Groeben/Schwarze/Hatje
Europäisches Unionsrecht – EUV, AEUV, GRC

7. Auflage, Nomos Verlag, Baden-Baden 2015, 4 Bände, 8.372 Seiten, gebunden, € 915,–

ELIASFELTEN (SALZBURG)

Der vorliegende Kommentar zum Recht der Europäischen Union ist ein sogenannter „Großkommentar“. In vier Bänden wird das gesamte Primärrecht der EU, also der EUV, AEUV und die GRC, von ausgewiesenen ExpertInnen einer ausführlichen und tiefgehenden Kommentierung unterzogen. Unter den KommentatorInnen finden sich sowohl Rechtsgelehrte, größtenteils aus der BRD, als auch RechtspraktikerInnen, vor allem auch solche, die unmittelbar in den diversen Institutionen der EU beschäftigt und damit intime KennerInnen des Unionsrechts sind.

Bd 1 beschäftigt sich mit dem EUV, der GRC und den Art 1 bis 66 AEUV. In Bezug auf den EUV sind vor allem die Ausführungen von Jacqué zu Art 2 von Interesse. Dieser beschäftigt sich mit den „Werten“ der EU und hält fest, dass diese Werte allen Mitgliedstaaten in einer Gemeinschaft gemeinsam sind, die sich ua durch „Solidarität“ auszeichnet. Dh, dass die „Solidarität“ auch ein Wert der EU ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es befremdlich, dass zurzeit eine politische Debatte über die Frage geführt wird, ob – und wenn ja, in welchem Ausmaß – EU-Bürger Zugang zu Sozialleistungen anderer Mitgliedstaaten haben sollen. Diese ist nämlich im Kern auf eine „Entsolidarisierung“ gerichtet und findet zunehmend auch ihren Niederschlag in der Rsp des EuGH. So hat der EuGH zuletzt in der Rs Dano (C-333/313) festgehalten, dass es mit dem Unionsrecht vereinbar sei, wenn EU-Bürger, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen bzw nachgehen wollen, von der deutschen Hartz-IV-Leistung ausgeschlossen werden. MaW, der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Gleichbehandlungsanspruch von EU-Bürgern in sozialen Angelegenheiten beschränkt werden kann. In diesem Punkt ist die Unionsrechtslage tatsächlich nicht eindeutig. Darüber hinaus ist nicht zu negieren, dass es Fälle missbräuchlicher Inanspruchnahme von Sozialleistungen gibt; letztlich der Auslöser für die politische Diskussion. Was freilich überrascht, ist, dass in den einschlägigen Entscheidungen des EuGH (Dano, Alimanovic) der Begriff „Solidarität“ nicht einmal vorkommt, obgleich es sich gem Art 2 EUV um einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts handelt. Das alleine zeigt bereits das amibivalente Verhältnis der Union zum Begriff der „Solidarität“. Darauf weist auch Jacqué hin und zwar mit der pointierten Bemerkung, dass der „Solidaritätsbegriff wie ein Mantra in Bereichen genannt wird, in denen Solidarität gerade am wenigsten gelebt wird“ (vgl Art 2 EUV Rz 8). Das liegt wohl auch daran, dass nicht klar ist, welchen rechtlichen Gehalt die „Werte“ der Union haben. Unzweifelhaft ist freilich, dass sie zumindest als Auslegungsgrundsatz beachtlich sind – also auch dann, wenn es um die Auslegung des Gleichbehandlungsanspruches in sozialen Angelegenheiten geht. Jacqué ist daher vollinhatlich darin beizupflichten, dass auch wenn das Solidaritätskonzept des EUV primär programmatischer Natur ist, das nicht bedeutet, „dass der Rückgriff auf Solidarität jeglicher juristischer Bedeutung entbehrt“ (vgl Art 2 EUV Rz 9).

Das gilt umso mehr, als der Begriff der „Solidarität“ eine inhaltliche Konkretisierung durch die Grundrechtecharta erfahren hat und zwar mit ganz unterschiedlicher Prägung. Spätestens seit dem Inkrafttreten der GRC ist klar, dass sich die Solidarität auch auf die Sozialpolitik der Union sowie der Mitgliedstaaten bezieht (vgl Titel IV). Ausfluss dieses Prinzips ist sowohl Art 28, der ein Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen garantiert als auch Art 34, der den Zugang zu sozialer Sicherheit und sozialer Unterstützung sicherstellt.

Die Kommentierung des Art 28 GRC verantwortet Lembke. Sie stützt sich im Wesentlichen auf die einschlägige Judikatur und Literatur. Dennoch bleiben ihre Ausführungen – vor dem Hintergrund, dass es sich um einen Großkommentar handelt – mancherorts (zu sehr) an der Oberfläche. Wenig überzeugend ist beispielsweise, dass Art 28 EGRC nur für die überbetriebliche Ebene gelten soll (Art 28 GRC Rz 8). In Art 28 ist ausdrücklich die Rede davon, dass das Recht auf Kollektivverhandlungen „auf den geeigneten Ebenen“ besteht. Dass grundsätzlich auch auf der betrieblichen Ebene Verhandlungen um kollektive Inhalte geführt werden können, belegt die Praxis. Folglich ist auch die betriebliche Ebene eine „geeignete“ iSd Art 28. Dagegen lässt226 sich auch nicht Art 27 GRC einwenden. Art 27 ist nicht lex specialis zu Art 28, sondern regelt einen anderen Fall – nämlich das Recht auf Information und Anhörung im Unternehmen. Das ist etwas gänzlich anderes als ein Recht auf Kollektivvertragsverhandlungen. Zu weitgehend sind mE auch die Ausführungen zu den aus Art 28 resultierenden staatlichen Verpflichtungen. So stellt sich die Frage nach der normativen Anknüpfung für die These, dass der Staat Rahmenbedingungen für das Recht auf Kollektivverhandlungen garantieren muss, „unter denen Selbstregulierung sozial verträglich“ erfolgen kann (Art 28 GRC Rz 9). Daraus leitet Lembke nämlich die Notwendigkeit ab, das die Sozialpartner in einem ausgewogenen Kräfteverhältnis stehen und die Interessen der Betroffenen tatsächlich repräsentieren müssen (Art 28 GRC Rz 9). Zwar ist ein solches auf Repräsentation und sozialem Ausgleich ausgelegtes Kollektivvertragssystem zweifelsohne mit Art 28 GRC vereinbar. Eine Verpflichtung dazu ist Art 28 freilich nicht zu entnehmen. Das Unionsrecht würde mE auch ein System tragen, das Kleingewerkschaften den Zugang zum Abschluss von Kollektivverträgen ermöglicht. Das hängt letztlich von den Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten des jeweiligen Mitgliedstaates ab. Zu dieser Frage, wieweit die Gestaltungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten konkret gehen, äußert sich Lembke im Grunde gar nicht. Sie spricht lediglich von einem „weiten Ausgestaltungsvorbehalt“ (Art 28 GRC Rz 11). Für die Praxis hilft das freilich nur wenig. Hier wäre eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik wünschenswert gewesen. Positiv hervorzuheben ist allerdings, dass Lembke ein Kernproblem der GRC erkennt. Die Unbestimmtheit der darin enthaltenen Normen bewirkt letztlich einen – demokratiepolitisch kritischen – Machtzuwachs des EuGH (Art 28 GRC Rz 14).

Eher kursorisch gehalten sind auch die Ausführungen zu Art 34. So hält Lembke beispielsweise fest, dass dieser Artikel sowohl Grundsätze als auch Grundrechte beinhaltet (Art 34 GRC Rz 7). Welche Rechtfolgen sich jedoch an diese unterschiedliche rechtliche Qualifikation knüpfen, bleibt offen. Wenig aussagekräftig sind auch die Feststellungen zum Recht auf soziale Leistungen bei Aufenthaltswechsel (Art 34 Rz 12 ff). Die aktuelle Diskussion um das Verhältnis von Gleichbehandlungsanspruch und Aufenthaltsrecht wird nicht einmal erwähnt, geschweige denn, dass in diesem Zusammenhang auf die schon zitierte Judikatur des EuGH in den Rs Brey, Dano oder Alimanovic eingegangen wird.

Ungleich ausführlicher sind hingegen die Kommentierungen der Art 153 ff AEUV zu den sozialpolitischen Kompetenzen der EU im Bd 4 des Kommentars. So arbeitet beispielsweise Langer mit überzeugenden Argumenten heraus, dass sich Art 153 Abs 1 lit c und k – anders als nach Art 48 AEUV – nicht nur eine Kompetenz zur Koordinierung, sondern sogar zur Harmonisierung der Systeme der sozialen Sicherheit entnehmen ließe; wenn auch nur in eingeschränktem Umfang (Art 153 AEUV Rz 22). Eine Feststellung, die bis dato noch wenig Beachtung gefunden hat. Wichtig sind auch Langers Ausführungen zur Relativität der Ausnahmetatbestände des Art 153 Abs 5 AEUV. Auch wenn das „Arbeitsentgelt“ ausdrücklich von der Regelungskompetenz der Union ausgenommen ist, kommt dieser über die „Hintertür“ des Antidiskriminierungsrechts sowohl in Gestalt des Art 157 als auch des Art 45 AEUV doch eine umfassende Gestaltungsbefungis zu (Art 153 Rz 46). Vergleichbares gilt für den Ausnahmetatbestand des „Koalitionsrechts“. Dieser ist tatsächlich eng auszulegen und bezieht sich lediglich auf die innere Organisation von Koalitionen. Jedenfalls nicht erfasst ist das Recht auf Betätigung im Außenverhältnis, insb das Recht auf Kollektivverhandlungen. Dieses ist vielmehr von der Regelungskompetenz des Art 153 Abs 1 lit f erfasst (Art 153 Rz 47).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Großkommentar zum Europäischen Unionsrecht eine profunde und ausführliche Kommentierung zu allen primärrechtlichen Rechtsquellen liefert. Alleine dafür, dass sich die Herausgeber dieser Herausforderung gestellt haben, gebührt ihnen Anerkennung. Freilich gibt es zu den einzelnen Rechtsquellen inzwischen auch eine Vielzahl gesonderter Kommentierungen – zum Teil auch ausführlichere als die Gegenständliche. In der Tat ist es ein schwieriger Spagat einerseits umfassend, andererseits auch tiefgehend zu sein. Dem vorliegenden Großkommentar gelingt dieser (weitgehend) uneingeschränkt.