HöpfnerDie Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis

Nomos Verlag, Baden-Baden 2015 728 Seiten, gebunden, € 148,–

MARTINRISAK (WIEN)

Kollektive Verhandlungen um Arbeitsbedingungen und der Abschluss von Kollektivverträgen (bzw nach deutscher Terminologie: Tarifverträgen) sind in erster Linie nicht das Produkt gesetzgeberischer Planung und Aktivitäten, sondern das Resultat der Selbstorganisation und der Solidarisierung von AN zur Verbesserung ihrer als unakzeptabel empfundenen Arbeits- und Lebensbedingungen. Zunächst waren sie vor allem auch wegen der damit verbundenen Arbeitskämpfe und den daraus folgenden Störungen des Wirtschaftslebens rechtlich verpönt und verboten, da sie als Fremdkörper in einer an individuellen Rechten ausgerichteten bürgerlichen Rechtsordnung empfunden wurden. Erst nach und nach kam es zu einer politischen und auch rechtlichen Akzeptanz und schließlich zu deren Regulierung: In Deutschland und Österreich gilt der Tarifvertrag bzw KollV kraft gesetzlicher Anordnung unmittelbar und zwingend in den ihm unterworfenen Arbeitsverhältnissen. Die darauf beruhenden Rechtspositionen können individuell vor den Gerichten durchgesetzt werden. Damit ist der Tarifvertrag bzw KollV eine eigene über die an dessen Abschluss beteiligten Parteien hinaus wirkende Rechtsquelle, die mit ihrer normativen Wirkung die Relativität der Schuldverhältnisse durchbricht und daher einer eigenen Legitimation bedarf.

Das vorliegenden Werk, die Habilitationsschrift von Clemens Höpfner, nunmehr Professor an der Universität Konstanz, liefert diese in umfassender Weise und erarbeitet auf Basis der historischen und ideengeschichtlichen Entwicklung die Funktionsweise und Legitimation der normativen Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis. Die Möglichkeit des Abschlusses von Tarifverträgen für arbeitnehmerähnliche Personen (§ 12a TarifvertragsG) wird hingegen nicht behandelt; auch ist das ohnehin schon sehr umfangreiche Werk nicht rechtsvergleichend angelegt, sondern beschränkt sich auf die deutsche Rechtslage (und Literatur).

Das erste Kapitel ist der Genese des Koalitions- und Tarifvertragsrechts gewidmet und zeigt kundig die Entwicklung von einer koalitionsfeindlichen Rechtsordnung hin zu einer die Koalitionsfreiheit (und damit den Tarifvertrag) anerkennenden auf. Im zweiten Kapitel wird die Grundlegung der Tarifgeltung behandelt, wobei zwei unterschiedliche grundsätzliche Ansätze einander gegenübergestellt werden, die zeitlich aufeinanderfolgend das deutsche Tarifvertragsverständnis prägten. Während insb von Lotmar um 1900 versucht wurde, diese individualrechtlich auf Basis der Rechtsgeschäftslehre zu begründen, ist andererseits Sinzheimer, der nicht nur das deutsche Arbeitsrecht grundlegend beeinflusst hat, kollektivistisch orientiert. Höpfner dürfte ersterem theoretischen Ansatz einer individualautonom-mandatarischen Legitimation der tariflichen Normsetzungsbefugnis näherstehen. Er sieht die Funktion des Tarifvertrages neben dem Schutz der AN und der Befriedung der Arbeitsbeziehungen auch in der „Wahrung der Privatautonomie am Arbeitsmarkt“ (S 229). Die notwendige Legitimation für die normative Wirkung des Tarifvertrages und damit den Eingriff in die Privatautonomie wird aus der freiwilligen Verbandsmitgliedschaft abgeleitet. Die mitgliedschaftliche Legitimation rechtfertigt auch die Bindung an nach dem Mehrheitsprinzip getroffene verbandsinterne Beschlüsse. Konsequent werden daher alle Fälle einer Tarifgeltung ohne eine solche Legitimation als problematisch angesehen, die im fünften Kapitel über die gesetzliche Erweiterung der Tarifgeltung behandelt werden. Es geht dabei um die Tarifbindung nach Verbandsaustritt, die Nachwirkung nach Beendigung des Tarifvertrages oder der (vertraglichen) Fortgeltung nach Betriebsübergang – diesen steht der Autor ebenso kritisch gegenüber wie der Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Aus diesem Ansatz heraus vertritt Höpfner zB entgegen dem BAG, dass eine vorbeugende Vertragsgestaltung für den Fall der Beendigung der Tarifgebundenheit, der eine Nachwirkung auslösen würde, zulässig sei. Es können sE somit schon im Voraus vom Tarifvertrag abweichende Regelungen vereinbart werden, die bei dessen Ablauf wirksam werden. Auch die sozialpartnerschaftlich geprägte Festlegung des Mindestlohns nach dem deutschen MindestlohnG wird negativ bewertet (S 490). Ebenso wird eine über die Vertretung der Mitglieder hinausgehende Ordnungsaufgabe des Tarifvertrages grundsätzlich abgelehnt (S 228).

Der negativen Koalitionsfreiheit wird ein eigenes Kapitel gewidmet und dabei zwischen dem „Fernbleiberecht“ der AG und AN einerseits und der negativen Tarifvertragsfreiheit andererseits unterschieden. Ersteres ergibt sich nicht unbedingt aus Art 9 Abs 3 deutsches Grundgesetz, aber jedenfalls aus Art 11 EMRK und nunmehr auch aus Art 28 GRC. Fraglich ist, ob davon inhaltlich die negative Tarifvertragsfreiheit umfasst ist iSd Schutzes vor jeder Art der Tarifgeltung ohne privatrechtliche Legitimation; das (deutsche) Bundesverfassungsgericht und das Bundesarbeitsgericht halten freilich weiterhin an einem rein mitgliedschaftsbezogenen Verständnis der negativen Koalitionsfreiheit fest, das die (negative) Tarifvertragsfreiheit nicht unbedingt mitumfasst. Neue Impulse werden diesbezüglich in der Rsp des EuGH (Rs Werhof, Alemo-Herron, Scattolon) im Zusammenhang mit dem Betriebsübergang und der Tarifbindung der ErwerberInnen verortet. Höpfner sieht in diesem Zusammenhang nur eine zeitlich begrenzte Nachbindung für zulässig an – eine „ewige“ Nachbindung (und so wohl auch § 8 Z 2 ArbVG) verstoße gegen die negative Koalitionsfreiheit.

Das letzte Kapitel widmet sich dem Günstigkeitsprinzip als Grenze der Tarifgeltung sowie den kartellrechtlichen Grenzen, die durch die jüngere EuGH-E FNV Kunsten Informatie en Media wieder ins juristische Rampenlicht gerückt sind. Dabei werden die Grenzen der beschränkten Bereichsausnahme (Abschluss zwischen SozialpartnerInnen, Tarifverhandlungen, Verbesserung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen) dargelegt und in ihren Konsequenzen diskutiert.

Für Österreich fehlt eine derartige umfassende Aufarbeitung der Geltung von Kollektivverträgen, weshalb224 die Lektüre schon deshalb sehr lohnend und anregend ist. Die Ergebnisse können jedoch auf Grund wesentlicher Unterschiede im Koalitions- und Kollektivvertragsrecht (insb Pflichtmitgliedschaft zu gesetzlichen Interessenvertretungen, AußenseiterInnenwirkung, Ordnungsprinzip) nicht 1:1 übertragen werden und würden wohl in vielen Punkten anders ausfallen. Damit bietet das Werk auch wegen der in die Tiefe gehenden Problemaufarbeitung und des grundsätzlichen theoretischen Zugangs eine gute Gelegenheit, sich der Besonderheiten des hiesigen Kollektivvertragssystems bewusst zu werden und über seine Legitimation zu reflektieren.