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Unbeachtlichkeit der familiären Situation für den Pensionsanspruch wegen geminderter Arbeitsfähigkeit

MONIKAWEIßENSTEINER

Die familiäre Situation eines Versicherten ist für die Beurteilung der Minderung der Arbeitsfähigkeit grundsätzlich unbeachtlich. Ist ein Wohnsitzwechsel aus medizinischen Gründen nicht zumutbar, ist nicht entscheidend, ob der Versicherte verheiratet ist und die Ehegattin nach § 92 ABGB verpflichtet ist, mitzuziehen. Der Umstand, dass ihm ein solcher Wohnsitzwechsel dann möglich ist, wenn seine Gattin mit ihm umzieht, gehört dem individuellen familiären Umfeld des Kl an, so dass er für die Beurteilung der Frage der geminderten Arbeitsfähigkeit grundsätzlich keine Bedeutung hat.

SACHVERHALT

Der 1960 geborene Kl hat keinen Beruf erlernt. Trotz seiner zahlreichen gesundheitlichen Einschränkungen ist der Kl noch in der Lage, als Kuvertierer und Adressenverlagsarbeiter zu arbeiten; österreichweit besteht ein ausreichender Arbeitsmarkt, nicht aber in Vorarlberg. Das Lenken von Kraftfahrzeugen ist dem Kl nicht möglich. Dem Kl ist Tagespendeln, nicht aber Wochenpendeln zumutbar. Eine Wohnsitzverlegung wäre ihm zumutbar, wenn seine Gattin mit ihm den Wohnsitz wechselt.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit Bescheid vom 11.7.2013 wurde der Antrag auf Invaliditätspension abgelehnt, weil der Kl nicht invalid sei und kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation bestehe. Das Erstgericht wies die Klage ab. Könne ein Versicherter seinen Wohnsitz aus medizinischen Gründen nur gemeinsam mit seiner Familie verlegen, bilde dies nach der OGH-E vom 23.10.1990, 10 ObS 324/90, einen pensionsrechtlich unbeachtlichen subjektiven Aspekt, zumal die konkrete familiäre Situation bei der Beurteilung der Verweisbarkeit schon an sich keine Rolle spiele.

Das Berufungsgericht gab der Berufung keine Folge. Der OGH gab der Revision Folge und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1.1 Die Minderung der Arbeitsfähigkeit wird im Anwendungsbereich der auch hier maßgeblichen Bestimmung des § 255 Abs 3 ASVG grundsätzlich nicht konkret, sondern abstrakt ermittelt. […] Für die Beurteilung der Frage der Verweisbarkeit spielt daher auch die familiäre Situation eines Versicherten keine Rolle. […]

1.2 Ein Korrektiv zu der von der rein abstrakten Prüfung abweichenden Beurteilung im Einzelfall stellt die Zumutbarkeitsprüfung gemäß § 255 Abs 3 ASVG dar. […]

1.3 Im Regelfall muss aber die Ursache für die geminderte Arbeitsfähigkeit der körperliche und geistige Zustand des Versicherten sein. Umstände, die mit dem Gesundheitsstand nicht im Zusammenhang stehen, sind bei Prüfung der Invalidität bzw der geminderten Arbeitsfähigkeit von vornherein nicht zu berücksichtigen. […]

1.4 […] Der Versicherte ist daher grundsätzlich verpflichtet zu übersiedeln, um einen Arbeitsplatz zu erreichen (RIS-Justiz RS0084939 [T1]; Födermayr/Resch in SV-Komm [139. Lfg] § 255 ASVG Rz 61). Diese Verpflichtung besteht nach dem Gesagten konsequenterweise dann nicht, wenn dem Versicherten eine Verlegung des Wohnorts aus medizinischen Gründen – daher infolge seines körperlichen und geistigen Zustands – nicht möglich ist. […]

2.1 Im Anlassfall ist dem Kläger der Wohnsitzwechsel aus medizinischen Gründen nicht mehr möglich. Ein Wohnsitzwechsel ist ihm nur dann möglich, wenn seine Ehegattin mit ihm mitzieht.

2.2 Der Oberste Gerichtshof hat in einer vergleichbaren Konstellation in der auch von den Vorinstanzen herangezogenen Entscheidung 10 ObS 324/90 ausgeführt, dass es ohne Bedeutung sei, wenn der Kläger seinen Wohnsitz aus medizinischen Gründen nur gemeinsam mit seiner Familie verlegen könne, weil seine Ehegattin gemäß § 92 Abs 1 ABGB verpflichtet sei, mitzuziehen. An dieser Rechtsansicht kann jedoch vor dem Hintergrund der Entwicklung der späteren Rechtsprechung nicht festgehalten werden. […]

2.4 In der Entscheidung 10 ObS 49/04k, SSV-NF 18/80, war der Klägerin aus medizinischen Gründen noch Tagespendeln, nicht aber Wochenpen-295deln oder Übersiedeln möglich. […] Der damaligen Klägerin wäre es nur mithilfe ihres Ehegatten möglich gewesen, die nächste Bushaltestelle zu erreichen. […]

2.5 Die Beistandspflicht zwischen Ehegatten ist – ebenso wie die Verpflichtung zum gemeinsamen Wohnen – in § 90 Abs 1 ABGB geregelt. […] Einen Teilaspekt der allgemeinen ehelichen Beistandspflicht bildet die in § 90 Abs 2 ABGB geregelte Verpflichtung des Ehegatten, den anderen Ehegatten bei dessen Erwerb – im zumutbaren Ausmaß – zu unterstützen. […]

3.1 Dem Kläger ist ein Wohnsitzwechsel aus medizinischen Gründen (wegen der Notwendigkeit eines stabilen sozialen Umfeldes für Versicherte mit psychischen Erkrankungen) nicht mehr möglich. Der Umstand, dass ihm ein solcher Wohnsitzwechsel dann möglich ist, wenn seine Gattin mit ihm umzieht, gehört dem individuellen familiären Umfeld des Klägers an, sodass er für die Beurteilung der Frage der geminderten Arbeitsfähigkeit grundsätzlich keine Bedeutung hat. […]

3.2 Ebenso wenig, wie das familiäre Umfeld zugunsten des Klägers gewertet werden dürfte, darf es auch nicht zu Lasten des Klägers ins Treffen geführt werden. Die Berücksichtigung der Ehe des Klägers hätte sonst zur Folge, dass der Kläger etwa gegenüber einem unverheirateten Versicherten, dem die Übersiedlung aus medizinischen Gründen nicht möglich ist, ungünstiger gestellt wäre. Dasselbe gilt, wenn man die Situation des Klägers mit der eines Versicherten vergleicht, der in Lebensgemeinschaft lebt, weil den Lebensgefährten keine Folgepflicht iSd § 92 Abs 1 ABGB trifft. Eine solche ungünstigere Behandlung des Klägers aufgrund seiner familiären Umstände ist aber ebenso wenig zulässig wie eine allfällige günstigere Behandlung. […]

3.3 Da der Umstand, dass der Kläger verheiratet ist und seine Ehegattin grundsätzlich eine Folgepflicht iSd § 92 Abs 1 ABGB trifft (10 ObS 324/90), seiner – für die Beurteilung der Minderung der Arbeitsfähigkeit grundsätzlich unbeachtlichen – familiären Situation angehört, kommt es nicht darauf an, ob die Ehegattin des Klägers nach den Voraussetzungen des § 92 Abs 1 ABGB im konkreten Einzelfall (vgl 9 Ob 207/99b) tatsächlich verpflichtet wäre, ihm bei einem Umzug zu folgen, oder ob sie diesem zumindest gleich wichtige Interessen entgegenhalten könnte (RIS-Justiz RS0047286). […]

3.4 Ausgehend davon sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Invaliditätspension gemäß § 255 Abs 3 ASVG im Anlassfall grundsätzlich erfüllt, weil dem Kläger ein Wohnsitzwechsel aus medizinischen Gründen nicht mehr möglich ist und auf dem für ihn erreichbaren regionalen Arbeitsmarkt keine ausreichende Anzahl an Arbeitsplätzen in den ihm noch zumutbaren Verweisungstätigkeiten besteht. […]

5.4 […] Daher erweist sich die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen als unumgänglich. Sollte im fortgesetzten Verfahren strittig sein, ob der Kläger rehabilitierbar ist, wird das Erstgericht nach Erörterung der Beklagten eine angemessene Frist zur Prüfung der Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation durch den Kläger einzuräumen und allenfalls in weiterer Folge vor einer Abweisung des Klagebegehrens dem Kläger die Gelegenheit zu einer Klageänderung zu geben haben. […]

ERLÄUTERUNG

Die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen einer Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension erfolgt abstrakt. Allein der körperliche und geistige Zustand des Versicherten ist ausschlaggebend. Ob der Versicherte tatsächlich einen Arbeitsplatz in einem Verweisungsberuf findet oder ob eine ausreichende Kenntnis der deutschen Sprache vorhanden ist, ist ebenso wenig entscheidend wie der Umstand, wo der Versicherte wohnt. Verweisungsfeld ist der gesamte österreichische Arbeitsmarkt. Auch ein sehr abgelegener Wohnort ist der persönlichen Sphäre zuzuordnen und damit unbeachtlich.

Allerdings muss ein (abstrakt) möglicher Arbeitsplatz in einem Verweisungsberuf erreichbar sein. Nach der stRsp ist zu prüfen, ob der sogenannte Anmarschweg bewältigbar ist. Eine Wegstrecke von 500 m in einem zumutbaren Zeitraum und die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel müssen aus medizinischen Gründen möglich sein. Geprüft wird weiters, ob Tagespendeln oder Wochenpendeln möglich ist. Ist einem Pensionswerber infolge seines körperlichen und/oder geistigen Zustandes Pendeln nicht mehr möglich, ist zu prüfen, ob eine Wohnsitzverlegung zumutbar ist. Der OGH hat in zahlreichen Entscheidungen ausgesprochen, dass vom Versicherten eine Wohnsitzverlegung gefordert werden kann, wenn er dadurch in die Lage versetzt wird, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erreichen (RS0084939). Die Wohnsitzverlegung ist auch dann zumutbar, wenn eine Versicherte an ihrem bisherigen Wohnsitz seit Jahrzehnten ihren Lebensmittelpunkt hat und dort ihre acht Kinder leben (OGH 11.6.1991, 10 ObS 213/91). Von einem Versicherten ist grundsätzlich zu verlangen, dass er – sofern nicht medizinische Gründe dem entgegenstehen – durch entsprechende Wahl seines Wohnortes die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herstellt; wobei Wochenpendeln als zumutbar erachtet wird (OGH 19.11.2013, 10 ObS 168/13y). Es soll also niemand aufgrund eines entlegenen Wohnortes bei der Prüfung seines Pensionsanspruches einen Vorteil haben.

Ebenso wenig spielt die konkrete familiäre Situation eine Rolle. Die Rechtsansicht in der von den Vorinstanzen herangezogenen OGH-E vom 23.10.1990, 10 ObS 324/90, wird vom OGH nun ausdrücklich nicht mehr aufrechterhalten. In dieser E hatte der OGH nicht in der Sache selbst entschieden, sondern nur auf die Richtigkeit der im296 Berufungsurteil enthaltenen Begründung verwiesen (§ 48 ASGG). Das Berufungsgericht hatte damals die Ansicht vertreten, dass es ohne Bedeutung sei, dass der Kl seinen Wohnsitz aus medizinischen Gründen nur gemeinsam mit seiner Familie verlegen kann, weil seine Ehefrau gem § 92 Abs 1 ABGB verpflichtet sei, mitzuziehen.

Allerdings war der OGH bereits zwischenzeitlich von dieser strengen Judikaturlinie zumindest teilweise abgerückt. In der OGH-E vom 14.9.2004, 10 ObS 49/04k, konnte die Kl aufgrund ihrer medizinischen Einschränkungen weder Wochenpendeln noch den Wohnsitz verlegen; Tagespendeln war möglich. Sie konnte den Weg zur Bushaltestelle und zurück jedoch nur zurücklegen, wenn ihr Ehegatte sie mit dem PKW jeweils hinbringt und abholt. Der OGH betonte, dass eine bestimmte familiäre Situation bei der abstrakten Beurteilung nicht zugunsten des Versicherten, aber auch nicht zu seinen Lasten herangezogen werden könne und sprach deshalb die Pension zu.

In konsequenter Fortsetzung dieser Judikatur ist auch im nun zu beurteilenden Sachverhalt unbeachtlich, dass der Kl seinen Wohnsitz wechseln könnte, wenn die Ehegattin mitzieht. Die weitere Prüfung, ob die Ehegattin nach § 92 Abs 1 ABGB tatsächlich verpflichtet wäre mitzuziehen, erübrigt sich. Ein Versicherter, der wie der Kl aus medizinischen Gründen den Wohnsitz nicht wechseln kann und für den auf dem erreichbaren regionalen Arbeitsmarkt keine ausreichenden Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, ist invalid gem § 255 Abs 3 ASVG. Im fortgesetzten Verfahren ist noch zu prüfen, ob eine berufliche Rehabilitation möglich ist.