188Kindererziehung in Italien – Keine Gleichstellung dieser Zeiten in der inländischen Pensionsversicherung
Kindererziehung in Italien – Keine Gleichstellung dieser Zeiten in der inländischen Pensionsversicherung
Die Gleichstellung der im EU-Ausland erbrachten Kindererziehungszeiten reduziert sich im Anwendungsbereich der VO 883/2004 im Wesentlichen auf Fälle, in denen eine bei Geburt beschäftigte Person nach der Geburt in einen anderen Mitgliedstaat abwandert, dort keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und auch keine sonstigen Vorschriften des Wohnsitzstaats, in dem das Kind erzogen wird, die Anrechnung von Kindererziehungszeiten vorsehen.
Die am 2.2.1944 geborene Kl studierte nach ihrer Matura bis 1968 in Salzburg. 1970 heiratete sie und zog nach Italien, wo sie bis zu ihrer Rückkehr nach Österreich im Jahr 2000 lebte. Am 8.1.1972 und am 4.7.1974 kamen ihre beiden Kinder zur Welt. In Italien erwarb die Kl keine Versicherungsmonate. Ein Antrag der Kl auf Anerkennung von Kindererziehungszeiten in Italien wurde von den italienischen Behörden abgelehnt. Bei-292tragsmonate zur Pflichtversicherung in Österreich erwarb die Kl im Juli 1993 (ein Monat), von Jänner 2003 bis Dezember 2004 (24 Monate) sowie von September 2005 bis Jänner 2013 (89 Monate).
Mit Bescheid der PVA vom 13.2.2013 wurden bis zum Feststellungszeitpunkt (1.2.2013) insgesamt 114 Beitragsmonate der Pflichtversicherungs-Erwerbstätigkeit festgestellt.
Mit der gegen diesen Bescheid eingebrachten Klage begehrte die Kl die Feststellung von weiteren Versicherungszeiten für den Zeitraum vom 8.1.1972 bis 31.7.1978 (Kindererziehungszeiten) im Wesentlichen mit dem Vorbringen, Kindererziehungszeiten in einem anderen EU-Mitgliedstaat müssten nach der Rsp des EuGH in der PV wie inländische Zeiten berücksichtigt werden. Eine Nichtberücksichtigung der Kindererziehungszeiten würde sie in ihrem Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gem Art 21 AEUV beschränken. Eine Benachteiligung würde nur dann nicht vorliegen, wenn entweder die Anrechnung der Kindererziehungszeiten durch den italienischen Träger erfolgt sei oder Art 44 Abs 2 VO 987/2009 über seinen Wortlaut hinaus dahin ausgelegt werde, dass auch ohne Vorliegen einer Beschäftigung oder einer selbstständigen Erwerbstätigkeit Kindererziehungszeiten zu berücksichtigen seien, wenn ansonsten keine Anrechnung in Betracht komme. In der EuGH-E vom 19.7.2012, C-522/10, Reichel-Albert, habe die Europäische Kommission gegenüber dem EuGH die Rechtsansicht vertreten, Art 44 VO 987/2009 sei mit Art 21 AEUV nicht vereinbar. Da die italienischen Behörden eine Anrechnung der Kindererziehungszeiten ablehnen, wurde ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Auslegung des Art 44 VO 987/2009 angeregt.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl keine Folge und ließ die ordentliche Revision im Hinblick auf das Fehlen einer Rsp des OGH zur Frage der Berücksichtigung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten in der österreichischen PV nach den Bestimmungen der VO 883/2004 bzw der VO 987/2009 zu.
Der OGH erklärte die Revision für zulässig, ihr wurde aber nicht Folge gegeben.
„5. [...] Eines der grundlegenden Prinzipien des Systems zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit ist der Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts, wie ihn Art 11 Abs 1 VO 883/2004 festlegt. Außerdem ist es eines der Kernprinzipien der VO 883/2004 sowie der VO 987/2009, dass die Versicherten – gemäß ständiger Rechtsprechung im Bereich der sozialen Sicherheit – nicht verlangen können, dass ihr Umzug in einen anderen Mitgliedstaat keine Auswirkungen auf die Art oder das Niveau der Leistungen hat, die sie in ihrem Herkunftsstaat beanspruchen könnten. Die Tatsache, dass die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die soziale Sicherheit möglicherweise nicht neutral ist, dh je nach Einzelfall Vorteile oder gar Nachteile haben kann, ist eine unmittelbare Folge dessen, dass der zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehende Unterschied beibehalten wurde (vgl dazu die Schlussanträge des Generalanwalts im Verfahren Reichel-Albert, C-522/10 Rn 43 ff). […]
6.1 [...] Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 legt als grundsätzliche Regelung die Zuständigkeit des Beschäftigungsstaats für Beschäftigte fest. Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 sieht als subsidiäre Auffangregel insbesondere für alle nicht erwerbstätigen Personen die Zuständigkeit des Wohnmitgliedstaats vor. […]
6.2 [...] Nach zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichts unterlag die Klägerin während der Zeit ihres Wohnsitzes in Italien, also auch während der hier strittigen Zeiten der Kindererziehung, den Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats, somit italienischem Recht. […]
7.1 Art 44 Abs 2 VO 987/2009 setzt für seine Anwendung voraus, dass 1. die Kindererziehungszeiten nach den Rechtsvorschriften des nach Titel II VO 883/2004 zuständigen Mitgliedstaats berücksichtigt werden und 2. die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats nach Titel II der VO 883/2004 auf die betreffende Person anwendbar waren, weil diese Person eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, und zwar zu dem Zeitpunkt, zu dem nach diesen Rechtsvorschriften die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind begann. Nur wenn beide Voraussetzungen erfüllt sind, ist eine Anrechnung vorgesehen. Es ist dieser Bestimmung immanent, dass es auch Konstellationen geben kann, in denen der zuvor zuständige Staat keine Kindererziehungszeiten anzurechnen hat (vgl Pöltl in
7.2 Kindererziehungszeiten im EU-Ausland sind daher nach Art 44 VO 987/2009 dem österreichischem Recht unterworfen und damit gleichgestellt, wenn 1) das Kind in Österreich geboren wurde, 2) der die Kindererziehungszeiten begehrende Elternteil im Zeitpunkt der Geburt aufgrund einer Beschäftigung (oder einer selbständigen Erwerbstätigkeit) in Österreich sozialversichert war, 3) nach den Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats, in dem das Kind in der Folge erzogen wurde, keine Kindererzie-293hungszeiten erworben werden, und 4) auf den die Gleichstellung der Kindererziehungszeiten begehrenden Elternteil auch nicht aufgrund einer Erwerbstätigkeit die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zur Anwendung kommen. Die Anwendung der VO 883/2004 hinsichtlich der Gleichstellung der Kindererziehungszeiten reduziert sich damit im Wesentlichen auf Fälle, in denen eine bei Geburt beschäftigte Person nach der Geburt in einen anderen Mitgliedstaat abwandert, dort keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und auch keine sonstigen Vorschriften des Wohnsitzstaats, in dem das Kind erzogen wird, die Anrechnung von Kindererziehungszeiten vorsehen (Panhölzl in SV-Komm [117.Kindererziehungszeiten im EU-Ausland sind daher nach ArtLfg] § 227a ASVG Rz 55 f). […]
8.1 [...] Der gegenständliche Sachverhalt unterscheidet sich [...] insofern wesentlich von dem der Entscheidung in der Rs Reichel-Albert zugrundeliegenden Sachverhalt, als die Klägerin im vorliegenden Verfahren vor ihrer Wohnsitzverlegung in Österreich nicht erwerbstätig war, während die Klägerin im Verfahren Rs C-522/10zunächst in Deutschland erwerbstätig war und noch während ihres Arbeitslosengeldbezugs nach Belgien verzog, wo sie ihre Kinder gebar und erzog, aber dort nicht erwerbstätig war.
8.2 [...] Eine Auslegung des Art 44 VO 987/2009 dahingehend, dass auf jeden Fall einer der beiden in Betracht kommenden Mitgliedstaaten Zeiten anrechnen muss, sofern nur nach dem nationalen Recht eines dieser beiden Staaten die Anrechnung von Kindererziehungszeiten grundsätzlich vorgesehen ist, würde dem klaren Wortlaut und der Intention der Bestimmung widersprechen (Pöltl in
9. Soweit die Klägerin schließlich unter Bezugnahme auf die Entscheidung des EuGH in der Rs Reichel-Albert, C-522/10, vom 19.7.2012 [...] davon ausgeht, dass die Nichtberücksichtigung ihrer in Italien zurückgelegten Kindererziehungszeiten gegen das allgemeine Freizügigkeitsrecht nach Art 21 AEUV verstoße, ist ihr entgegenzuhalten, dass sich der vorliegende Sachverhalt wesentlich von dem der Entscheidung des EuGH zugrundeliegenden Sachverhalt unterscheidet. [...] Das Recht auf Freizügigkeit verlange aber keine generelle, über Art 44 VO 987/2009 hinausgehende Gleichstellung aller Kindererziehungszeiten unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat sie zurückgelegt wurden [...].“
Art 44 Abs 2 der VO 987/2009 definiert im Anwendungsbereich der VO 883/2004 die Voraussetzungen, nach denen die Zeiten der Kindererziehung im zuständigen Mitgliedstaat in einem anderen Mitgliedstaat iS einer Gleichstellung zu berücksichtigen sind. Mit der gegenständlichen E äußert sich der OGH erstmals im Anwendungsbereich der VO 883/2004 zur Frage der Berücksichtigung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten in der österreichischen PV. Konsequent und zutreffend legt er die Voraussetzungen für eine Gleichstellung von in einem anderen Mitgliedstaat erbrachten Kindererziehungszeiten dar. Demnach reduziert sich die Anwendung der VO 883/2004 hinsichtlich der Gleichstellung der Kindererziehungszeiten im Wesentlichen auf Fälle, in denen eine bei Geburt beschäftigte Person nach der Geburt in einen anderen Mitgliedstaat abwandert, dort keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und auch keine sonstigen Vorschriften des Wohnsitzstaats, in dem das Kind erzogen wird, die Anrechnung von Kindererziehungszeiten vorsehen.
Wie bereits in seinen früheren Entscheidungen im Anwendungsbereich der VO 1408/71 (zB OGH 24.1.2006, 10 ObS 55/05v; OGH 5.12.2006, 10 ObS 175/06t) betont der OGH mit der vorliegenden E auch im Anwendungsbereich der VO 883/2004, dass das Gemeinschaftsrecht keine generelle Gleichstellung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten mit denjenigen, die im Inland erbracht wurden, gebietet.
Zum von der Kl vorgebrachten Einwand, die Europäische Kommission habe in der Rs Reichel-Albert gegenüber dem EuGH die Rechtsansicht vertreten, Art 44 VO 987/2009 sei mit dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht des Art 21 AEUV nicht vereinbar, hat der OGH dargelegt, dass sich die Sachverhalte wesentlich unterscheiden. Im vorliegenden Sachverhalt übte die Kl, bevor sie ihren Wohnsitz von Österreich nach Italien verlegte, in Österreich keine Erwerbstätigkeit aus. Frau Reichel-Albert hingegen war, bevor sie ihren Wohnsitz von Deutschland aus rein familiären Gründen nach Belgien verlegte, in Deutschland erwerbstätig und bezog im Anschluss an ihre Beschäftigung Arbeitslosengeld aus Deutschland. Sie gebar zwei Kinder in Belgien, übte in Belgien keine Erwerbstätigkeit aus und versicherte sich nach ihrer Rückkehr nach Deutschland freiwillig in der deutschen Rentenversicherung. Da Frau Reichel-Albert ausschließlich in ein und demselben Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, und zwar sowohl vor als auch nach der vorübergehenden Verlegung ihres Wohnsitzes aus rein familiären Gründen in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie zu keiner Zeit gearbeitet oder Beiträge gezahlt hat, ging der EuGH davon aus, dass zwischen diesen Kindererziehungszeiten und den Versicherungszeiten, die aufgrund ihrer Berufstätigkeit in Deutschland zurückgelegt wurden, eine hinreichende Verbindung besteht.294 Durch diese hinreichende Verbindung wurde die zuständige deutsche Rentenversicherung unter Berufung auf das Freizügigkeitsrecht verpflichtet, die in Belgien zurückgelegten Zeiten so zu berücksichtigen, als seien sie in Deutschland zurückgelegt worden.
Dem OGH ist daher zuzustimmen, wenn er beim vorliegenden Sachverhalt die Frage, ob Art 44 Abs 2 der VO 987/2009 dem Primärrecht entspricht, nicht dem EuGH zu Vorabentscheidung vorlegt.