Jabornegg/Resch (Hrsg)Aktuelle Entwicklungen im Arbeitskampfrecht

Verlag des ÖGB, Wien 2016 160 Seiten, kartoniert, € 29,90

JOSEFCERNY (WIEN/SALZBURG)

Fragen des Arbeitskampfes spielen im österreichischen Arbeitsrecht – anders als etwa im deutschen – nur eine untergeordnete Rolle. Abgesehen von einigen sozialrechtlichen Bestimmungen (im AlVG, AMFG, AuslBG und AÜG), die auf den Arbeitskampf Bezug nehmen, gibt es keine gesetzliche Regelung des Arbeitskampfes. Die Judikatur zu diesem Thema ist spärlich, meist älteren Datums und von Untergerichten, und auch das wissenschaftliche Schrifttum ist, verglichen mit anderen Bereichen des Arbeitsrechts, keineswegs überbordend. Seit der Habilitationsschrift von Tomandl (Streik und Aussperrung als Mittel des Arbeitskampfes [1965]) und der im Zusammenhang mit den Vorarbeiten für eine Kodifikation des Arbeitsrechts erstellten Studie von Strasser und Reischauer (Der Arbeitskampf. Eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Studie [1972]) sind370 die grundsätzlichen Positionen klar und weitestgehend unbestritten: In Österreich besteht Arbeitskampffreiheit, der Staat hält sich aus Arbeitskämpfen heraus, es gilt der Grundsatz der Neutralität des Staates bei Arbeitskämpfen (vgl nur Strasser/Jabornegg, Arbeitsrecht II4 [2001] 194).

Die neutrale Haltung des Staates zu Arbeitskämpfen entspricht auch der interessenpolitischen Programmatik des ÖGB und der Gewerkschaften, wie sie schon vor mehr als einem halben Jahrhundert vom Bundeskongress, also vom höchsten Gremium des ÖGB, in einem Grundsatzbeschluss festgelegt worden ist. In der vom 4. Bundeskongress im Jahr 1959 beschlossenen „Stellungnahme zur Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik und Kulturpolitik“ heißt es dazu (zitiert bei Strasser/Reischauer, aaO 13):

„Dem Koalitionsrecht eng verwandt ist das Streikrecht. Der Streik ist die wirksamste Waffe der Gewerkschaften. Die österreichische Rechtsordnung steht diesem Recht neutral gegenüber. Der ÖGB bejaht diese Neutralität und lehnt jede Reglementierung des Streikrechtes ab. Das Streikrisiko und die darauf begründete Verantwortung sind die wirksamste Reglementierung.“ Ein Blick auf die reale Praxis der Interessenpolitik

Ein Blick auf die reale Praxis der Interessenpolitik zeigt, dass Arbeitskämpfe in Österreich Seltenheitswert haben. Interessenkonflikte und Kampfmaßnahmen zur Durchsetzung der jeweiligen Interessen kommen zwar naturgemäß auch in einem sozialpartnerschaftlichen System der Arbeitsbeziehungen durchaus vor, und Streiks können, wie die Erfahrung gezeigt hat, mitunter auch länger dauern und gravierende Auswirkungen haben, im statistischen Durchschnitt kann die Streikdauer in Österreich aber nach wie vor in Minuten oder in Bruchteilen davon gemessen werden (nach der Streikstatistik von ÖGB und WKO betrug die Streikdauer je AN in den Jahren 2013 und 2014 jeweils 0,5 Minuten!). Streiks sind also eine Ausnahmeerscheinung, und Aussperrungen als Arbeitskampfmaßnahme von AG kommen in der Praxis überhaupt nicht vor.

Vor diesem Hintergrund muss es auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen, wenn sich eine wissenschaftliche Fachtagung in Österreich mit dem Thema „Aktuelle Entwicklungen im Arbeitskampfrecht“ befasst, und wenn eine solche Tagung von einer großen Gewerkschaft (PRO-GE) nicht nur als Kooperationspartner einer Universität mitveranstaltet, sondern sogar von ihr finanziert wird, wie das bei der am 3.6.2015 unter der wissenschaftlichen Leitung der Professoren der JKU Linz Peter Jabornegg und Reinhard Resch abgehaltenen Tagung der Fall war. Der hier zu besprechende, von Jabornegg/Resch herausgegebene Band der im ÖGB-Verlag erschienenen Schriften zum Arbeitsrecht und Sozialrecht enthält die Beiträge zu dieser Tagung.

Als Grund für die ungewöhnliche Themenwahl wird von den Herausgebern im Vorwort angeführt, dass das Arbeitskampfrecht durch eine interessante Entwicklung der Rsp des EGMR, ergänzt durch die Judikatur des EuGH, „in Bewegung geraten“ sei. Der vorliegende Tagungsband dokumentiert den Rechtsstand im Juni 2015 und bringt aus verschiedenen Facetten eine Aufarbeitung des österreichischen Arbeitskampfrechts auf Basis der neuen Judikatur.

Betrachtet man die Entwicklung des arbeitsrechtlichen Schrifttums in letzter Zeit, dann fällt auf, dass im zeitlichen Umfeld der Tagung auch andere wichtige Publikationen zum kollektiven Arbeitsrecht, insb zum Koalitions- und Arbeitskampfrecht, erschienen sind. Nur wenige Monate vor der Linzer Tagung untersuchte Marhold in einem Vortrag bei der 50. Zeller Tagung (veröffentlicht in DRdA 2015, 413 ff) die Auswirkungen der jüngeren Rsp des EGMR auf das Streikrecht in Österreich und kam dabei zu dem Ergebnis, dass die Anerkennung eines Streikrechts aus Art 11 EMRK die bisher herrschende österreichische Arbeitskampfdoktrin dahingehend verändern musste, dass durch eine rechtmäßige Streikteilnahme die aus dem Arbeitsvertrag entspringende Arbeitspflicht nicht verletzt und somit vom AN kein Entlassungsgrund gesetzt wird. Zugleich sprach Marhold die Hoffnung aus, dass sich die Entwicklung von der Streikfreiheit zum Streikrecht auf die Streikwirklichkeit in Österreich nicht auswirken werde.

Nahezu zeitgleich mit der Linzer Fachtagung erschien im Verlag Österreich eine umfangreiche Monografie von Krejci mit dem Titel „Recht auf Streik. Ein Paradigmenwechsel mit Folgen im Arbeitskampfrecht Österreichs“, und auch in der bei Manz publizierten Habilitationsschrift von Felten werden grundlegende Fragen der Koalitionsfreiheit und der Arbeitsverfassung behandelt.

Es ist also tatsächlich so, wie es im Vorwort des hier zu besprechenden Tagungsbandes angesprochen wird: Nach langen Jahren des Schattendaseins ist das Arbeitskampfrecht in Bewegung geraten und in das Licht der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gerückt. Das allein weckt schon das Interesse an dem vorliegenden Buch und dem darin dokumentierten Inhalt der Tagungsbeiträge.

Im ersten Beitrag stellt Julia Tutschek „Das Arbeitskampfrecht in der Judikatur des EuGH“ dar. Nach einer Einleitung mit Hinweisen auf den Grundrechtsbestand des Gemeinschaftsrechts, insb auf Art 28 GRC, widmet sich Tutschek den vor allem in Gewerkschaftskreisen, aber auch in der einschlägigen Fachliteratur zum Teil heftig kritisierten Entscheidungen des EuGH in den Rs Viking und Laval. Zu beiden Fällen werden der Sachverhalt und die rechtliche Beurteilung durch den EuGH präzise beschrieben und danach die wesentlichen Aussagen des EuGH zum Arbeitskampf zusammengefasst. Nach einem kurzen Exkurs über das Verhältnis von GRC und EMRK bietet die Autorin einen Überblick über ausgewählte Literaturstellungnahmen und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Stellungnahmen in der Literatur zu beiden Entscheidungen insgesamt zu Recht kritisch ausgefallen seien. Vor allem erscheine es inkonsequent, dass vom EuGH einerseits ein Grundrecht auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts bejaht, dieses aber andererseits bei der Prüfung der Beeinträchtigung der Grundfreiheiten nicht berücksichtigt werde.

Der zweite Beitrag stammt von Matthias Klein und behandelt „Das Arbeitskampfrecht in der Judikatur des EGMR“. Auch hier steht am Beginn eine kurze Einleitung über den EGMR und über die EMRK, gefolgt von einer sorgfältigen, insgesamt 16 Entscheidungen des EGMR zu Art 11 EMRK umfassenden Judikaturdarstellung. Im Gegensatz zum Beitrag von Tutschek beschränkt sich Klein allerdings auf die Dokumentation des jeweiligen Sachverhalts und der Entscheidungsgründe, ohne weitere Vertiefung oder eigene Bewertung.

Überraschen wird es manchen Leser, im vorliegenden Tagungsband einen Beitrag des türkischen371

Univ.-Prof. Alpay Hekimler über „Die Grenzen des Arbeitskampfrechts in der Türkei nach dem neuen Gewerkschafts- und Tarifvertragsgesetz im Lichte der aktuellen Entwicklungen“ zu finden. Im Vorwort der Herausgeber wird das damit begründet, dass „das türkische Arbeitsrecht der Motor für die Fortentwicklung der EGMR-Judikatur war und ist“. Tatsächlich ist aus der Judikaturdokumentation von Klein ersichtlich, dass es, ausgehend von der Rs Karacay, eine Reihe von Entscheidungen zum Streikrecht in der Türkei gegeben hat, die den Beginn einer neuen Judikaturlinie des EGMR markieren.

Schwerpunkt des Beitrags von Hekimler ist die Darstellung des neuen Gewerkschafts- und Tarifvertragsgesetzes und der darin enthaltenen Bestimmungen über das Arbeitskampfrecht. Die Verfassung von 1982 garantiert zwar den AN das Streikrecht, jedoch unterscheidet sich dieses Recht erheblich vom Verständnis in anderen Ländern. Das Gesetz definiert nicht nur den Begriff „Streik“ und „Aussperrung“ nach türkischem Verständnis, sondern es enthält auch detaillierte Regelungen über absolute Arbeitskampfverbote, über den Ablauf eines Arbeitskampfes, über Urabstimmungen, über die Suspendierung eines rechtmäßigen Streiks und über die Rechtsfolgen von Streik und Aussperrung. Zusammenfassend stellt Hekimler fest, dass das neue Gesetz keinesfalls als großes Reformwerk bezeichnet werden könne. Zwar sei das Streikrecht in der Türkei verfassungsmäßig garantiert, jedoch werde das Grundrecht auch durch das neue Gesetz eingeschränkt. Dieses System führe dazu, dass in der Praxis die Arbeitskampfmittel selten eingesetzt werden. Es stehe wohl außer Frage, dass das Arbeitskampfrecht der Türkei überarbeitet werden müsse, um den internationalen Standards gerecht zu werden.

Der Beitrag von Hekimler ist nicht nur wertvoll für die Rechtsvergleichung auf einem für die Interessenvertretung der AN zentralen Gebiet, er ist auch für die Beurteilung der realen politischen Situation in der Türkei höchst interessant. Der Autor betont – allerdings mit dem Hinweis, dass das innenpolitisch heftig umstritten sei –, „dass die Zielrichtung der amtierenden Regierung keineswegs eine Erweiterung des Streikrechts ist, sondern die Einführung eines Präsidentialsystems, vergleichbar mit den USA und mit Frankreich“ (S 62). Und er berichtet, dass die Regierung in den letzten Jahren mehrmals von der im Gesetz vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, Streiks mit der Begründung, dass sie die nationale Sicherheit bedrohen, zu suspendieren und damit praktisch zu verbieten – Aussagen, die auch in der politischen Diskussion über das Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union beachtet werden sollten.

Für die Arbeitsrechtspolitik in Österreich ist ein Beitrag wie jener von Hekimler vor allem deshalb wichtig, weil er die Richtigkeit der Ablehnung einer gesetzlichen Regelung des Arbeitskampfes nachdrücklich bestätigt. Das Beispiel der Türkei zeigt in aller Deutlichkeit, zu welchen Beschränkungen und Behinderungen einer wirksamen Interessenvertretung ein als „Gewerkschaftsgesetz“ getarntes Arbeitskampfrecht führen kann.

Da beruhigt es, dass Jabornegg seinen Beitrag mit der Frage „Alles neu im österreichischen Arbeitskampfrecht?“ betitelt. Allein schon aus dieser Fragestellung lässt sich die Skepsis des Autors gegenüber der Annahme einer grundlegenden Änderung der österreichischen Situation und seine negative Antwort auf diese Frage erahnen, und diese Erwartung wird dann auch bestätigt. Nach einer konzisen Zusammenfassung der traditionellen Beurteilung von Arbeitskämpfen, die nach der „Trennungstheorie“ zwischen der Rechtmäßigkeit des Streiks und den individualrechtlichen Folgen einer Streikteilnahme für den AN unterscheidet, untersucht Jabornegg die Vereinbarkeit dieser Theorie mit der neueren EGMR-Judikatur. Er bezeichnet den Ansatzpunkt der „Trennungstheorie“ zwar als „keineswegs zwingend“, meint aber, er erscheine „wegen der damit verbundenen wesentlich geringeren Regulierungsdichte letztlich als dem Wesen des Arbeitskampfes besser entsprechend“ (S 86). Am Beispiel der BRD zeige sich, dass die dort vertretene Lehre von der einheitlichen Betrachtung von kollektiver Gesamtaktion und individueller Kampfteilnahme („Einheitstheorie“) zu einer unüberschaubaren Fülle an Judikatur und Fachschrifttum geführt und einen erheblichen Anreiz gegeben habe, soziale Auseinandersetzungen ohne effektiven Beitrag zur Konfliktlösung in die Gerichtssäle zu tragen.

In den folgenden Abschnitten befasst sich Jabornegg mit Fragen der möglichen Rechtswidrigkeit eines Streiks als Gesamtaktion und deren Rechtsfolgen, sowie mit den Rechtsfolgen der individuellen Streikteilnahme. Eine Gesamtbewertung der traditionellen Sicht ergebe, dass bei der „Trennungstheorie“ praktisch nur der allgemeine Sittenwidrigkeitsmaßstab (§ 1295 Abs 2 ABGB) zum Tragen komme, was der „Streikfreiheit“ von vornherein einen viel größeren Spielraum gewähre. Ein Nachteil für die AN sei zwar die erhebliche Rechtsunsicherheit betreffend die möglichen Folgen der eigenen Streikbeteiligung, aber auch hier werde „keineswegs so heiß gegessen wie gekocht“ (S 98). Bei Streikende werde nämlich fast immer vereinbart, dass alle streikbedingten Sanktionen gegenüber den AN zurückgenommen werden müssen. Im Übrigen habe es auch schon bisher in der Lehre (etwa von Kuderna oder Schindler) Stimmen dafür gegeben, dass die Streikteilnahme keinen Vertragsbruch darstelle und deshalb auch keinen Entlassungstatbestand erfülle.

Aus der neueren EGMR-Judikatur zum Streikrecht ergibt sich, dass die schlichte Teilnahme der einzelnen AN an einem rechtmäßigen Streik nicht individuell mit der möglichen Folge sanktioniert werden darf, dass die AN dadurch abgehalten werden könnten, von ihrem Streikrecht Gebrauch zu machen. Vor diesem Hintergrund vertritt Jabornegg – entgegen manchen neueren Stellungnahmen – die Meinung, dass die aktuelle EGMR-Judikatur zu keiner Gesamtrevision des österreichischen Arbeitskampfrechts zwinge. Notwendig seien vielmehr nur gewisse Klarstellungen und Modifikationen betreffend die individuelle Teilnahme am rechtmäßigen Streik. Diese ließen sich im traditionellen Arbeitskampfrecht iS behutsamer Weiterentwicklung so einbauen, dass es nur zu verhältnismäßig geringen Korrekturen kommt (S 101, 104).

Besonderes Interesse verdient der Beitrag von René Schindler über „Praxisfragen des Arbeitskampfrechts“. Als Bundessekretär der Gewerkschaft PRO-GE verfügt Schindler nicht nur über reiche praktische Erfahrung im Umgang mit den Verhandlungspartnern der Gewerkschaft, sondern auch über fachliche Kompetenz372 und Expertise in Fragen des Arbeitskampfrechts. Wie schon so oft, etwa bei seinen Auftritten im Rahmen der Zeller Tagungen, beweist Schindler auch hier wieder, dass er nicht nur ein überaus engagierter Gewerkschafter, sondern auch ein exzellenter Jurist und profunder Kenner der Arbeitsrechtsdogmatik ist. Die praktische Bedeutung der geänderten Judikatur des EGMR zu Art 11 EMRK liegt für Schindler in der Garantie eines Streikrechts und eines Benachteiligungsverbots wegen der Arbeitskampfteilnahme, zugleich aber in neuen Aspekten für Streikorganisatoren. Der EGMR gehe in stRsp von einem umfassenden Streikbegriff aus, der alle möglichen Formen des Arbeitskampfes, insb auch Sympathiestreiks und sogar politische Streiks, umfasse. Beschränkungen des Streikrechts iSd Art 11 Abs 2 EMRK wären nicht aufgrund wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und Theorienbildung, sondern nur durch eine klare gesetzliche Anordnung zulässig. Eine solche gebe es in Österreich – abgesehen von strafrechtlichen Normen – aber nicht. Es verbleibe daher für das österreichische Arbeitskampfrecht bei der generellen und unbeschränkten Streikgarantie des Art 11 EMRK. Sie sei lediglich durch das für die österreichische Streikpraxis irrelevante Verbot der schikanösen Rechtsausübung gem § 1295 Abs 2 ABGB begrenzt.

Im Abschnitt „Betriebsrat und Streik“ verweist Schindler zunächst auf das umfassende Zusammenarbeitsgebot zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften und tritt mit überzeugenden Argumenten der von einem Teil der Lehre und in einer vereinzelten E des OGH behaupteten Annahme einer betriebsverfassungsrechtlichen „Friedenspflicht“ entgegen (vgl dazu auch meine Kritik an der OGH-E in DRdA 2004, 517). Gerade um das in § 39 Abs 1 ArbVG vorgesehene Ziel des Interessenausgleichs erreichen zu können, müsse die durch ihre Organe vertretene Arbeitnehmerschaft über Kampfrechte verfügen. Anders könne das für das Arbeitsrecht kennzeichnende Machtungleichgewicht nicht ausgeglichen werden. Allerdings sei die Meinungsbildung im Betrieb von der Organisation eines Streiks zu unterscheiden. Während der Meinungsaustausch und die wechselseitige Information zulässiger, in der Regel sogar gebotener Inhalt einer Betriebsversammlung sei, müsse die Streikorganisation, also zB auch die Wahl eines betrieblichen Streikkomitees, ausschließlich Aufgabe der Gewerkschaft bleiben.

Auch für die vor der neueren Rsp des EGMR von einem Teil der Lehre vertretene Annahme einer gesetzlichen „Friedenspflicht“ für Gewerkschaften während der Geltungsdauer eines KollV sieht Schindler keine dogmatische Grundlage. Das Gesetz habe alle Fragen des Arbeitskampfes bewusst nicht geregelt. Der Abschluss eines Vertrages bedeute nicht automatisch den Verzicht auf die Ausübung wirtschaftlichen Drucks zu dessen Änderung. Anderes gelte (nur) in speziellen Fällen, wie zB beim Abschluss einer Kollektivvertragslohnrunde mit einer bestimmten Laufzeit. Gegen eine solche Vereinbarung nicht mit Mitteln des Arbeitskampfes vorzugehen, entspreche dem Grundsatz der Vertragstreue und sei keine Besonderheit des KollV.

Einen eigenen Abschnitt widmet Schindler dem Thema „Leiharbeit und Streik“. § 9 AÜG verbietet die Überlassung von Arbeitskräften an Betriebe, die von einem Streik betroffen sind. Aufgrund der geänderten Rsp des EGMR sei das Recht überlassener Arbeitskräfte zur Streikteilnahme inzwischen klar. Da die Garantie der Koalitionsfreiheit auch das Recht zu Sympathiestreiks einschließt und in Österreich kein gesetzliches Verbot von Sympathiestreiks besteht, können überlassene Arbeitskräfte sich auch an einer Streikbewegung beteiligen, die sie selbst nicht betrifft. In der Praxis hat sich in Österreich eine Vorgangsweise etabliert, die die Aufrechterhaltung der Überlassungen so lange toleriert, als die überlassenen Arbeitskräfte sich tatsächlich am Arbeitskampf beteiligen. Dieses Arrangement sei zwar rechtsdogmatisch nicht haltbar, funktioniere aber seit Jahren weitgehend klaglos.

Als Zusammenfassung der österreichischen Rechtslage zum Arbeitskampfrecht der Gewerkschaften wandelt Schindler einen legendären Satz von Spielbüchler ab, den dieser hinsichtlich der Ausübung der betriebsverfassungsrechtlichen Mitwirkungsrechte in seiner unnachahmlichen Art formuliert hat (FS Strasser [1983] 631): Wie die Interessenvertretungen der AN und der AG mit dem Thema Arbeitskampf umgehen, geht die staatliche Rechtsordnung solange nichts an, als die Rechtsausübung nicht „offenbar den Zweck hat“, den anderen zu schädigen (§ 1295 Abs 2 ABGB).

Insgesamt sei die österreichische Streikkultur von „erfrischendem Pragmatismus“ geprägt. Die Zurückhaltung des Gesetzgebers, aber auch der Gerichte bewähre sich. Die Praxis der österreichischen Arbeitskämpfe komme seit Jahrzehnten ohne gesetzliche oder richterliche Anleitung aus. „Auch wenn sich durch die Judikatur des EGMR aktuell die Rechtslage ein wenig zugunsten der AN-Seite verschoben hat oder die gewonnene Klarheit deren Sicht bestätigt: Wir alle sollten an dieser bewährten Praxis unverändert festhalten!“ (S 127).

Der abschließende Beitrag von Reinhard Resch ist dem „Arbeitskampf im öffentlichen Dienst“ gewidmet. Nach einer Analyse der Auswirkungen der EGMRJudikatur unter Bedachtnahme auf Sonderformen des Arbeitskampfes, Besonderheiten im Beamtendienstrecht, Sanktionen und Rechtsbehelfe gegen Sanktionen im öffentlichen Dienst kommt er zusammenfassend zum Ergebnis, dass das geltende österreichische Recht kein ausdrückliches Streikverbot für den öffentlichen Dienst kenne und damit auch für diesen Bereich das durch Art 11 EMRK grundrechtlich abgesicherte Streikrecht gelte. Streikverbote für die Streitkräfte, Polizei und einen eng definierten Bereich der Staatsverwaltung dürften den Wesensgehalt des Grundrechts nicht „untergraben“. Sanktionen bei schlichter Teilnahme an einem rechtmäßigen Arbeitskampf seien mit dem Grundrecht auf Streik unvereinbar und daher – wie der EGMR speziell zum öffentlichen Dienst ausgesprochen hat – rechtswidrig.

Nach der Lektüre aller Beiträge in diesem Tagungsband ist die eingangs gestellte Frage beantwortet: Auch wenn das Arbeitskampfrecht in der Praxis der Arbeitsbeziehungen in Österreich keine besondere Bedeutung hat, ist es interessant und wichtig, die Entwicklung aufgrund der neueren Rsp auf europäischer Ebene zu registrieren und deren Auswirkungen auf die österreichische Situation sorgfältig zu analysieren. Das vorliegende Buch bietet dafür wertvolle Anregungen.

Als rechtspolitische Schlussfolgerung möchte ich nochmals Schindler zitieren:

„Die österreichische Streikpraxis ... kommt seit Jahrzehnten ohne gesetzliche oder richterliche Anleitung373 aus und hat zu Recht zahllose Theorien der Rechtswissenschaft gelassen ignoriert – Streiks sind im Kern Macht- und nicht Rechtsfragen. Im allseitigen Interesse sollten wir diese pragmatische Praxis beibehalten.“

Dem ist aus der Sicht des Rezensenten nichts hinzuzufügen.