Neubemessung allein aufgrund der für den Pflegebedarf des Klägers nunmehr geltenden anderen rechtlichen Voraussetzungen zulässig ist. […] Da die Vorinstanzen nach dem festgestellten Sachverhalt zu Recht von einem unter dem gesetzlichen Mindestausmaß liegenden durchschnittlichen Pflegebedarf ausgegangen sind, hat der Kläger keinen Anspruch auf Pflegegeld.“

ERLÄUTERUNG

Der vorliegende Fall ist wahrscheinlich kein typischer Fall, der die Härte des BPGG, bei Vollendung38 des 15. Lebensjahres zum Ausdruck bringt, weil der Kl zum Entziehungszeitpunkt bereits das 24. Lebensjahr überschritten hat. Eine aufgrund der Vollendung des 15. Lebensjahres geänderte Beurteilung des Pflegebedarfs ist nach derzeitiger Rechtslage zulässig, aber für den/die Einzelne/n eine nicht leicht nachvollziehbare Entscheidung.

Eine Gegenüberstellung des Gewährungsgutachtens des Pflegegeldes mit dem Gutachten der Neubemessung/ Entziehung wäre allerdings aufgrund der unterschiedlichen Ermittlung des Pflegebedarfs tatsächlich nicht möglich.

Bei der Bestimmung des Differenzpflegebedarfs für Kinder gelten keine Mindest-, Richt- und Fixwerte, es wird der im Einzelfall notwendige Pflegebedarf herangezogen. Bei der Ermittlung des Differenzpflegebedarfs werden drei Fallgruppen berücksichtigt: 1. Ein gesundes Kind im gleichen Alter könnte es (eine bestimmte Verrichtung) bereits. 2. Bei einem behinderten Kind muss mehr Zeit aufgewendet werden. 3. Ein gesundes gleichaltriges Kind kann es auch nicht, braucht es aber auch nicht oder nicht so häufig. Nun wird der konkret notwendige Betreuungsbedarf abzüglich des natürlichen, altersbedingten Pflegebedarfs eines ansonsten gesunden Kindes berechnet.

Im Gegensatz dazu wird bei einem Erwachsenen der Pflegebedarf bei Hilfsverrichtungen, wie zB Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, nach fixen Zeitwerten bemessen. Bei der Ermittlung des Betreuungsbedarfs, zB beim An- und Auskleiden, gelten Richt- und Mindestwerte, die bei einer erheblichen Überschreitung oder einer deutlichen Unterschreitung auch im jeweils notwendigen Ausmaß angenommen werden.

Das Kernproblem bei der Gewährung von Pflegegeld an Kinder- und Jugendliche ist demnach die doch sehr frühe (gesetzliche) Qualifikation eines Jugendlichen als Erwachsener (nämlich mit Vollendung des 15. Lebensjahres). Nimmt man das Beispiel der selbstständigen Zubereitung einer hochkalorischen Diätnahrung, wie es für einen Mukoviszidose-Patienten notwendig ist, dann fällt es schwer, glauben zu können, dass ein pubertierender Jugendlicher die dafür notwendige Vernunft und Disziplin aufbringen kann. In einem solchen Fall wäre es wohl angebracht, ein psychiatrisches Gutachten einzuholen, in dem beurteilt wird, ob sich der jugendliche Kl dieser Verantwortung bewusst ist und ob er über die notwendige Disziplin verfügt. Die Pubertät ist sicher für alle eine schwierige Phase, aber ganz besonders für Kinder, die von Geburt an an einer chronischen Krankheit leiden. Alleine die Vollendung eines bestimmten Lebensjahres macht einen noch nicht zum Erwachsenen. Zu überlegen wäre eine Novellierung des Gesetzes dahingehend, dass die Beurteilung als Erwachsener erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres beginnt.