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Qualifikation der Fahrzeit Wohnort – Kunde als Arbeitszeit

GERDAHEILEGGER (WIEN)
Art 2 Z 1 RL 2003/88/EG

Bei AN, die keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben, stellt die Fahrzeit, die diese für die täglichen Fahrten zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten von ihrem AG bestimmten Kunden aufwenden, Arbeitszeit iSd Art 2 Z 1 RL 2003/88/EG dar. Diese Fahrten sind das notwendige Mittel, damit diese AN bei den Kunden ihre Leistungen erbringen können und gehören somit untrennbar zum Wesen ihrer Arbeitstätigkeit.

[...]

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

8 Tyco ist in den meisten Provinzen Spaniens in der Installation und Wartung von Sicherheitssystemen zur Erkennung von Einbrüchen und zur Verhinderung von Einbruchsdiebstählen tätig.

9 Im Jahr 2011 schloss Tyco ihre Büros in den Provinzen (im Folgenden: Regionalbüros) und wies sämtliche ihrer Angestellten dem Zentralbüro in Madrid (Spanien) zu.

10 Die bei Tyco angestellten Techniker installieren und warten Sicherheitsvorrichtungen in Häusern sowie industriellen und gewerblichen Einrichtungen in dem ihnen zugewiesenen Gebiet, das die ganze Provinz oder einen Teil davon oder gelegentlich mehrere Provinzen umfasst.

11 Diesen AN steht ein Firmenfahrzeug zur Verfügung, mit dem sie täglich von ihrem Wohnort zu den Standorten fahren, an denen sie die Installation oder Wartung der Sicherheitsvorrichtungen auszuführen haben. Dieses Fahrzeug benutzen sie auch, um am Ende des Tages zu ihrem Wohnort zurückzukehren.

12 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts kann die Entfernung zwischen dem Wohnort der AN und ihren Einsatzorten beträchtlich variieren und manchmal über 100 Kilometer betragen. Das vorlegende Gericht nennt als Beispiel einen Fall, in dem die Fahrzeit Wohnort-Kunden aufgrund des Verkehrsaufkommens drei Stunden betragen habe.

13 Die AN müssen sich außerdem ein- oder mehrmals pro Woche in die Büros einer Transportlogistikagentur in der Nähe ihres Wohnorts begeben, um Materialien, Apparate und Ersatzteile abzuholen, die sie für ihre Einsätze benötigen.

14 Zur Durchführung ihrer Aufgaben verfügen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden AN jeweils über ein Mobiltelefon, mit dem sie aus der Ferne mit dem Zentralbüro in Madrid kommunizieren können. Durch eine auf ihrem Telefon installierte Anwendung können sie am Vortag ihres Arbeitstags einen Fahrplan mit den verschiedenen Standorten, die sie an dem Tag in ihrem Gebiet aufsuchen müssen, und die Uhrzeiten der Termine mit den Kunden abrufen. Mit einer weiteren Anwendung erfassen die AN die Daten über die durchgeführten Einsätze und übermitteln sie an Tyco zur Speicherung der aufgetretenen Vorfälle und der ausgeführten Tätigkeiten.

15 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Tyco die Fahrzeit Wohnort – Kunden nicht als Arbeitszeit anrechne, sondern als Ruhezeit betrachte.

16 Tyco berechne die tägliche Arbeitszeit, indem sie auf die Zeit zwischen der Ankunft des AN am Standort des ersten Kunden des Tages und seiner Abreise vom Standort des letzten Kunden abstelle, wobei ausschließlich die Einsatzzeiten an den Standorten und die Fahrzeiten von einem Kunden zum anderen berücksichtigt würden. Vor der Schließung der Regionalbüros habe Tyco die tägliche Arbeitszeit ihrer Angestellten hingegen ab der Ankunft in diesen Büros, um das ihnen zur Verfügung gestellte Fahrzeug, die Kundenliste und den Fahrplan entgegenzunehmen, bis zur Rückkehr am Abend, um das Fahrzeug abzugeben, berechnet. [...]

19 Dass den in Rede stehenden AN die von ihnen abzufahrende Route und die den Kunden zu erbringenden einzelnen Dienstleistungen einige Stunden vor dem jeweiligen Termin über ihr Mobiltelefon mitgeteilt würden, habe zur Folge, dass diese AN nicht mehr die Wahl hätten, ihr Privatleben und ihren Wohnort auf die Nähe zu ihrem Arbeitsort auszurichten, da dieser sich täglich ändere. Folglich könne die Fahrzeit Wohnort – Kunden, insb unter Berücksichtigung des mit der RL 2003/88 verfolgten Ziels des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der AN, nicht als Ruhezeit angesehen werden. Es handele sich aber auch nicht um eine Zeit, in der die AN streng genommen ihrem AG in dem Sinne zur Verfügung stünden, dass dieser ihnen neben der eigentlichen Fahrt eine weitere Aufgabe zuweisen könne. Daher sei nicht hinreichend klar, ob die Fahrzeit Wohnort – Kunden nach der RL Arbeitszeit oder Ruhezeit darstelle.

20 Unter diesen Voraussetzungen hat die Audiencia Nacional beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art 2 der RL 2003/88 dahin auszulegen, dass die Zeit, die ein AN, der keinem festen Arbeitsort zugewiesen ist, sondern unter den Bedingungen des Ausgangsverfahrens (nach einer am Vortag vom Unternehmen festgelegten Route oder Liste) jeden Tag von seinem Wohnort zum Standort eines täglich anderen Kunden des Unternehmens fahren und vom Standort eines wiederum anderen Kunden zu seinem Wohnort zurückkehren muss, wobei die Kunden immer in einem mehr oder weniger großen Gebiet angesiedelt sind, für die Fahrt zu Beginn und am Ende des Arbeitstags aufwendet, als „Arbeitszeit“ iSd Definition dieses Begriffs in322 Art 2 der RL oder vielmehr als „Ruhezeit“ zu betrachten ist?

Zur Vorlagefrage

[...]

25 Der Gerichtshof hat zum Begriff „Arbeitszeit“ iS von Art 2 Nr 1 der RL 2003/88 wiederholt entschieden, dass die RL diesen Begriff als jede Zeitspanne definiert, während deren ein AN gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem AG zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder seine Aufgaben wahrnimmt, und dass dieser Begriff im Gegensatz zur Ruhezeit zu sehen ist, da beide Begriffe einander ausschließen (Urteile Jaeger, C-151/02, EU:C:2003:437, Rn 48, Dellas ua, C-14/04, EU:C:2005:728, Rn 42, sowie Beschlüsse Vorel, C-437/05, EU:C:2007:23, Rn 24, und Grigore, C-258/10, EU:C:2011:122, Rn 42).

26 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die genannte RL keine Zwischenkategorie zwischen den Arbeitszeiten und den Ruhezeiten vorsieht (vgl in diesem Sinne Urteil Dellas ua, C-14/04, EU:C:2005:728, Rn 43, sowie Beschlüsse Vorel, C-437/05, EU:C:2007:23, Rn 25, und Grigore, C-258/10, EU:C:2011:122, Rn 43).

27 Aus der Rsp des Gerichtshofs ergibt sich insoweit, dass die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ iSd RL 2003/88 unionsrechtliche Begriffe darstellen, die anhand objektiver Merkmale unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des Zwecks der RL zu bestimmen sind, der darin besteht, Mindestvorschriften zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der AN aufzustellen. Denn nur eine solche autonome Auslegung kann die volle Wirksamkeit dieser RL und eine einheitliche Anwendung der genannten Begriffe in sämtlichen Mitgliedstaaten sicherstellen (vgl Urteil Dellas ua, C-14/04, EU:C:2005:728, Rn 44 und 45, sowie Beschlüsse Vorel, C-437/05, EU:C:2007:23, Rn 26, und Grigore, C-258/10, EU:C:2011:122, Rn 44).

28 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Art 2 der RL nicht zu den Vorschriften dieser RL gehört, von denen abgewichen werden darf (vgl Beschluss Grigore, C-258/10, EU:C:2011:122, Rn 45).

29 Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist daher zu prüfen, ob in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die in Rn 25 des vorliegenden Urteils genannten Bestandteile des Begriffs „Arbeitszeit“ während der Fahrzeit Wohnort – Kunden vorliegen oder nicht und ob diese Zeit damit als Arbeitszeit oder als Ruhezeit anzusehen ist.

30 Zum ersten Bestandteil des Begriffs „Arbeitszeit“ iS von Art 2 Nr 1 der RL 2003/88, wonach der AN seine Tätigkeit auszuüben oder seine Aufgaben wahrzunehmen hat, ist festzustellen, dass nicht bestritten worden ist, dass Tyco vor ihrer Entscheidung, die Regionalbüros zu schließen, die Fahrzeit ihrer AN zwischen diesen Büros und dem Standort des ersten und des letzten Kunden des Tages als Arbeitszeit betrachtete, die Fahrzeit zwischen dem Wohnort und den Regionalbüros zu Beginn und am Ende des Tages dagegen nicht. Außerdem steht fest, dass sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden AN vor dieser Entscheidung täglich zu den Regionalbüros begaben, um die ihnen von Tyco bereitgestellten Fahrzeuge abzuholen und ihren Arbeitstag zu beginnen. Diese AN beendeten ihren Arbeitstag auch in diesen Büros.

31 Nach Ansicht von Tyco kann die Fahrzeit Wohnort – Kunden der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden AN nicht als Arbeitszeit iSd genannten Bestimmung betrachtet werden, weil die Tätigkeit und die Aufgaben dieser AN, obwohl sie eine Fahrt durchzuführen hätten, um sich zu den von ihr bestimmten Kunden zu begeben, darin bestünden, bei diesen Kunden Sicherheitssysteme zu installieren und zu warten. Während der Fahrzeit Wohnort – Kunden übten die AN daher weder ihre Tätigkeit aus, noch nähmen sie ihre Aufgaben wahr.

32 Dem kann nicht gefolgt werden. Wie der Generalanwalt in Nr 38 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind die Fahrten von AN, die eine Beschäftigung wie die des Ausgangsverfahrens ausüben, zu den von ihrem AG bestimmten Kunden das notwendige Mittel, damit diese AN bei den Kunden technische Leistungen erbringen können. Diese Fahrten nicht zu berücksichtigen, liefe darauf hinaus, dass ein AG wie Tyco geltend machen könnte, dass nur die für die Tätigkeit der Installation und Wartung der Sicherheitssysteme aufgewandte Zeit unter den Begriff „Arbeitszeit“ iS von Art 2 Nr 1 der RL 2003/88 falle, was zur Folge hätte, dass dieser Begriff verfälscht und das Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der AN beeinträchtigt würde.

33 Dass Tyco vor der Schließung der Regionalbüros die Fahrten der betreffenden AN zu Beginn und am Ende des Tages zu oder von den Kunden als Arbeitszeit betrachtete, zeigt im Übrigen, dass die Aufgabe, ein Fahrzeug von einem Regionalbüro zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zu diesem Büro zu führen, zuvor zu den Aufgaben und zur Tätigkeit dieser AN gehörte. Am Wesen dieser Fahrten hat sich aber seit der Schließung der Regionalbüros nichts geändert. Nur der Ausgangspunkt der Fahrten wurde geändert.

34 Daher ist bei AN, die sich in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens befinden, anzunehmen, dass sie während der Fahrzeit Wohnort – Kunden ihre Tätigkeiten ausüben oder ihre Aufgaben wahrnehmen.

35 Zum zweiten Bestandteil des Begriffs „Arbeitszeit“ iS von Art 2 Nr 1 der RL 2003/88, wonach der AN während dieser Zeit dem AG zur Verfügung stehen muss, ist festzustellen, dass der Umstand entscheidend ist, dass der AN verpflichtet ist, sich an einem vom AG bestimmten Ort aufzuhalten und sich zu dessen Verfügung zu halten, um gegebenenfalls sofort seine Leistungen erbringen zu können (vgl in diesem Sinne Urteile Dellas ua, C-14/04, EU:C:2005:728, Rn 48, sowie Beschlüsse Vorel, C-437/05, EU:C:2007:23, Rn 28, und Grigore, C-258/10, EU:C:2011:122, Rn 63).

36 Ein AN steht also nur dann seinem AG zur Verfügung, wenn er sich in einer Lage befindet, in der er rechtlich verpflichtet ist, den Anweisungen seines AG Folge zu leisten und seine Tätigkeit für ihn auszuüben.

37 Dagegen spricht es nach der Rsp des Gerichtshofs dafür, dass der betrachtete Zeitraum keine323 Arbeitszeit iSd RL 2003/88 ist, wenn die AN ohne größere Zwänge über ihre Zeit verfügen und ihren eigenen Interessen nachgehen können (vgl in diesem Sinne Urteil Simap, C-303/98, EU:C:2000:528, Rn 50).

38 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Erläuterungen von Tyco in der mündlichen Verhandlung, dass sie die von den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden AN einzuhaltende Liste und Reihenfolge der Kunden sowie die Uhrzeit der Kundentermine festlegt. Tyco hat auch vorgetragen, dass die betreffenden AN, obwohl jedem von ihnen ein Mobiltelefon gestellt worden sei, auf dem ihnen am Vortag des Arbeitstags ihre Route mitgeteilt werde, nicht verpflichtet seien, dieses Telefon während der Fahrzeit Wohnort – Kunden angeschaltet zu lassen. Folglich werde die Route zu diesen Terminen nicht von Tyco festgelegt, da es den AN freistehe, sich über die von ihnen gewünschte Route dorthin zu begeben, so dass sie ihre Fahrzeit so organisieren könnten, wie sie wollten.

39 Insoweit ist festzustellen, dass die AN, die sich in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens befinden, während der Fahrzeit Wohnort – Kunden über eine gewisse Freiheit verfügen, über die sie während eines Einsatzes bei einem Kunden nicht verfügen, sofern sie bei dem bezeichneten Kunden zu der von ihrem AG vereinbarten Uhrzeit ankommen. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht jedoch hervor, dass diese Freiheit bereits vor der Schließung der Regionalbüros bestand, als die Fahrzeit ab dem Zeitpunkt der Ankunft in diesen Büros als Arbeitszeit gezählt wurde, und sich allein der Ausgangspunkt der Fahrt zu diesem Kunden geändert hat. Diese Änderung berührt jedoch nicht die Rechtsnatur der Pflicht dieser AN, den Anweisungen ihres AG Folge zu leisten. Während dieser Fahrten unterstehen die AN den Anweisungen ihres AG, der die Kundenreihenfolge ändern oder einen Termin streichen oder hinzufügen kann. Jedenfalls haben die AN während der erforderlichen Fahrzeit, die sich zumeist nicht verkürzen lässt, nicht die Möglichkeit, frei über ihre Zeit zu verfügen und ihren eigenen Interessen nachzugehen, so dass sie demnach ihren AG zur Verfügung stehen.

40 Tyco, die spanische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs haben die Befürchtung geäußert, dass solche AN zu Beginn und am Ende des Tages ihren persönlichen Beschäftigungen nachgehen könnten. Eine solche Befürchtung kann jedoch keine Auswirkung auf die rechtliche Einstufung der Fahrzeit haben. In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ist es Sache des AG, die zur Verhinderung etwaiger Missbräuche erforderlichen Kontrollinstrumente einzurichten.

41 Zum einen war es nämlich bereits vor der Schließung der Regionalbüros möglich, zu Beginn und am Ende des Arbeitstags während der Fahrten zwischen den Standorten der Kunden und diesen Büros solchen Beschäftigungen nachzugehen. Zum anderen dürfen die Ziele der RL 2003/88, wie aus ihrem vierten Erwägungsgrund hervorgeht, keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden. Im Übrigen hat Tyco in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgetragen, dass die Verwendung der Kreditkarten, die sie ihren Angestellten aushändige, auf die Bezahlung des für einen beruflichen Einsatz bestimmten Kraftstoffs für die Fahrzeuge beschränkt sei, die ihren AN zur Verfügung gestellt würden. Tyco würde damit über ein Mittel neben anderen verfügen, um ihre Fahrten zu kontrollieren.

42 Solche Kontrollen können für ein Unternehmen in einer Situation wie der von Tyco zwar eine zusätzliche Belastung schaffen, doch ist diese Belastung eine zwangsläufige Folge ihrer Entscheidung, die Regionalbüros zu schließen. Dagegen liefe es dem von der genannten RL gesetzten Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der AN zuwider, wenn diese Entscheidung dazu führen würde, dass diese Belastung in vollem Umfang den Angestellten von Tyco auferlegt würde.

43 Zum dritten Bestandteil des Begriffs „Arbeitszeit“ iS von Art 2 Nr 1 der RL 2003/88, wonach der AN während der betrachteten Zeitspanne arbeiten muss, ist festzustellen, dass – wie aus Rn 34 des vorliegenden Urteils hervorgeht – bei einem AN, der keinen festen Arbeitsort mehr hat und der seine Aufgaben während der Fahrt zu oder von einem Kunden wahrnimmt, auch davon auszugehen ist, dass er während dieser Fahrt arbeitet. Denn die Fahrten gehören, wie der Generalanwalt in Nr 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, untrennbar zum Wesen eines AN, der keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort hat, so dass der Arbeitsort solcher AN nicht auf die Orte beschränkt werden kann, an denen sie bei den Kunden ihres AG physisch tätig werden.

44 An dieser Feststellung kann auch der Umstand nichts ändern, dass AN in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens diese Fahrten an ihrem Wohnort beginnen und beenden, da dies eine unmittelbare Folge der Entscheidung ihres AG ist, die Regionalbüros zu schließen, und nicht Ausdruck ihres eigenen Willens. Da diesen AN die Möglichkeit genommen wurde, die Entfernung zwischen ihrem Wohnort und dem gewöhnlichen Ort des Beginns und des Endes ihres Arbeitstags frei zu bestimmen, kann ihnen nicht auferlegt werden, die Folgen der Entscheidung ihres AG, diese Büros zu schließen, zu tragen.

45 Ein solches Ergebnis liefe auch dem mit der RL 2003/88 verfolgten Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der AN zuwider, das die Notwendigkeit einschließt, den AN eine Mindestruhezeit zu gewährleisten. Es stünde nämlich im Widerspruch zu dieser RL, wenn die Ruhezeit von AN, die keinen gewöhnlichen oder festen Arbeitsort haben, aufgrund des Ausschlusses der Fahrzeit Wohnort – Kunden vom Begriff „Arbeitszeit“ iS von Art 2 Nr 1 der RL verkürzt würde.

46 Nach alledem ist bei AN, die unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ein Firmenfahrzeug benutzen, um sich von ihrem Wohnort zu einem von ihrem AG bestimmten Kunden zu begeben bzw vom Standort eines solchen Kunden zu ihrem Wohnort zurückzukehren und um sich während ihres Arbeitstags vom Standort eines Kunden zu einem anderen zu begeben,324 davon auszugehen, dass sie während dieser Fahrten iS von Art 2 Nr 1 der RL „arbeiten“. [...]

48 Mit Ausnahme des in Art 7 Abs 1 der RL geregelten besonderen Falles des bezahlten Jahresurlaubs beschränkt sich die RL 2003/88 nach der Rsp des Gerichtshofs darauf, bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, so dass sie grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der AN findet (vgl Urteil Dellas ua, C-14/04, EU:C:2005:728, Rn 38, sowie Beschlüsse Vorel, C-437/05, EU:C:2007:23, Rn 32, und Grigore, C-258/10, EU:C:2011:122, Rn 81 und 83).

49 Folglich fällt die Art und Weise der Vergütung der AN in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens nicht unter die genannte RL, sondern unter die einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts.

50 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art 2 Nr 1 der RL 2003/88 dahin auszulegen ist, dass unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, unter denen die AN keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben, die Fahrzeit, die diese AN für die täglichen Fahrten zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten von ihrem AG bestimmten Kunden aufwenden, „Arbeitszeit“ iS dieser Bestimmung darstellt. [...]

ANMERKUNG

Nachdem der EuGH bereits mehrmals zur Frage der Qualifikation von Bereitschaftszeiten als Arbeitszeit Stellung bezogen hat (vgl etwa EuGH 3.10.2000, C-303/98, Simap; EuGH 9.9.2003, C-151/02, Jäger; EuGH 1.12.2005, C-14/04, Dellas ua; EuGH 25.11.2010, C-429/09, Fuß), äußert er sich im vorliegenden Fall nunmehr erstmalig zur rechtlichen Einordnung der Fahrtzeit vom Wohnort zum Dienstort/Arbeitsstätte und zurück.

1.
Verschlechternde Versetzung

Nach der Sachverhaltsdarstellung waren offenbar ursprünglich die Regionalbüros des AG der vereinbarte Dienstort: Die AN traten ihren Dienst in ihrem jeweiligen Regionalbüro an und starteten von dort aus die Fahrten zu den Kunden. Auch am Ende jedes Arbeitstages wurde das Regionalbüro angesteuert und dort der Arbeitstag beendet. Aus freier unternehmerischer Entscheidung schloss der AG die Regionalbüros und ließ fortan die AN die Fahrten zu den Kunden direkt von zu Hause aus antreten. An die Stelle der bekannten Entfernung Wohnort – Dienstort „Regionalbüro“ trat damit für die AN die unbekannte und beträchtlich variierende, manchmal auch über 100 km betragende Entfernung Wohnort – Kundenadresse.

Aus österreichischer Sicht drängt sich bei diesem Sachverhalt sofort die Problematik der verschlechternden Versetzung auf. Diese ist vertragsrechtlich nur zulässig, wenn die Zustimmung der AN vorliegt (aktuell im konkreten Fall oder bereits im Voraus, etwa im Arbeitsvertrag) und bedarf überdies betriebsverfassungsrechtlich zu ihrer Wirksamkeit (sofern sie für mindestens 13 Wochen beabsichtigt ist) der Zustimmung des BR.

Solche rechtliche Erwägungen waren freilich nicht Thema im vorliegenden Urteil, sondern es wurde offenbar bereits im Ausgangsverfahren vorausgesetzt, dass die Änderungen von den AN hinzunehmen und ab dieser Änderung die Kunden weisungsgemäß direkt anzufahren waren.

2.
Anlassfallunabhängig allgemeiner Grundsatz ableitbar

Obwohl der Urteilsspruch in Hinblick auf diesen besonderen Sachverhalt auf den ersten Blick sehr anlassfallbezogen wirkt („unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahren“), enthält er doch im Folgenden eine konkrete Beschreibung dieser Umstände, was die Ableitung allgemeiner Voraussetzungen zulässt: Die AN haben keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort und der AG gibt die konkreten Einsatzorte vor.

Der EuGH begründet dies damit, dass Fahrten von AN, die eine Beschäftigung wie die des Ausgangsverfahrens (wohl: Außendienst, regelmäßige Kundenbesuche) ausüben, zu den von ihrem AG bestimmten Kunden das notwendige Mittel darstellen, damit diese AN bei den Kunden überhaupt die eigentliche (hier technische) Leistung erbringen können.

Die Nichtberücksichtigung solcher Fahrten könne überdies dazu führen, dass das von der RL 2003/88/EG verfolgte Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der AN gefährdet wäre, weil die Ruhezeit von AN, die keinen gewöhnlichen oder festen Arbeitsort haben, verkürzt und somit die Mindestruhezeit nicht gewährleistet wäre. Diese Wertung zeigt, dass der EuGH – völlig zu Recht – solche Fahrtzeiten intuitiv nicht zu den Ruhezeiten zählt, da diese ja sonst nicht verkürzt sein könnten – und ein Mittelding zwischen Arbeitszeit und Ruhezeit gibt es ja bekanntlich nicht, hier heißt es entweder/oder.

3.
Die Wegzeit im österreichischen Recht
3.1.
Grundsatz: Wegzeit ist Freizeit

Die Zeit, die ein/e AN für den Weg vom Wohnort (oder sonstigem privaten Aufenthaltsort) zur Arbeitsstätte bzw von der Arbeitsstätte wieder zurück zum Wohnort benötigt, wird bei uns als Wegzeit bezeichnet und nach stRsp nicht zur Arbeitszeit gerechnet.

Gem § 2 Abs 1 Z 1 AZG ist Arbeitszeit „die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen“. Zahlreiche Judikate berufen sich dementsprechend darauf, dass die Wegzeiten vor Arbeitsbeginn oder nach Arbeitsende liegen – und somit nicht zur Arbeitszeit gehören (RIS-Rechtssatz RS0051331). Dies sah der OGH selbst im Falle von Arbeitsleistungen auf wechselnden Baustellen so – im Zweifel ist davon auszugehen, dass Bauarbeiter sich auf der jeweiligen Baustelle als vereinbartem325 Arbeitsort einzufinden haben (OGH4 Ob 92/82Arb 10.180).

Der grundsätzlichen Qualifikation von Wegzeit als Freizeit ist durchaus zuzustimmen. Der/die AG hat keinerlei Einfluss darauf, wo ein/e AN wohnt bzw von wo aus diese/r den Weg zur Arbeit antritt. Der/die AN hat die freie Entscheidung, welchen Weg zur Arbeitsstätte er/sie nimmt, welches Verkehrsmittel, was er/sie auf dem Weg unternimmt usw. Der/die AN steht dem/der AG in dieser Zeit nicht zur Verfügung, der/die AG hat keinen rechtlichen Anspruch, auf den/die AN zuzugreifen.

Überdies hat der/die AN ja den Dienstort mit dem/der AG vereinbart und somit bewusst die Wegzeit – den Weg in die Arbeit – in Kauf genommen.

3.2.
In problematischen Fällen: Zumutbarkeitsgrenze für Wegzeit

Genau dieses letztgenannte Argument greift allerdings nicht, wenn der Arbeitsvertrag eine sehr weite Definition des Einsatzortes enthält, indem beispielsweise jeder denkbare Einsatzort innerhalb Österreichs als Arbeitsort vereinbart wird. In solchen Fällen können sich die AN in ihrer Lebensgestaltung nicht auf einen bestimmten Arbeitsort einstellen, der/die AG kann beträchtliche Anreisezeiten, die sonst als Reisezeiten zu bezahlen wären, als „Wegzeiten“ bezeichnen und damit der Anrechnung auf die Arbeitszeit (sowie im Übrigen auch der Verpflichtung, Reiseaufwendungen zu ersetzen bzw Diäten zu bezahlen) entziehen.

In Anbetracht der Unhaltbarkeit solcher Vereinbarungen wurden von Rsp (OGH9 ObA 102/93RdW 1993, 373) wie auch Lehre (Klein in

Heilegger/Klein
, AZG4 § 2 Rz 6; Pfeil in
Neumayr/Reissner
[Hrsg], ZellKomm2 § 2 Rz 5) Überlegungen angestellt, eine Zumutbarkeitsgrenze einzuführen: Wenn die Wegzeit zu einer Arbeitsstätte diese Grenze überschreitet, wäre sie demnach nicht mehr als Wegzeit, sondern als Reisezeit zu behandeln. Als sinnvolle Grenzziehung wurden bei Vollzeitbeschäftigten maximal zwei Stunden tägliche Wegzeit vorgeschlagen (in Anlehnung an § 9 Abs 2 AlVG).

Überlegenswert ist, ob sich das Erfordernis einer solchen Grenzziehung durch die neue EuGH-Rsp nicht überholt hat – denn europarechtlich wird davon auszugehen sein, dass die AN keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben, da eine übermäßig weite Definition des Arbeitsortes dieses Kriterium wohl nicht erfüllt, und schon aus diesem Grund die Wegzeiten als Arbeitszeit zu werten sind.

3.3.
Ähnliche Wertung bei Reisezeiten – Abgeltung

Interessanterweise findet sich eine ähnliche Wertung wie in der aktuellen EuGH-E im österreichischen Recht im Zusammenhang mit Reisezeiten.

Reisezeit liegt vor, wenn der/die AN über Auftrag des/der AG vorübergehend seinen Dienstort (Arbeitsstätte) verlässt, um an anderen Orten seine/ihre Arbeitsleistung zu erbringen (§ 20b Abs 1 AZG). Bei Reisezeiten sind demnach beide Orte vom/von der AG vorgegeben (bzw mit dem/der AN vereinbart): der übliche Dienstort und das Reiseziel. Bei der Wegzeit hingegen ist nur der Dienstort mit dem/der AG akkordiert, während dieser auf den privaten Aufenthaltsort des/der AN ja keinerlei Einfluss hat.

Da die Inanspruchnahme insb bei passiven Reisezeiten (wenn der/die AN nicht selbst das Fahrzeug lenkt) deutlich geringer sein kann als bei der eigentlichen Arbeitsleistung, lässt die stRsp einzel- oder kollektivvertragliche Vereinbarungen einer geringeren Entlohnung für solche Zeiten zu. Dies ist allerdings nach stRsp dann nicht zulässig, wenn die Reisetätigkeit zum ständigen Aufgabenkreis eines/einer AN gehört, wie etwa bei einem Monteur, der zur Durchführung von Servicearbeiten von Kundschaft zu Kundschaft fährt. In solchen Fällen ist die Reisezeit ohnehin stets „Arbeitszeit ieS“ (vgl etwa OGH4 Ob 49/84

; OGH9 ObA 281/89). Hier dürfte dieselbe Wertung vorliegen wie in der aktuellen EuGH-E – die Berufsgruppe der AußendienstmitarbeiterInnen erscheint bezüglich ihrer Fahrzeiten besonders schutzwürdig.

Der EuGH äußert sich mangels Regelungskompetenz der RL 2003/88/EG hinsichtlich Entgeltfragen nicht zur Frage der Vergütung. Allerdings wird innerstaatlich in Hinblick auf die eben geschilderte stRsp bei den Reisezeiten davon auszugehen sein, dass als Arbeitszeit zu behandelnde Wegzeiten bei AN, bei denen die Reisetätigkeit zum ständigen Aufgabenkreis gehört, ebenso als „Arbeitszeit ieS“ zu sehen und voll zu entlohnen sind.

4.
Ausblick

Die vorliegende E des EuGH greift eine auch bei uns viel diskutierte Problematik auf und fällt eine für eine ganz bestimmte Gruppe von AN günstige Entscheidung. Die im Spruch enthaltene Beschreibung dieser AN-Gruppe dürfte jedenfalls konkret genug sein, um Eingang in die einzelstaatlichen Rechtsprechungen zu finden. Man darf auf eine allfällige Änderung der österreichischen Rsp gespannt sein.

Wurden bisher Wegzeiten der Freizeit des/der AN zugeschlagen, so zählen Wegzeiten nunmehr zur Arbeitszeit, wenn

  • die AN keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben,

    die Reisetätigkeit zum ständigen Aufgabenkreis eines/einer AN gehört (wie typischerweise bei AußendienstmitarbeiterInnen) und

    der/die AG die Arbeitsorte vorgibt.326