Sozial, ohne Netz? Zuständigkeit für Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß der VO 883/2004

SARAHBRUCKNER (WIEN)
Innerhalb der EU sind Leistungen der sozialen Sicherheit nach den jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zu gewähren. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten regelt das Koordinierungsrecht der VO 883/2004, welcher Mitgliedstaat zuständig ist. Der vorliegende Beitrag behandelt die Zuständigkeit für Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß der VO 883/2004 im Lichte aktueller Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts und des VwGH.
  1. Sozial, ohne Netz?

  2. Zuständigkeit für Leistungen bei Arbeitslosigkeit

  3. Auseinanderfallen von Wohn- und Beschäftigungsstaat (Art 65 der VO 883/2004)

    1. Grenzgänger

    2. Nicht-Grenzgänger

    3. Unechte Grenzgänger

    4. Obsolet: Atypische Grenzgänger

  4. Rechtsprechung des BVwG zu unechten Grenzgängern

    1. Wahlrecht des unechten Grenzgängers: Aufgabe des Wohnortes erforderlich?

    2. Rs Di Paolo

    3. Uneinheitliche Rechtsprechung des BVwG

  5. Rechtsprechung des VwGH zu unechten Grenzgängern

  6. Zusammenfassung

1.
Sozial, ohne Netz?*

Die bereits im EWG-Gründungsvertrag vom 25.3.1957 verankerte AN-Freizügigkeit ermöglicht314 es AN, innerhalb des Unionsgebietes in jedem Mitgliedstaat eine Beschäftigung aufzunehmen und auszuüben. Im Jahresdurchschnitt des Jahres 2015 umfasste das Arbeitskräftepotenzial* in Österreich 3.889.186 Personen,* davon 396.655* EWR* BürgerInnen. Der VwGH hatte sich jüngst mit der Frage zu befassen, unter welchen Voraussetzungen in Österreich Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß der VO 883/2004 in Anspruch genommen werden können. Strittig war dies insb bei Sachverhalten wie dem Folgenden:*

Herr X, polnischer Staatsangehöriger, war von 16.10.2012 bis 11.9.2015 bei der Firma A und von 15.9. bis 11.12.2015 bei der Firma B als Arbeiter in Österreich beschäftigt. Seine Ehegattin und sein Kind sowie seine Eltern leben in Polen. Während des letzten Jahres kehrte er zirka sechs bis sieben Mal nach Polen zurück. Herr X hat keine über die berufliche Tätigkeit hinausgehenden persönlichen oder sozialen Bindungen in Österreich. Am 9.12.2015 stellte er beim Arbeitsmarktservice (AMS) Wien, Währinger Gürtel, einen Antrag auf Arbeitslosengeld.

Zur Umsetzung der AN-Freizügigkeit wurde die VO (EWG) 1408/71 „über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer und Selbständigen sowie deren Familienangehörigen, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern“ erlassen. Mit 1.5.2010 wurde diese durch das Inkrafttreten der VO (EG) 883/2004 „zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“ ersetzt. Die mitgliedstaatlichen Leistungen der sozialen Sicherheit werden durch die VO 883/2004 koordiniert, nicht jedoch harmonisiert. Die Bestimmungen der VO 883/2004 und der Durchführungs-VO 987/2009 legen ua fest, welcher Mitgliedstaat für die Gewährung einer Leistung der sozialen Sicherheit zuständig ist. Gem Art 11 Abs 1 der VO 883/2004 ist immer nur ein Mitgliedstaat zuständig. Aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit der VO 883/2004 muss anlässlich einer Antragstellung auf Zuerkennung des Arbeitslosengeldes die Zuständigkeit von Amts wegen überprüft werden. Im Fall von Herrn X hat das AMS Wien, Währinger Gürtel, den Antrag mangels Zuständigkeit gemäß der VO 883/2004 zurückgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) hat die E bestätigt.* Doch liegt hier tatsächlich keine Zuständigkeit der österreichischen Arbeitsverwaltung vor?

Es hat sich gezeigt, dass unterschiedliche Senate des BVwG die VO 883/2004 unterschiedlich auslegen. In einigen Verfahren, denen Sachverhalte zugrunde lagen, die jenem des Herrn X ähnlich sind, wurde die Zuständigkeit der österreichischen Arbeitsverwaltung für Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß der VO 883/2004 verneint,* in anderen Verfahren bejaht.* Ausschlaggebend für die divergierenden Entscheidungen waren jeweils unterschiedliche rechtliche Beurteilungen. Ab 23.3.2016 hat das BVwG sämtliche Verfahren betreffend die Zuständigkeit für Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß der VO 883/2004 bis zur E des VwGH ausgesetzt.

Dies betraf mehr als 200 Verfahren.

2.
Zuständigkeit für Leistungen bei Arbeitslosigkeit

Als Anknüpfungspunkte für die Zuständigkeit für Leistungen der sozialen Sicherheit legt Art 11 der VO 883/2004 den Beschäftigungsstaat oder den Wohnstaat fest.* Vorrangiger Anknüpfungspunkt ist der Beschäftigungsstaat (lex loci laboris).*

Gem Art 11 Abs 3 lit a der VO 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates. Der Beschäftigungsstaat wird häufig als „Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften für die Person gelten/galten“* bzw als „zuständiger Mitgliedstaat“* umschrieben.

Der Wohnstaat bzw Wohnort wird in Art 1 lit j der VO 883/2004 als „Ort des gewöhnlichen Aufenthalts“ einer Person definiert. Im Gegensatz dazu ist der Aufenthalt in Art 1 lit k der VO 883/2004 als „vorübergehender Aufenthalt“ definiert. Der Wohnort kennzeichnet sich nach der Rsp des EuGH dadurch, dass es sich um den Ort handelt, in dem sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen befindet. Ein wichtiges Indiz zur Feststellung dieses Ortes ist der Wohnort der Familie.

Gem Art 11 der Durchführungs-VO 987/2009 ist der Wohnstaat nach folgenden Kriterien zu ermitteln:

  1. Dauer und Kontinuität des Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates;

  2. die Situation der Person, einschließlich i) der Art und der spezifischen Merkmale jeglicher ausgeübten Tätigkeit, insb des Ortes, an dem eine solche Tätigkeit in der Regel ausgeübt315 wird, der Dauerhaftigkeit der Tätigkeit und der Dauer jedes Arbeitsvertrags, ii) ihrer familiären Verhältnisse und familiären Bindungen, iii) der Ausübung einer nicht bezahlten Tätigkeit, iv) im Falle von Studierenden ihrer Einkommensquelle, v) ihrer Wohnsituation, insb deren dauerhafter Charakter, vi) des Mitgliedstaates, der als der steuerliche Wohnsitz der Person gilt.

Diese Kriterien waren teilweise vom EuGH festgelegt worden* und wurden mit der Neufassung des Koordinierungsrechts in die Durchführungs-VO übernommen.

Hinsichtlich der Zuständigkeit für Leistungen bei Arbeitslosigkeit existieren idealtypisch vier Fallkonstellationen: 1. Beschäftigungsstaat und Wohnstaat sind ident, die Person bleibt nach Ende der Beschäftigung in diesem Mitgliedstaat, 2. Beschäftigungsstaat und Wohnstaat sind ident, die Person wandert nach Ende der Beschäftigung in einen anderen Mitgliedstaat, 3. Beschäftigungsstaat und Wohnstaat sind nicht ident, die Person bleibt nach Ende der Beschäftigung im Wohnstaat, 4. Beschäftigungsstaat und Wohnstaat sind nicht ident, die Person bleibt nach Ende der Beschäftigung im Beschäftigungsstaat.

Im ersten Fall gilt der Grundsatz der vorrangigen Zuständigkeit des Beschäftigungsstaates (lex loci laboris). Im zweiten Fall regelt Art 64 der VO 883/2004 die Möglichkeit des Exports des Leistungsanspruches in einen anderen Mitgliedstaat für die Dauer von drei Monaten. Im dritten und vierten Fall regelt Art 65 der VO 883/2004 die Zuständigkeit.

3.
Auseinanderfallen von Wohn- und Beschäftigungsstaat (Art 65 der VO 883/2004)

Die Festlegung des zuständigen Mitgliedstaates für Leistungen bei Arbeitslosigkeit erfolgt bei Auseinanderfallen von Wohn- und Beschäftigungsstaat gem Art 65 der VO 883/2004. Für die im vorliegenden Beitrag zu behandelnden Rechtsfragen sind insb die Abs 2 und 5 des Art 65 der VO 883/2004 von Relevanz:

„(2) Eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in ihn zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen.Unbeschadet des Artikels 64 kann sich eine vollarbeitslose Person zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaates zur Verfügung stellen, in dem sie zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.Ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaates zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben.(5) a) Der in Absatz 2 Sätze 1 und 2 genannte Arbeitslose erhält Leistungen nach den Rechts-vorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Diese Leistungen werden von dem Träger des Wohnorts gewährt.b) Jedoch erhält ein Arbeitnehmer, der kein Grenzgänger war und dem zulasten des zu- ständigen Trägers des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben, Leistungen gewährt wurden, bei seiner Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat zunächst Leistungen nach Artikel 64; der Bezug von Leistungen nach Buchstabe a ist während des Bezugs von Leistungen nach den Rechtsvorschriften, die zuletzt für ihn gegolten haben, ausgesetzt.“

Unter jenen Personen, die unter den Anwendungsbereich des Art 65 der VO 883/2004 fallen, („Arbeitslose, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt haben“) werden verschiedene Gruppen unterschieden:

3.1.
Grenzgänger

Ein Grenzgänger ist gem Art 1 lit f der VO 883/2004 als eine Person definiert, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich, zurückkehrt. Bereits in der Vorgängerbestimmung Art 1 lit b der VO 1408/71 war der Grenzgänger beinahe gleichlautend definiert. Für Grenzgänger legt Art 65 Abs 2 erster Satz der VO 883/2004 einen Statutenwechsel fest: Grenzgänger erhalten Leistungen bei Arbeitslosigkeit nicht vom Beschäftigungsstaat, sondern von ihrem Wohnstaat. Dieser Anordnung liegt die Idee zugrunde, dass bei Grenzgängern ein engeres Naheverhältnis zum Wohnstaat besteht und deshalb dieser für die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben und für die Leistungsgewährung zuständig sein soll.*

3.2.
Nicht-Grenzgänger

Aus der Legaldefinition des Art 1 lit f der VO 883/2004 (bzw aus der Vorgängerbestimmung Art 1 lit b der VO 1408/71) ergibt sich e contrario, dass Personen, die nicht unter dieser Legaldefinition subsumierbar sind, keine Grenzgänger sind. Diese werden in der Literatur gelegentlich als „Nicht-Grenzgänger“ bezeichnet.*

3.3.
Unechte Grenzgänger

Bereits in der VO 1408/71 wurde auf Personen, bei denen Wohn- und Beschäftigungsstaat aus-316einanderfallen, die jedoch seltener als wöchentlich in den Wohnstaat zurückkehren, Bedacht genommen. Diese Nicht-Grenzgänger werden als „unechte Grenzgänger“ bezeichnet. Im Gegensatz dazu werden Personen, die der Legaldefinition des Grenzgängers entsprechen, als „echte Grenzgänger“ bezeichnet. Der in Art 65 Abs 2 erster Satz der VO 883/2004 (vormals Art 71 Abs 1 lit a Z ii der VO 1408/71) festgelegte Statutenwechsel (Zuständigkeit des Wohnstaates) gilt grundsätzlich sowohl für echte als auch für unechte Grenzgänger.* Den unechten Grenzgängern – nicht jedoch den echten Grenzgängern – wird in Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 (vormals Art 71 Abs 1 lit b Z i der VO 1408/71) jedoch zusätzlich ein Wahlrecht eingeräumt. Demnach kann die Zuständigkeit des Beschäftigungsstaates begründet werden, indem sich der unechte Grenzgänger nach dem Ende der Beschäftigung der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellt. Art 65 der VO 883/2004 hat im Wesentlichen das Recht der VO 1408/71 übernommen.*

In der Rs Aubin*hielt der EuGH zu Art 71 Abs 1 lit b der VO 1408/71 fest:

„Diese Vorschriften eröffnen dem Arbeitnehmer eine Wahlmöglichkeit. Er kann sich dem System der Leistungen bei Arbeitslosigkeit in dem Staat unterstellen, in dem er zuletzt beschäftigt war, oder die Leistungen des Staates, in dem er wohnt, in Anspruch nehmen. Die Entscheidung erfolgt bei einem Vollarbeitslosen, der die Rechtsvorschriften des Staates wählt, in dem er wohnt, insbesondere und sogar ausschließlich dadurch, dass der Betroffene sich der Arbeitsverwaltung des Staates, von dem die Gewährung von Leistungen verlangt wird, zur Verfügung stellt.“
3.4.
Obsolet: Atypischer Grenzgänger

Zu den beiden genannten Kategorien (echter und unechter Grenzgänger) fügte der EuGH noch eine dritte Kategorie hinzu, nämlich den „atypischen Grenzgänger“. In der Rs Miethe*hat der EuGH zur Rechtslage gemäß der VO 1408/71 ausgesprochen, dass ein echter Grenzgänger (Herr Miethe war in Deutschland beschäftigt und wohnte in Belgien, wohin er täglich zurückkehrte), der im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung persönliche und berufliche Bindungen solcher Art aufrechterhält, dass er dort die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, im Hinblick auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit wie ein unechter Grenzgänger zu behandeln ist und ein Wahlrecht hinsichtlich des zuständigen Mitgliedstaates hat. Aufgrund der Neufassung des Koordinierungsrechts ist die Rechtsfigur des atypischen Grenzgängers aber obsolet geworden. Der EuGH führte in der Rs Jeltes*aus, dass Art 65 der VO 883/2004 nicht im Lichte der Rs Miethe auszulegen ist. Dem atypischen Grenzgänger kommt demnach nunmehr kein Wahlrecht zu. Es gilt die Zuständigkeit des Wohnstaates gem Art 65 Abs 1 erster Satz der VO 883/2004.

4.
Rechtsprechung des BVwG zu unechten Grenzgängern

Beim eingangs erwähnten Herrn X handelt es sich um einen unechten Grenzgänger. Das BVwG hat die Unzuständigkeit der österreichischen Arbeitsverwaltung gemäß der VO 883/2004 festgestellt. Aus Art 65 Abs 2 erster Satz der VO 883/2004 gehe hervor, dass sich eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in ihn zurückkehrt, der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen müsse. Herr X habe während seiner letzten Beschäftigung vor der Antragstellung in Polen gewohnt und wohne weiterhin dort. Somit sei der Wohnmitgliedstaat Polen für die Zuerkennung einer Arbeitslosenunterstützung zuständig. Der Tatbestand des Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 liege nicht vor, weil dieser voraussetze, dass der Beschwerdeführer „zum Zweck der Beschäftigung in Österreich seinen Wohnort in Polen aufgegeben hätte“, was er aber nicht gemacht habe (zur Wortfolge „oder in ihn zurückkehrt“ Verweis auf das EuGH-Urteil Di Paolo, Rn 21, und auf das VwGH-Erk vom 22.2.2012, 2009/08/0293).

4.1.
Wahlrecht des unechten Grenzgängers: Aufgabe des Wohnortes erforderlich?

Die Rechtsansicht des BVwG, wonach die Anwendbarkeit des Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 die Aufgabe des Wohnortes voraussetze, wird von der Verfasserin dieses Beitrages nicht geteilt. Das BVwG stützt seine Rechtsansicht auf die Rs Di Paolo, Rn 21 und auf das VwGH-Erk vom 22.2.2012, 2009/08/0293.

In der Rs Di Paolo wurde nicht die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein unechter Grenzgänger durch Ausübung des Wahlrechts die Zuständigkeit des Beschäftigungsstaates begründen kann (Art 71 Abs 1 lit b Z i der VO 1408/71, Vorgängerbestimmung des Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004), sondern die Frage, nach welchen Kriterien sich der Wohnstaat (Art 71 Abs 1 lit b Z ii der VO 1408/71, Vorgängerbestimmung des Art 65 Abs 2 erster Satz der VO 883/2004) definiert, behandelt. Frau Di Paolo war italienische Staatsangehörige, die sich mit ihren Eltern in Belgien niederließ und dort die Schule besuchte. Anschließend arbeitete sie zirka ein Jahr lang im Vereinigten Königreich. Nach dem Ende der Beschäftigung kehrte sie zu ihren Eltern zurück und beantragte in Belgien Arbeitslosengeld. Der Antrag wurde abgelehnt. Frau Di Paolo brachte317 gegen die ablehnende E vor, sie habe während ihrer Beschäftigung im Vereinigten Königreich den Lebensmittelpunkt in Belgien behalten; Belgien sei ihr Wohnstaat und daher der zuständige Staat für Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Der EuGH schloss sich dem an und entschied, dass der Wohnstaat auf jenen Staat zu beschränken ist, in dem der AN, obgleich er in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt ist, weiterhin gewöhnlich wohnt und in dem sich der gewöhnliche Mittelpunkt seiner Interessen befindet.*

Im Gegensatz zu Frau Di Paolo kehrte Herr X nach dem Ende der Beschäftigung nicht in seinen Wohnstaat Polen zurück. Kann Herr X in Österreich Arbeitslosengeld beziehen? Ist die vom BVwG aus der Rs Di Paolo abgeleitete Schlussfolgerung, wonach die Zuständigkeit der österreichischen Arbeitsverwaltung nur bei „Aufgabe des Wohnortes zum Zweck der Beschäftigung in Österreich“ begründet werden könne, zutreffend? Offensichtlich gelangt das BVwG mittels argumentum e contrario zu seiner Schlussfolgerung: Wenn es für die Zuständigkeit des Wohnstaates erforderlich ist, weiterhin in diesem zu wohnen (Rs Di Paolo), so muss es für die Begründung der Zuständigkeit des Beschäftigungsstaates durch Inanspruchnahme des Wahlrechts wohl erforderlich sein, gerade nicht (weiterhin) im Wohnstaat zu wohnen; der Wohnstaat muss aufgegeben werden. Diese Schlussfolgerung ist weder methodisch noch im Ergebnis richtig.

In methodischer Hinsicht übersieht das BVwG, dass der Statutenwechsel gem Art 65 Abs 2 erster Satz und das Wahlrecht gem Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 kein Gegensatzpaar sind. Diese beiden Bestimmungen schließen einander nicht aus, vielmehr stellt Art 65 Abs 2 letzter Satz eine Ergänzung zu Art 65 Abs 2 erster Satz dar. Ein argumentum e contrario ist daher mE fehl am Platz.

4.2.
Rs Di Paolo

Das BVwG führt insb die Rn 21 der Rs Di Paolo an. Diese bezieht sich auf die Definition des Wohnstaates bzw auf die Auslegung des Art 71 Abs 1 lit b Z ii der VO 1408/71,* welcher lautete: „Arbeitnehmer, die nicht Grenzgänger sind und die sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dessen Gebiet sie wohnen, oder in das Gebiet dieses Staates zurückkehren, erhalten bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates, als ob sie dort zuletzt beschäftigt gewesen wären....

Der EuGH hatte die Vorlagefrage zu beantworten: Welcher Sinn und welche Tragweite sind den Worten „in dessen Gebiet sie wohnen, oder in das Gebiet dieses Staates zurückkehren“ beizumessen? Tatsächlich wirft diese Wortfolge Fragen auf. „Zurückkehren“ setzt ein vorheriges „Verlassen“ voraus. „Verlassen“ kann hier entweder die Aufgabe des Wohnstaates im rechtlichen Sinn (der Mittelpunkt der Lebensinteressen verlagert sich in einen anderen Mitgliedstaat) oder ein bloß physisches Verlassen bedeuten. Korrelierend dazu wäre „zurückkehren“ entweder als neuerliche Verlagerung des Mittelpunktes der Lebensinteressen oder als bloß physisches Zurückkehren zu verstehen. Geht man vom bloß physischen Zurückkehren aus, ohne zwischenzeitiger Verlagerung des Wohnstaates, so würde es sich bei der Wortfolge „in dessen Gebiet sie wohnen, oder in das Gebiet dieses Staates zurückkehren“ um einen Pleonasmus handeln. Auf den ersten Blick mag daher eine anderslautende Auslegung naheliegend erscheinen, der EuGH hat jedoch entschieden, dass mit der Wortfolge „in dessen Gebiet sie wohnen, oder in das Gebietes dieses Staates zurückkehren“ tatsächlich zwei Gruppen von AN gemeint sind, die sich im Wesentlichen in der gleichen Lage befinden. Der Zusatz „oder in das Gebiet dieses Staates zurückkehren“ bedeute nur, dass der Begriff des Wohnorts in einem Mitgliedstaat einen nicht gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat nicht zwangsläufig ausschließe.*

Was bedeutet dies für den Fall des Herrn X? Kann aus der Rs Di Paolo geschlossen werden, dass die Inanspruchnahme des Wahlrechtes gem Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 die Aufgabe des Wohnstaates erfordert? IS einer grammatikalischen Interpretation (bzw iSd vom EuGH verfolgten Grundsatzes der „Einheit der Rechtssprache“) haben gleichlautende Begriffe grundsätzlich den gleichen Inhalt.* Wenn „zurückkehren“ in Art 65 Abs 2 erster Satz leg cit gemäß der Rs Di Paolo als „zurückkehren in jenen Mitgliedstaat, der der Wohnstaat geblieben ist“ zu verstehen ist, dann ist „nicht zurückkehren“ in Art 65 Abs 2 letzter Satz legt cit als „nicht zurückkehren in jenen Mitgliedstaat, der der Wohnstaat geblieben ist“ zu verstehen. Aus der Rn 21 der Rs Di Paolo kann somit gerade nicht abgeleitet werden, dass der Wohnstaat aufgegeben werden muss, vielmehr bleibt in den Fällen des Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 der Wohnstaat derselbe. Erfolgt keine Rückkehr in diesen, so kann das Wahlrecht in Anspruch genommen werden.*318

Wenn laut BVwG die „Aufgabe des Wohnortes zum Zweck der Beschäftigung in Österreich“ erfolgen muss, so ist außerdem nicht klar, was damit gemeint ist. Dies kann dahingehend verstanden werden, dass nach Ansicht des BVwG nach dem Ende der Beschäftigung der ursprüngliche Wohnort aufgegeben und in den letzten Beschäftigungsstaat verlegt werden muss – zum Zweck der Arbeitssuche („zum Zwecke der Beschäftigung“?). Es kann aber auch dahingehend verstanden werden, dass nach Ansicht des BVwG bereits während der Beschäftigung („zum Zwecke der Beschäftigung“?) der ursprüngliche Wohnort aufgegeben und in den Beschäftigungsstaat verlegt werden muss. Zu beiden Varianten existiert Rsp des EuGH.

Fallen während der Beschäftigung Wohn- und Beschäftigungsstaat auseinander und wird nach dem Ende der Beschäftigung der Mittelpunkt der Lebensinteressen in den letzten Beschäftigungsstaat verlegt, so kommt der gesamte Art 71 der VO 1408/71 (Art 65 der VO 883/2004) nicht zur Anwendung. Dies hat der EuGH in der Rs Cochet* entschieden.* Es gilt in diesem Fall die Grundregel des lex loci laboris.

Fallen während der Beschäftigung Wohn- und Beschäftigungsstaat zusammen, so kommt ebenfalls der gesamte Art 71 der VO 1408/71 (Art 65 der VO 883/2004) nicht zur Anwendung. Dies hat der EuGH in der Rs Guyot* entschieden. Es gilt in diesem Fall ebenfalls die Grundregel des lex loci laboris. Dem neben der Rs Di Paolo vom BVwG ins Treffen geführte VwGH-Erk 2009/08/0293 vom 22.2.2012liegt ähnlich wie in der Rs Guyot ebenfalls ein Sachverhalt zugrunde, in welchem Wohn- und Beschäftigungsstaat (Deutschland) ident waren. Der VwGH hat die Anwendbarkeit des Art 71 der VO 1408/71 daher verneint.

Nach dem oben Gesagten kann die Rechtsansicht des BVwG weder auf die Rs Di Paolo noch auf das VwGH-Erk vom 22.2.2012, 2009/08/0293, gestützt werden. Aus keiner der beiden Entscheidungen kann die Aufgabe des Wohnstaates als Voraussetzung für die Wahl der Zuständigkeit des Beschäftigungsstaates durch den unechten Grenzgänger gem Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 abgeleitet werden. Im Fall des eingangs erwähnten Herrn X ist daher das AMS Wien, Währinger Gürtel, für den Anspruch auf Arbeitslosengeld zuständig.

4.3.
Uneinheitliche Rechtsprechung des BVwG

In einigen BVwG-Erkenntnissen wurde die Unzuständigkeit der österreichischen Arbeitsverwaltung für unechte Grenzgänger mit der Rs Jeltes begründet.* Diese Begründung ist ebenfalls verfehlt, da in dieser Rechtssache über die Zuständigkeit für Leistungen bei Arbeitslosigkeit bei einem echten Grenzgänger und nicht bei einem unechten Grenzgänger entschieden wurde. Im Erk 24.3.2016, W141 2120633-1, geht das BVwG zwar auf diesen Einwand ein, bleibt aber im Ergebnis bei seiner Rechtsansicht, wonach keine Zuständigkeit für unechte Grenzgänger gegeben sei. Die E in der Rs Jeltes sei auf unechte Grenzgänger anwendbar, da der VwGH im Erk vom 28.1.2015, 2013/08/0074, festgehalten habe, dass nach Inkrafttreten der VO 883/2004 für die Leistungsgewährung „stets“ der Wohnstaat zuständig sei. Das BVwG zitiert den VwGH völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Aus dem Zusammenhang ergibt sich eindeutig, dass der VwGH das Wort „stets“ explizit auf echte Grenzgänger bezieht. Der VwGH stellt in diesem Erk klar, dass sowohl für den Normalfall des echten Grenzgängers als auch für den atypischen echten Grenzgänger dieselbe Zuständigkeitsregelung gilt, in diesem Sinne sei „stets“ der Wohnstaat zuständig. Die Frage der Zuständigkeit für unechte Grenzgänger wird in diesem Erk nicht behandelt.

Eine anderslautende Begründung des BVwG für die Unzuständigkeit der österreichischen Arbeitsverwaltung ist ebenfalls nicht zutreffend. Demnach handle es sich auch bei einer Person, die „mindestens drei Mal monatlich“ in den Wohnstaat gefahren sei, um einen „echten Grenzgänger“.* Diese rechtliche Beurteilung ist nicht zulässig, da die Definition des „echten Grenzgängers“ durch die Legaldefinition des Art 1 lit f der VO 883/2004 vorgegeben ist. Die Sachverhaltsfeststellung mag sich in der Praxis diesbezüglich schwierig gestalten, wenn jedoch einer Person dahingehend Glauben geschenkt wird, dass keine wöchentliche oder häufigere Rückkehr in den Wohnstaat erfolgt, schließt dies eine rechtliche Beurteilung als „echter Grenzgänger“ aus. Auch der vom BVwG in einigen Erkenntnissen* ins Treffen geführte 13. Erwägungsgrund der Durchführungs-VO 987/2009 („Von Vollarbeitslosigkeit betroffene Grenzgänger können sich dem Arbeitsamt sowohl in ihrem Wohnsitzland als auch in dem Mitgliedstaat, in dem sie zuletzt beschäftigt waren, zur Verfügung stellen. Sie sollten jedoch einzig und allein Anspruch auf Leistungen ihres Wohnmitgliedstaats haben.“) stützt daher die Rechtsansicht des BVwG nicht.

Keine der genannten rechtlichen Begründungen, anhand derer das BVwG die Unzuständigkeit der österreichischen Arbeitsverwaltung für unechte Grenzgänger festzumachen versucht hat, kann auf Rsp bzw Literatur gestützt werden. Dass sich aus dem unklaren Wortlaut des Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 viele Fragen hinsichtlich der Auslegung ergeben, liegt in der Natur der Sache. Jedoch wurden die vom BVwG aufgeworfenen Fragen seit dem Inkrafttreten der VO 883/2004 am319 1.5.2010 durch Rsp und Lehre bereits ausführlich bearbeitet und beantwortet.* Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb das BVwG sechs Jahre nach Inkrafttreten der VO 883/2004 bei unveränderter Rechtslage eine eigenständige, von der bisherigen Rsp und Lehre abweichende Auslegung des Art 65 der VO 883/2004 entwickelt hat.

In einigen Erkenntnissen hat das BVwG die Zuständigkeit der österreichischen Arbeitsverwaltung für unechte Grenzgänger zutreffenderweise bejaht. In diesen Erkenntnissen werden insb zwei Argumente angeführt, der sich die Verfasserin dieses Beitrags anschließt: „1. Folgte man der Auffassung, dass das Wahlrecht gem Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 nicht für unechte Grenzgänger gelte, so wäre nicht ersichtlich, welcher Anwendungsbereich für Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 noch bliebe.* 2. Aus der Zusammenschau der Bestimmungen des Art 65 Abs 5 lit a und lit b der VO 883/2004 lässt sich ebenfalls auf das Wahlrecht des unechten Grenzgängers schließen: Sowohl echte als auch unechte Grenzgänger erhalten gem Art 65 Abs 5 lit a der VO 883/2004 Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats (...), jedoch erhält ein unechter Grenzgänger (...), dem zulasten des Beschäftigungsstaates (...) Leistungen gewährt wurden gem Art 65 Abs 5 lit b der VO 883/2004 bei seiner Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat zunächst Leistungen nach Art 64 (...).*

5.
Rechtsprechung des VwGH zu unechten Grenzgängern

Im Erk vom 2.6.2016, Ra 2016/08/0047, hat der VwGH über das Wahlrecht des unechten Grenzgängers entschieden. Der zugrunde liegende Sachverhalt war ähnlich jenem des Herrn X. Der VwGH hat das Wahlrecht des unechten Grenzgängers – wenig überraschend – bestätigt.

Dem unechten Grenzgänger kommt gemäß dem Wortlaut des Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 das Wahlrecht dann zu, wenn er „nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt“. Das BVwG hat dies dahingehend ausgelegt, dass die Inanspruchnahme des Wahlrechts die Aufgabe des Wohnstaates voraussetze. Der VwGH hat hingegen im Erk vom 2.6.2016, Ra 2016/08/0047, klargestellt, dass der Wohnstaat bei der Inanspruchnahme des Wahlrechts derselbe bleibt. Der Wohnstaat muss also nicht aufgegeben werden, um die Zuständigkeit des Beschäftigungsstaates für Leistungen bei Arbeitslosigkeit gem Art [0-9]5 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 zu wählen.

Weiters hat sich der VwGH unter Bezugnahme auf die Rs Di Paolo mit der Frage auseinandergesetzt, in welchem Fall bei einem unechten Grenzgänger von einer Rückkehr in den Wohnstaat auszugehen ist, die gem Art [0-9]5 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 die Inanspruchnahme des Wahlrechts ausschließt. Er hat darauf folgende Antwort gegeben: Eine „Rückkehr“ liege dann vor, wenn „eine Rückverlagerung jener Interessen der betroffenen Person (...), die (...) mit der Abwanderung (...) und der Aufnahme einer Beschäftigung zuvor vom Wohnmitgliedstaat teilweise in den Beschäftigungsmitgliedstaat verlagert worden sind“, stattfinde. Dem ist zuzustimmen. Der Mittelpunkt der Lebensinteressen bleibt beim unechten Grenzgänger im Wohnstaat. Lediglich spezielle Interessen, nämlich jene, die mit der Ausübung der Beschäftigung in Verbindung stehen, werden in den Beschäftigungsstaat verlagert. Bleibt es auch nach dem Ende der Beschäftigung bei dieser „Hinwendung“ zum Beschäftigungsstaat – diese wird mE zum Ausdruck gebracht, indem sich der unechte Grenzgänger der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellt und eine neuerliche Beschäftigungsaufnahme im Beschäftigungsstaat anstrebt –, so liegt keine Rückkehr in den Wohnstaat vor; es kann gem Art [0-9]5 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 die Zuständigkeit des letzten Beschäftigungsstaates für die Leistungen bei Arbeitslosigkeit gewählt werden. Kommt es hingegen zu einer Rückverlagerung der genannten Interessen in den Wohnstaat, so steht das Wahlrecht nicht zu; der Wohnstaat ist in diesem Fall für die Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständig.

Der VwGH bezieht sich im Erk vom 2.6.2016, Ra 2016/08/0047, auf einen Beitrag von Vließmann.* In diesem wird argumentiert, dass Art [0-9]5 Abs 5 lit a der VO 883/2004 die Zuständigkeit des Wohnstaates für Leistungen bei Arbeitslosigkeit festlege, wobei dies ohne Einschränkung aber nur für den „echten“ Grenzgänger gelte, was durch lit b verdeutlicht werde. Augenscheinlich sei für den Nicht-Grenzgänger, der seine „Hinwendung“ zum letzten Beschäftigungsstaat nicht aufgegeben habe, der Beschäftigungsstaat zuständig. Vließmann bezieht sich auf Eichenhofer*, sodass keineswegs von einer neuen Interpretation des Wahlrechts des unechten Grenzgängers die Rede sein kann. Schon bisher ergab sich aus der Rsp des EuGH und des VwGH, dass der unechte Grenzgänger den Wohnstaat nicht aufgeben muss, um die Zuständigkeit des Beschäftigungsstaates wählen zu können. Ebenso ergab sich schon bisher aus dem Wortlaut des Art [0-9]5 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 („nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt“), dass eine Rückkehr in den Wohnstaat die Inanspruchnahme des Wahlrechts ausschließt. Im nunmehr vorliegenden Erk vom VwGH2.6.2016, Ra 2016/08/0047, hat der VwGH an der320 bestehenden Rsp und Lehre festgehalten. Anlässlich der uneinheitlichen Rsp des BVwG wurden einige Klarstellungen vorgenommen.

6.
Zusammenfassung

Bei Auseinanderfallen von Wohn- und Beschäftigungsstaat legt Art [0-9]5 der VO 883/2004 die Zuständigkeit des Wohnstaates für Leistungen bei Arbeitslosigkeit fest. Unechte Grenzgänger (Personen, bei denen Wohn- und Beschäftigungsstaat auseinanderfallen und die seltener als wöchentlich in den Wohnstaat zurückkehren) können jedoch aufgrund der in Art [0-9]5 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 normierten Wahlmöglichkeit die Zuständigkeit des letzten Beschäftigungsstaates begründen. Echten Grenzgängern (Personen, bei denen Wohn- und Beschäftigungsstaat auseinanderfallen und die mindestens wöchentlich in den Wohnstaat zurückkehren) steht diese Möglichkeit nicht offen.

Das BVwG hat Art [0-9]5 Abs 2 letzter Satz der VO 883/2004 uneinheitlich ausgelegt. In einigen Erkenntnissen wurde das Wahlrecht des unechten Grenzgängers bejaht, in anderen verneint. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit ausgewählten Rechtsfragen auseinander, die zu den divergierenden rechtlichen Beurteilungen des BVwG geführt haben. Mit dem Erk vom 2.6.2016, Ra 2016/08/0047, hat der VwGH das Wahlrecht des unechten Grenzgängers hinsichtlich der Inanspruchnahme von Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß der VO 883/2004 bestätigt. Der unechte Grenzgänger kann die Zuständigkeit des letzten Beschäftigungsstaates auch dann wählen, wenn der Mittelpunkt der Lebensinteressen nicht im letzten Beschäftigungsstaat liegt. Die Möglichkeit, die Zuständigkeit des letzten Beschäftigungsstaates zu wählen, besteht lediglich dann nicht, wenn der unechte Grenzgänger jene Interessen, die er mit der Abwanderung und der Aufnahme einer Beschäftigung vom Wohnstaat in den Beschäftigungsstaat verlagert hat, wieder in den Wohnstaat zurückverlagert. Dies ist nach dem Dafürhalten der Verfasserin dieses Beitrags nicht anzunehmen, wenn sich der unechte Grenzgänger der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellt und die Aufnahme einer neuerlichen Beschäftigung im letzten Beschäftigungsstaat anstrebt.321