Der Ursprung der Selbstverwaltung der Krankenversicherung

STEFANWEDRAC (WIEN)

Die Selbstverwaltung in der SV Österreichs gilt heute als eine Selbstverständlichkeit. Nicht so selbstverständlich ist jedoch die Kenntnis ihrer Geschichte,* insb ihrer Anfänge. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Entstehung der Selbstverwaltung in der KV im Laufe des 19. Jahrhunderts. Ihre Wurzeln reichen jedoch viel weiter zurück: Im Mittelalter entstanden unter den Handwerksgesellen der Städte und den Bergleuten religiös konnotierte Bruderschaften zur gegenseitigen Hilfe, etwa für den Krankheitsfall. Die Gesellenbruderschaften kamen früher auf, die „Bruderladen“ der Bergleute erlangten hingegen wirtschaftlich größere Bedeutung. Ein Beispiel ist die Schlaggenwalder Bergordnung von 1548: „So ein Gesell, aus der Knapschafft kranck würde, so sol man ihme, nach gelegenheit seiner kranckheit, und nach Bergmeisters, Geschwornen, und Eltisten der Knapschaft erkentnus aus der Büchsen leyhen, doch, das der krank, so viel müglichen zu thun, solchs widerumb zu erlegen, einen vorstandt habe.* Verwaltet wurden diese Einrichtungen von einem Ältestenrat der Bergleute selbst, die Obrigkeit hielt sich mit Eingriffen zurück. Die Bruderladen genossen das Vertrauen der Bergleute und überdauerten erfolgreich Jahrhunderte.*

Die erste umfassende, vereinheitlichende legislatorische Aktivität auf diesem Gebiet war das Allgemeine Berggesetz (ABG) 1854.* Es löste die verschiedenen alten Bergordnungen ab, hob die Bruderladen damit auf und normierte in den §§ 210-214 einen Einrichtungs- und Beitrittszwang für Krankenkassen: Bergwerksbetreiber mussten solche gründen und die AN hatten beizutreten und Beiträge zu bezahlen.*

Das ABG führte jedoch nicht zur flächendeckenden Gründung von Krankenkassen in Bergwerksunternehmen,* denn es gab zahlreiche Probleme damit: Es fehlten Strafbestimmungen, falls keine Kasse errichtet wurde, die Beitragspflicht traf nur die AN und die Verwaltung lag bei den Unternehmern. Die Statuten der Kassen, welche ua die Kassenverwaltung betrafen, sollten „unter Mitwirkung eines von dem Arbeiterpersonale zu wählenden Knappschafts-Ausschusses“* erstellt werden. Damit war die direkte Verwaltung durch die Versicherten jedoch schwer möglich.* Die Regelungen des ABG waren also unbefriedigend und es häuften sich in der Folgezeit die Beschwerden, wie etwa in einer Ausgabe des „Österreichischen Arbeiter-Kalenders“ nachzulesen ist:

„Die Arbeiter sind ‚verpflichtet‘, den Bruderladen anzugehören; durch die monatlichen Einzahlungen werden die Ausgaben gedeckt, entsteht nach und nach das ‚Kapital‘, welches bei manchen Werken bereits die Höhe von 15 bis 20.000 Gulden erreicht hat. Dieses Geld wurde, ... von den Arbeitern ... eingezahlt, es ist, ... ihr Eigenthum. – Wie wird aber mit diesem Eigenthum der armen Leute gewirtschaftet? Haben dieselben das Recht, dieses Geld zu verwalten? Wird ihnen Rechnung gelegt? Wissen bei den meisten Werken die Arbeiter, wie hoch sich das Vermögen der Bruderlade, also ihr eigenes Vermögen, beläuft? – Leider nein! ... Die Arbeiter haben einfach die Pflicht zu zahlen und zu schweigen; die Besitzer oder Beamten haben das Recht, zu nehmen, zu verwalten und diejenigen, welche mit dieser Einrichtung nicht einverstanden sind, zu entlassen.“*

Auch außerhalb der Bergwerke gab es während der industriellen Revolution Bedarf für KV. In Bezug auf die Fabriksarbeiter und Handwerker ist die Gewerbeordnung 1859* relevant. Sie normierte für Fabriken und große Unternehmen mit über 20 Arbeitern die Einrichtung einer Krankenkasse: Wenn „mit Rücksicht auf die große Zahl der Arbeiter oder die Natur der Beschäftigung eine besondere Vorsorge für die Unterstützung der Arbeiter in Fällen der Verunglückung oder Erkrankung nöthig erscheint, ist der Unternehmer verpflichtet, unter Beitragsleistung der Arbeiter entweder eine selbständige Unterstützungscasse dieser Art bei seinem Etablissement zu errichten, oder einer schon bestehenden beizutreten.*

Die Gründung einer Kasse war also anders als im ABG nicht einmal verpflichtend und nur die Versicherten mussten bei solchen Fabrikskrankenkassen Beiträge zahlen. Es waren daher die kontrollieren-365den Verwaltungsbehörden, welche im Einzelfall die Gründung einer Krankenkasse anordneten.* Zur Verwaltung der Kassen schweigt die Gewerbeordnung völlig, also kam es kaum zu einem Einfluss der Versicherten auf ihr Institut. So wie beim ABG führte dies bald zu andauernder Kritik. Karl Türk, schlesischer Reichsratsabgeordneter und als junger Arzt bei einer solchen Kasse angestellt, drückte es folgendermaßen aus:

„Das sind nun die Betriebskassen, jene Kassen, welche unter der Ingerenz der Fabrikanten zustande gekommen sind, und ich gestehe gerne, dass in diesen Kassen die Arbeiter zwar einen Theil der Wohltat der Krankenversicherung genossen, zum größten Theile aber von jeder Theilnahme an der Verwaltung ausgeschlossen waren. Es waren auch noch andere Übelstände bei diesen Kassen vorhanden, und zwar insbesondere der, dass die Arbeiter mit der Zahlung der Beiträge auf sich allein angewiesen waren, ferner auch der Übelstand, dass ein Arbeiter, wenn er aus der Arbeit entlassen wurde oder freiwillig austrat, damit jeden Anspruch auf den Reservefond der Fabrikskrankenkasse verlor. ... Endlich lässt sich auch nicht verkennen, dass durch die Fabriks- und Betriebskrankenkassen in ihrer bisherigen Verwaltung und in ihren bisherigen Zuständen jedenfalls der Arbeiter in eine größere Abhängigkeit von den Fabrikbesitzern gelangt ist, dass die Verwaltung der Fabrikskrankenkassen, welche lediglich dem Arbeitgeber oblag, bisweilen ein Mittel mehr war, um den Arbeiter in Abhängigkeit und Gehorsam zu erhalten.“*

Die Gewerbeordnung legte außerdem fest, dass sich Gewerbetreibende einer Branche zu Genossenschaften zusammenschließen mussten, deren Angehörige alle Meister, Gehilfen und Lehrlinge waren. Ihre Zwecke waren die Organisation der Lehrlingsausbildung, Streitschlichtung, Verhinderung oder Beilegung von Arbeitskonflikten, Gemeinsamer Umgang mit Behörden und Handelskammern und „die Gründung von Anstalten zur Unterstützung der Mitglieder und Angehörigen der Genossenschaft in Fällen der Erkrankung oder sonstigen Nothlage, und die Beaufsichtigung dieser Anstalten* Die Gewerbeordnung bestimmte in Hinblick auf die Verwaltung lediglich Folgendes: „Bei der Verwaltung solcher Anstalten ... ist den Gehilfen ein angemessener Einfluß zu sichern.*

Mit diesen eben skizzierten Bestimmungen zu Genossenschafts- und Fabrikskrankenkassen war die KV der Arbeiterschaft nur unbefriedigend geregelt. Kritikpunkte waren, dass kaum Kassen errichtet wurden und wenn doch, dann waren sie in der Regel nicht von den Betroffenen verwaltet, was mitunter Misswirtschaft zur Folge hatte. Es kam also die Forderung auf, dass sich die Kassen selbst verwalten sollten.

Wollte man eine unabhängige Kasse gründen, kam nur ein Verein iSd Vereinsgesetzes (VerG) 1852 in Frage. Es sah jedoch strenge Auflagen und behördliche Überwachung vor,* weswegen sich kaum Krankenkassen bildeten. Erst im Rahmen der Dezemberverfassung 1867 änderte sich die Situation: Die gewährten bürgerlichen Freiheiten* ermöglichten es den Arbeitern, öffentlich organisiert aufzutreten. Insb das neue VerG 1867 war eine große Erleichterung: Vereine, auch politische, konnte man nun leichter errichten und betreiben, Staatsaufsicht gab es fast gar nicht mehr.*

Noch 1867 gründeten Wiener Arbeiter den ersten Arbeiterbildungsverein Österreichs. Er hatte die Förderung der „geistigen und materiellen Interessen des Arbeiterstandes“ als Ziel und zwar mittels eines breiten Bildungsprogramms und der Gründung einer Arbeiterkrankenkasse,* weil kaum Kassen für Fabriksarbeiter existierten. Dies geht etwa aus einer Studie des Handelsministeriums von 1868 hervor, worin festgestellt wurde, dass nur etwa 40 % der Fabriksarbeiter Cisleithaniens in einer Fabrikskrankenkasse versichert waren.* Gegen diese „traurige Verlassenheit* der Arbeiter wandte sich der Arbeiterbildungsverein, der auf Basis des VerG 1867 die „Allgemeine Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse“* in Wien als erstes Institut seiner Art Anfang Juni 1868 gründete. Sie war unabhängig vom Arbeitsplatz und allgemein ausgelegt, also konnte sich jede natürliche Person bei ihr versichern. Das Verhältnis von Beitragshöhe und Versicherungsleistung (Krankengeld, Medikamente und ärztliche Behandlung) war attraktiv und sie wurde vollständig von den Versicherten selbst verwaltet,* und zwar folgendermaßen: Die Basis war die Hauptversammlung der ordentlichen und der unterstützenden Mitglieder. Sie tagte einmal im Jahr und wählte den Vorstand des Vereines sowie die anderen Funktionäre, ernannte Ehrenmitglieder und kontrollierte die Jahresberichte. Der mit einfacher Mehrheit entscheidende Vereinsvorstand verwaltete den Verein und er nahm alle Aufgaben wahr, die keinem anderen Organ zukamen. Der Obmann an seiner Spitze war Vertreter des Vereins nach außen, Vorsitzender und Organisator aller Sitzungen.*

Ein Kontrollorgan wurde nach einigen Monaten des Bestehens eingeführt, da einige kriminelle Funktionäre Geld veruntreut hatten. Sechs Jahre danach erweiterte man die Statuten: Da die Krankenkasse nun viele tausend Mitglieder und Zweig-366stellen hatte, führte man eine Mitgliederversammlung ein, die den Bericht des Vorstands genehmigte und Delegierte zu einer Delegiertenversammlung entsandte. Die Versammlung der Delegierten wählte Vorstand und Obmann, entlastete dieselben und konnte Statutenänderungen oder die Vereinsauflösung vornehmen. Das neue „Revisions-Comité“ mit zwölf Mitgliedern wählte ebenfalls die Delegiertenversammlung. Es überwachte die Tätigkeit des Ausschusses und berichtete der Versammlung. Außerdem hatte nun jedes Mitglied das Recht, in die Gebarung des Vereins Einsicht zu nehmen.*

Die „Allgemeine Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse“ war ein großer Erfolg. Vor allem die Arbeiter in den höchsttechnisierten Maschinen- und Werkzeugfabriken im Umfeld der Eisenbahn sprachen gut auf das Angebot an. Das erwähnte gute Verhältnis von Betrags- und Leistungshöhe – für den wöchentlichen Mitgliedsbeitrag in Höhe der Kosten eines durchschnittlichen Mittagessens in einem Wiener Vorstadtrestaurant erhielt man im Krankheitsfall eine dem Existenzminimum entsprechende Unterstützung – und die Selbstverwaltung bewogen ganze Fabriksbelegschaften zum Beitritt. Diesen Aspekt betonte die Kasse auch in ihren Werbungen, etwa in der „Konstitutionellen Vorstadtzeitung“ vom 4.6.1868:

„... Alle Arbeiter und Arbeiterinnen des Kronlandes Niederösterreich haben jetzt die ersehnte Gelegenheit, sich zur gegenseitigen Hilfe unter Selbstverwaltung ihrer Unterstützungskasse die Hände zu reichen. ... Kameraden! Jeder von Euch muss wünschen, dass die Leitung des Vereins und die Geschäftsgebarung nur solchen Männern anvertraut werde, welche unser ganzes Vertrauen besitzen, und Jeden muss daher der Eifer beseelen, bei dieser für unser Wohl und Wehe so entscheidenden Wahl eine Stimme zu haben.“*

Schon 1868 traten über 6.400 ArbeiterInnen bei, 1872 hatte die Wiener Arbeiterkrankenkasse mehr als 17.000 Mitglieder. Trotz der Stagnation im Gefolge der Wirtschaftskrise 1873 wurde die Wiener Kasse zur größten selbstverwalteten Arbeiterkrankenkasse Cisleithaniens und Vorbild* für Gründungen in anderen Städten: Im Jahr 1880 wurde dem Reichsrat ein „Motivenbericht“ zur Reform der Gewerbeordnung vorgelegt. Im Bericht wurden 860 Kassen aufgelistet, bei 748 davon gab es Informationen über die Selbstverwaltung: 259 Kassen waren gänzlich selbstverwaltet, bei 192 Kassen teilten sich Unternehmer und Versicherte die Verwaltung. In 158 Fällen hatten die Arbeiter Kontrollmöglichkeiten, bei 139 Instituten hatten die Betroffenen keinen Einfluss.* Die selbstverwalteten Kassen waren häufig nach dem VerG 1867 errichtet, die Wiener Arbeiterkrankenkasse war nach wie vor die bei weitem größte.*

Etwa zur gleichen Zeit, 1879, brach die Ära Taaffe in Österreich an und damit die Zeit der ersten großen Gesetzesprojekte am Gebiet der SV. Mit dem Gesetz vom 28.12.1887* reagierte die Regierung auf den Missstand, dass bei Unfällen an der Arbeitsstätte bis dahin lediglich das allgemeine Schadenersatzrecht zur Anwendung kam. Alle Industriearbeiter (Unfälle beim Betrieb von Eisenbahnen* jedoch ausgenommen) waren daher darauf angewiesen, dem Unternehmer Verschulden nachzuweisen. Dieser Verschuldensbeweis war bei fast keinem Arbeitsunfall in der Industrie möglich. Unter der Ägide des Sektionschefs Emil Steinbach arbeiteten daher Justizministerium und Regierung einen Entwurf für ein Unfallversicherungsgesetz aus.* Man entwarf eine staatlich organisierte UV, bei der gegen eine Beitragsleistung von einigen Prozent der Lohnsumme die betroffenen Arbeiter oder ihre Hinterbliebenen nach einem Unfall eine Rente erhielten. Erfasst wurden fast alle industriellen Arbeiter mit Ausnahme einiger Sparten (zB Bergbau).* Man richtete territorial organisierte Unfallversicherungsanstalten für ein oder mehrere Kronländer ein, die als einziges Organ einen Vorstand hatten. Die Zahl seiner Mitglieder war durch drei teilbar und wurde von Unternehmern, Arbeitern und dem Ministerium beschickt. Der Vorstand wählte aus seiner Mitte drei Obmänner. Die nicht vom Ministerium bestimmten Mitglieder wählten AG und Versicherte in direkten Wahlen. In den Wirkungskreis des Vorstands fielen neben der Vertretung der Versicherung nach außen ua Beschlussfassungen über Beitragstarife, Versicherungspflicht von Betrieben, Anlage des Vermögens, Anstellung und Entlassung von Beamten und Erstellung des Rechnungsabschlusses. Daneben gab es einen Verwaltungsausschuss als ebenfalls drittelparitätisch zusammengesetztes Exekutivorgan, dessen sechs Mitglieder vom Vorstand ernannt wurden. In der Praxis der Selbstverwaltung dominierten aber nicht die Arbeitervertreter. Bei den Wahlen kam es zu Schikanen seitens der Unternehmer, und in der täglichen Arbeit des Vorstandes waren die Vertreter des Ministeriums tonangebend.* Nichtsdestotrotz war die Selbstverwaltung ein wichtiger Bestandteil der staatlichen UV

Dieses Unfallversicherungsgesetz stellte die Grundlage für die Entstehung des Arbeiterkrankenversicherungsgesetzes dar. Das Projekt der Arbeiterversicherung hatte Ende November 1884 mit einem Entwurf von Steinbach begonnen, durchlief mehrere Bearbeitungsphasen und erhielt am 30.3.1888 die kaiserliche Sanktion.*

Das Gesetz sah einerseits die Beibehaltung bereits bestehender Kassentypen vor, andererseits führte es neue Institute ein. So hielt man an Betriebskrankenkassen, Genossenschaftskrankenkassen, Vereinskrankenkassen und den Bruderladen fest,367 führte aber auch Baukrankenkassen und Bezirkskrankenkassen ein.* Letztere waren als Auffangkrankenkassen gedacht, bei denen versicherungspflichtige Arbeiter Mitglied sein mussten, sofern sie nicht bei einer anderen, anerkannten Kassenart versichert waren. Die Bandbreite an Kassen wollte man seitens der Regierung deshalb beibehalten, weil „Krankenkassen sowohl auf Grund gesetzlicher Nöthigung, als auch infolge freiwilliger Vereinigung der betheiligten Kreise bereits jetzt in großer Anzahl für die verschiedenen Berufszweige bestehen, und dass es sicherlich nicht anginge, durch ein neues Gesetz alle diese Kassen ohneweiters zu beseitigen, ... weil hiedurch viele gute Institutionen welche größtenteils der Selbstthätigkeit der betreffenden Kreise ihr Entstehen und ihre Entwicklung verdanken, vernichtet würden, wodurch bei den Mitgliedern Entmuthigung hervorgerufen werden müsste, ohne dass die Garantie dafür geboten wäre, dass der neu zu schaffende Organismus auch sofort geeignet sein werde, alle Vortheile der bereits eingeleiteten Institute zu gewähren.

Eine der grundlegenden Neuerungen waren die Bezirkskrankenkassen. Sie besaßen drei Organe, nämlich die Generalversammlung, den Vorstand und einen etwaigen Überwachungsausschuss. Die Generalversammlung bestand je nach Größe aus den Mitgliedern oder von ihnen direkt gewählten Delegierten. Sie wählte den Vorstand und den Überwachungsausschuss, nahm den Jahresbericht entgegen, entlastete den Vorstand und beschloss Statutenänderungen. Der Vorstand führte die gesamten Geschäfte. Die AG mussten nun auch Beiträge entrichten, dafür gewährte man ihnen in Vorstand und Generalversammlung eine anteilsmäßige Repräsentation in Höhe der Beiträge, jedoch bis maximal zu einem Drittel. Beaufsichtigt wurden die Kassen von den politischen Landesbehörden mit umfassenden Einsichts- und Eingriffsrechten.* Die Bezirkskrankenkassen hatten also einfache Selbstverwaltungsstrukturen, die bis auf die Vertretung der AG den freien Vereinskassen nachempfunden waren.

Das Gesetz erkannte auch die Arbeiterkrankenkassen auf Vereinsbasis voll gleichberechtigt an, jedoch hatten sie gem § 60 auf Basis des VerG 1852 errichtet zu sein und die gesetzlichen Mindestleistungen gewähren.* Der Verweis auf das VerG 1852 bedarf eines Exkurses: Alle Krankenkassen iSd VerG 1867 waren ursprünglich von den Behörden gesetzwidrig bewilligt worden: Als Entgegenkommen der wohlgesonnenen, zumeist liberalen Beamtenschaft wurden diese Kassen als „Wohltätigkeitsvereine“ eingestuft. Sie hatten daher weder eine umfassende behördliche Kontrolle noch strenge finanztechnische Auflagen zu erfüllen, wie das nach dem eigentlich anzuwendenden VerG 1852 der Fall gewesen wäre, demzufolge sie als „Versicherungsvereine“ zu gelten gehabt hätten.* Bis in das Jahr 1882 waren auf dieser Grundlage etwa 80 Vereine mit rund 65.000 Mitgliedern gegründet worden. Sie alle sicherten ihren Mitgliedern einen Anspruch auf Leistungen zu, weswegen eine Einordnung unter das VerG 1852 nur eine Frage der wechselnden Behördenpraxis war.* 1880 aber erging eine wichtige Ministerialverordnung, das sogenannte Versicherungsregulativ, das strenge Vorschriften für die Bildung und Überwachung von Versicherungsunternehmen vorsah.* Im Zuge dessen kam es zu einer Änderung der Behördenpraxis: 1882 verlautbarte das Innenministerium einen Erlass, demzufolge auf alle Vereinskrankenkassen das oben erwähnte Versicherungsregulativ und das VerG 1852 anzuwenden waren. Das Motiv war, dass die Regierung bei Bankrott der Kassen die moralische Pflicht hätte, finanziell einzuspringen, weil sie die Kassen hatte gewähren lassen und die Arbeiter so fahrlässig unsicheren Instituten überlassen hatte.* Im Ergebnis war dies eine Einschränkung der Selbstverwaltung und die Etablierung einer staatlichen Aufsicht. Die Vereinskassen stießen von da an auf Widerstand der Behörden, sobald sie Statutenänderungen einbrachten und hatten diverse Schikanen und Verzögerungen zu gewärtigen.* Eine Vereinskasse beschritt dagegen den Rechtsweg und der VwGH entschied, dass die Kassen eine Umbildung ihrer Statuten vorzunehmen hatten.* Diesen Schritt vollzogen 1886 die Wiener Allgemeine Arbeiter-Kranken- und Unterstützungskasse* und über 200 andere Vereinskassen.*

Mit der Einbeziehung der Vereinskassen, welche sich dem VerG 1852 unterworfen hatten, in das Arbeiterkrankenversicherungsgesetz, war die Selbstverwaltung der freien Vereinskassen unter gewissen Bedingungen gesetzlich anerkannt* und die Selbstverwaltung wurde auch auf die neuen Betriebskrankenkassen ausgedehnt.* Oft wird übersehen, dass dies ein großer Erfolg der frühen Arbeiterbewegung ist. Es war nämlich das Vertrauen, das viele tausende Arbeiter in die von ihnen selbst verwalteten Kassen hatten, welches ein wesentlicher Entscheidungsgrund der Politiker dafür war, diese Art der autonomen Organisation nicht nur beizubehalten, sondern auch auf die neuen Betriebskrankenkassen auszudehnen. Damit wurde die Selbstverwaltung zur dominierenden Organisationsform der KV.*368