Umschulungsgeld bei grenzüberschreitenden Sachverhalten
Umschulungsgeld bei grenzüberschreitenden Sachverhalten
Mit BGBl I 2013/3 (SRÄG 2012) wurde eine umfassende Reform der Invaliditätspension vorgenommen. Für Versicherte ab dem Geburtsjahrgang 1964 wurde die befristete Invaliditätspension abgeschafft. An ihrer Stelle wurden zwei neue Versicherungsleistungen eingeführt, das Rehabilitationsgeld (§ 143a ASVG) und das Umschulungsgeld (§ 39b AlVG). Für beide Leistungen wurden jeweils auch ergänzende Sachleistungsansprüche geschaffen. BezieherInnen von Rehabilitationsgeld haben neben dem Anspruch auf das neu eingeführte Case Management durch die Krankenversicherungsträger (§ 143b ASVG) auch Anspruch auf medizinische Rehabilitation durch die Pensionsver-314sicherungsträger (§ 253 f ASVG). Bei Vorliegen von zumindest vorübergehender Invalidität (§ 255a ASVG), von Berufsschutz (§ 255 Abs 1, § 271 Abs 1 ASVG) und von Zumutbarkeit und Zweckmäßigkeit von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation erhalten die Versicherten Anspruch auf entsprechende konkrete Maßnahmen der Umschulung, mit denen ihnen der Weg in eine neue bzw ergänzende und mit dem festgestellten medizinischen Leistungskalkül in Übereinstimmung stehende, vor allem aber arbeitsmarktrelevante, Qualifikation eröffnet werden soll. Für die Dauer von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation erhalten die Versicherten das Umschulungsgeld gem § 39b AlVG. Hauptsächlicher Träger der beruflichen Umschulung ist das AMS.* Das Ziel der Reform ist es ua, Versicherte mit entsprechenden Einschränkungen ihrer Arbeitsfähigkeit nicht mehr als inaktive PensionistInnen aufzufassen, sondern gesundheitsfördernde und aktivierende Maßnahmen bereit zu stellen, die den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern bzw ermöglichen sollen.
Bei der der AlV zugeordneten Geldleistung Umschulungsgeld zeigt sich der enge systematische Zusammenhalt, den das SRÄG 2012 zwischen Geldleistungen und Sachleistungen eingeführt hat, besonders deutlich. § 39b AlVG normiert neben dem grundsätzlichen Anspruch im Wesentlichen dessen Begrenzung auf Zeiträume, die tatsächlich mit der „Auswahl und Planung der Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation
“ (Abs 2) sowie der Durchführung dieser Maßnahmen verbunden sind, so dass es nicht denkbar erscheint, die Geldleistung Umschulungsgeld unabhängig von der Sachleistung berufliche Rehabilitation zu gewähren, auch wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen würden.
Dass § 39b AlVG auch Schutzbestimmungen für Fälle normiert, in denen aus Gründen, die den Versicherten nicht vorzuwerfen sind, die Umschulungsmaßnahmen nicht bis zum Ende durchgeführt werden können, ändert an diesem systematischen Zusammenhang nichts. In der Praxis wirkt sich die enge Verbindung der Geldmit den entsprechenden Sachleistungen vor allem in jenen Verfahren aus, in denen die Verletzung von Mitwirkungspflichten bei konkreten Rehabilitationsmaßnahmen zur Entziehung des Umschulungs- bzw des Rehabilitationsgeldes für die Begründung der bescheidmäßigen Entziehung von Leistungen heran- gezogen wird.*
Im skizzierten Fall stellen sich auch Fragen der Sozialrechtskoordination, wenn der Kl seinen Wohnsitz bereits im laufenden Verfahren in Ungarn hat (Variante 1) oder wenn er ihn im laufenden Bezug nach Ungarn verlegt (Variante 2).
Nach den Regeln der europäischen Sozialrechtskoordinierung sind Geldleistungen in andere Mitgliedstaaten exportierbar (Art 7 VO [EU] 883/2004), für Sach- bzw Dienstleistungen gelten aber nicht die Regelungen über den Leistungsexport, sondern jene über die sogenannten Sachleistungsaushilfen.* Allerdings gibt es keine koordinierungsrechtliche Anknüpfung dieser Sachleistungsaushilfen an die Leistungen bei Arbeitslosigkeit iSd VO (EU) 883/2004.*
Das Umschulungsgeld ist aufgrund seiner systematischen Stellung im österreichischen Sozialrecht als Leistung bei Arbeitslosigkeit einzuordnen und ist daher nach denselben Regeln wie das Arbeitslosengeld zu koordinieren (Art 61 ff VO [EU] 883/2004).*
Der Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit ist nur bei Vormerkung bei der Arbeitsmarktverwaltung des Aufenthaltsstaats möglich. Leistungen bei Arbeitslosigkeit gem Art 64 Abs 1 lit c VO (EU) 883/2004 können nur maximal drei Monate aus dem leistungszuständigen Staat „mitgenommen“ werden. In Variante 1, also bei bereits bestehendem Wohnsitz in Ungarn, käme auch bei Gewährung des österreichischen Umschulungsgeldes nur diese Art der Leistung in Frage, trotz der Voraussetzung der dauernden Invalidität (sowie der Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation). Der Kl könnte zwar das österreichische Verfahren gewinnen, verliert aber aufgrund der Koordinierungsregeln voraussichtlich Ansprüche, da die ungarische Arbeitsmarktverwaltung bei längerer Leistungsgewährung nur an ihre eigenen Regeln gebunden ist und das Vorliegen der in Österreich „amtlich“ festgestellten Invalidität nicht berücksichtigen muss.
Selbst wenn diese Hürde zu überwinden wäre, kann in solchen Fällen den LeistungsbezieherInnen also ein nicht unwesentlicher Anspruchsverlust drohen.315
Geht man von der Verlegung des Wohnsitzes nach Ende des Verfahrens im laufenden Leistungsbezug aus (Variante 2), stellen sich andere Probleme. Das Gericht hat nur zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die österreichische Leistung vorliegen und ob diese gewährt werden kann und nicht, ob und welche persönlichen Dispositionen der Kl später treffen wird. Da das Verfahren nur die österreichische Leistung betrifft, können Fragen des Unionsrechts natürlich nur bei entsprechenden Sachverhaltselementen eingreifen; liegt im Sachverhalt zunächst keine Berührung mit dem Koordinationsrecht vor, können sie auch nicht in der Entscheidung berücksichtigt werden.
Das Gericht kann aufgrund der Feststellungen nicht ohne weiteres auf die Gewährung des Rehabilitationsgeldes ausweichen (etwa zur Vermeidung einer „Exportproblematik“, wenn die Verlegung des Wohnsitzes angekündigt wird). Es muss jedenfalls die Feststellungen gem § 367 Abs 4 ASVG nachholen und prüfen, ob die Voraussetzungen für eine berufliche Rehabilitation (§ 303 Abs 3 und 4 ASVG) und für den Bezug von Umschulungsgeld vorliegen.* Zu diesem Zweck wird in der Praxis das Verfahren unterbrochen und der PVA vom Gericht aufgetragen, die entsprechenden Maßnahmen einzuleiten. Die PVA weist den Kl dann dem sogenannten Berufsfindungsverfahren zu und teilt die Ergebnisse dem Gericht und dem Kl mit. Im fortgesetzten Verfahren ist dann zu erörtern, ob die gewählte Qualifikation und die dafür angebotene Umschulung zweckmäßig und zumutbar sind.
Im Berufsfindungsverfahren soll geklärt werden, in welchem „Berufsfeld“ eine Umschulung erfolgen kann und welche konkreten Maßnahmen zum Erreichen des Umschulungsziels eingeleitet werden müssen. § 367 Abs 4 ASVG verweist auf § 303 Abs 3 und 4 ASVG. Nach diesen Bestimmungen müssen die Maßnahmen „ausreichend und zweckmäßig
“ sein, „dürfen jedoch das Maß des Notwendigen nicht übersteigen
“ (Abs 3). Die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation müssen „zumutbar
“ sein (Abs 4); die Feststellung der Zumutbarkeit richtet sich nach der „physischen und psychischen Eignung
“ der Versicherten, „ihrer bisherigen Tätigkeit, sowie der Dauer und des Umfanges ihrer bisherigen Ausbildung (Qualifikationsniveau)
“ sowie nach Alter und Gesundheitszustand der Versicherten und der (voraussichtlichen) Dauer eines Pensionsbezuges. Eine Qualifikation auf ein geringeres Niveau als das der zuletzt überwiegend ausgeübten qualifizierten Tätigkeit ist – außer mit ausdrücklicher Zustimmung des/der Versicherten – nicht zulässig. Berufliche Rehabilitation, die auf ein niedrigeres Qualifikationsniveau als das der letzten berufsgeschützten Tätigkeit führt, ist jedenfalls ausgeschlossen.* Anders als im mit dem SRÄG 2012 aufgehobenen § 253e ASVG findet bei der Berufsfindung die „Neigung“ der Versicherten für eine bestimmte berufliche Tätigkeit keine Berücksichtigung mehr.* Nur, wenn die Versicherten an den Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation in einem ausreichenden zeitlichen Ausmaß teilnehmen und die entsprechende Bereitschaft zur Mitwirkung zeigen, erhalten sie auf Dauer das Umschulungsgeld. Dieser Mitwirkungspflicht haben die Träger auf ihrer Seite dadurch zu entsprechen, dass sie die entsprechenden Sachleistungen in Form von konkreten Maßnahmen zur Verfügung stellen.
Das Ergebnis des Berufsfindungsverfahrens nimmt de facto Feststellungen gem § 367 Abs 4 ASVG vorweg. Die dargestellten „Berufsfelder“ und damit das Ziel der zukünftigen Umschulungsmaßnahmen sollen einerseits an den Gesundheitszustand der Versicherten angepasst sein, dürfen also nicht zu einer Beeinträchtigung des dem Verfahren zugrunde liegenden medizinischen Leistungskalküls führen. Andererseits sollen sie aber so gestaltet sein, dass sie im Verhältnis zum Alter des/der Versicherten, zu seinen/ihren Aussichten auf dem (österreichischen) Arbeitsmarkt und zur erwarteten Dauer eines Pensionsbezugs ausreichend und zweckmäßig sind. Dabei ist aber auch zu beachten, dass die Beurteilung der Zweckmäßigkeit sich nicht allein darauf beziehen kann, welche Ausbildung bzw Umschulung der Träger bereit stellt oder unter angemessenem finanziellem Aufwand organisieren kann. Es sind hier auch die persönlichen Umstände der Versicherten einzubeziehen, etwa Betreuungspflichten oder die Entfernung des Ortes der Maßnahme vom Wohnort. Obwohl die „Neigung“ der Versicherten zu einer bestimmten Ausbildung kein normatives Kriterium mehr ist, wird sie im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung zumindest indirekt einfließen müssen.* Es erscheint zB nicht zumutbar (oder zweckmäßig), eine Person, die nur über ein geringes Zahlenverständnis verfügt, in einen Beruf umzuschulen, in dem sie auf Dauer Kalkulationen oder auf Zahlen basierte Planungen vornehmen muss. Man könnte auch die Auffassung vertreten, dass dies wahrscheinlich das „Maß des Notwendigen
“ (§ 303 Abs 3) übersteigen würde.316
Im skizzierten Sachverhalt (Variante 2) muss letztlich der zuständige Sozialversicherungsträger klären, ob die vom Gericht gewährte Leistung Umschulungsgeld auch an den später im EU-Ausland liegenden Wohnsitz des obsiegenden Kl exportiert werden muss. Aufgrund der engen systematischen Verbindung der Geld- und der Sachleistung muss in diesem Zusammenhang eine rechtliche Beurteilung erfolgen, ob und wie in solchen Fällen zugleich auch die Sicherung der Umschulungsmaßnahmen iSd § 303 Abs 4 ASVG erfolgen kann. Wie oben dargelegt, kommt ein Export der Sachleistung nicht in Frage. Es müsste also dem/der GrenzgängerIn ermöglicht werden, die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation im Inland wahrzunehmen. Hier stellt sich wieder die Frage der individuellen Zumutbarkeit: Kann es Versicherten zugemutet werden, zur Wahrung der Mitwirkungspflichten zwischen dem Wohnort und dem Ort der Rehabilitationsmaßnahme zu pendeln? Je nach Sachverhalt können sich ähnliche Fragen auch für die Zweckmäßigkeit von Umschulungsmaßnahmen stellen. Die Beurteilung der Zumutbarkeit wird zu einem nicht geringen Maß davon abhängen, welche finanziellen Mittel den Versicherten in diesen Fällen zur Verfügung stehen. Eine Gefährdung des eigenen oder des für Familienmitglieder notwendigen Unterhalts durch Fahrtkosten wird wohl als unzumutbar anzusehen sein. Es erscheint auch problematisch, ob Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation iSd § 39b AlVG von Trägern der AlV in anderen Mitgliedstaaten der EU erbracht werden könnten. Es ist fraglich, ob aktivierende Maßnahmen in einem anderen Mitgliedstaat den Kriterien des § 303 Abs 4 ASVG entsprechen können, da sich die berufliche Rehabilitation ja primär an den „Berufsfeldern“ iSd § 367 Abs 4 Z 3 ASVG orientie- ren sollte, für die es unter Umständen keine oder nur unzureichende Anknüpfungen im Wohnsitzstaat gibt.
Letztlich führt dies zu der sozialpolitisch problematischen rechtlichen Beurteilung, dass bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts der umfassenden Gewährung von Umschulungsgeld konkrete rechtliche Hindernisse entgegenstehen, deren Überwindung erhebliche Probleme aufwirft.317