Lohn- und Sozialdumping – Einige grundsätzliche Überlegungen

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)
Sozialdumping wird zunehmend zu einer sozialen Pest. Dumpingbekämpfung ist auf erfolgreiche Kartellierung angewiesen. Hier verfügt Österreich über ein konsistentes und dichtes, im internationalen Vergleich vorbildliches System der Verhinderung eines Unterbietungs- und Verdrängungswettbewerbs. Im Zuge der Internationalisierung der Arbeitsmärkte, des Vordringens atypischer Arbeitsformen und des wachsenden Drucks auf die Standards für „Gute Arbeit“ werden diese Schutzwälle aber zunehmend unterlaufen. Die Errichtung neuer Dämme erweist sich unter den geänderten ökonomischen Rahmenbedingungen und technischen Entwicklungen als sehr schwierig. Zu einem immer wichtigeren Feld von Antidumpingmaßnahmen wird die Unionsebene. Hier hat sich eine marktradikale Deutung von Sozialdumping durchgesetzt. Niedrigere Standards werden nicht mehr als Wettbewerbsverzerrung angesehen, die durch Angleichung nach oben zu beseitigen wären, sondern als ein erwünschter Beitrag zum Standortwettbewerb. Nationale Schutzgarantien und Arbeitskampfregelungen werden durch den EuGH dem Binnenmarktregime unterworfen. Seine Auslegung der Kartellausnahme für das Arbeitsrecht verhindert die Ausweitung arbeitsrechtlicher Schutzregelungen für arbeitnehmerähnliche Personen. Soll das Arbeitsrecht daher auf eine Wiedergewinnung nationaler Gestaltungsmöglichkeiten setzen? Oder hilft nur eine Verbesserung der sozialpolitischen Handlungsfähigkeit der Union?
  1. Ausgangslage

  2. Grundlagen einer Theorie des Dumping im Arbeitsrecht

    1. Das Arbeitsrecht als Antidumpingveranstaltung

    2. Dumping – ein Rechtsbegriff?

    3. Kartellierung als Antwort

  3. Österreichs vorbildliches Antidumpingsystem

    1. Gleichstellungsnormen

    2. Zwingendes Recht als klassische Kartellwirkung

    3. Absicherung von Kartellen durch „Zentralisierung“ der Regelungsebene

    4. Kollektivvertragsdispositives oder betriebsvereinbarungsdispositives Recht als Ausnahme

  4. Das klassische Antidumpingsystem erodiert

  5. Aktuelle Herausforderungen und Aufgaben für eine konsistente Antidumpingpolitik

    1. Wegbrechen kartellierungsfreundlicher Rahmenbedingungen

    2. Internationalisierung der Kapitalbewegungen und Standortkonkurrenz

    3. Atypische Arbeit

    4. Dumping ohne Referenzniveau

    5. Zwischenthese

  6. Unionsrechtliche Aspekte

    1. Einleitende Bemerkungen

    2. Wirtschaftsmodell der Union und Sozialdumping – negative statt positive Integration

    3. Harmonisierung im Wege des Fortschritts versus Wettbewerb der Standorte

    4. Harmonisierung von Arbeitsrecht als notwendige Reaktion auf Dumpingprozesse?

    5. Binnenmarkt, kollektive Autonomie und Sozialdumping

    6. Kartellverbot für arbeitnehmerähnliche Personen

  7. Schlussfolgerungen und Handlungsmöglichkeiten

    1. Handlungsmöglichkeiten auf Unionsebene

    2. Und Österreich?383

1.
Ausgangslage

Dieser Beitrag stellt sich der Aufgabe, das Phänomen des Lohn- und Sozialdumping aus juristischer Perspektive systematisch aufzuarbeiten. Die Thematik ist aktuell, brisant und äußerst umstritten. Der Begriff Dumping findet derzeit eine fast inflationäre Verwendung. Manches an der Diskussion ist plakativ, einiges auch etwas panisch. Einzelfälle dominieren die öffentliche Aufmerksamkeit: Deutsche Schlachthöfe drängen belgische vom Markt.* Im Transportgewerbe findet eine vernichtende Preis- und Entgeltunterbietung statt.* Ausländische Leiharbeiter gefährden die Standards der Inländer.* Alle 27 „deutschen“ Kreuzfahrtschiffe sind „ausgeflaggt“ und fahren etwa unter der Fahne von Malta, den Bahamas oder Bermudas. Der Stundenlohn der weniger qualifizierten AN (die deutschen wurden ausgewechselt) beträgt zB auf „Mein Schiff 2“ der TUI € 2,50.*

Dumping, so der Eindruck, ist eine soziale Pest geworden. Unbestritten ist das nicht: Für viele handelt es sich um einen gesunden und letztlich dem allgemeinen Wohl dienenden Wettbewerb, von dem die Konsumenten (Billigurlaube, Billigflüge, Billigfleisch) profitieren und bisher Chancenlosen am Arbeitsmarkt neue Perspektiven geboten werden.*

In Österreich zeichnen sich drei Diskussionsschwerpunkte ab: Die Frage der Verstärkung von Sanktionen gegenüber einem Vorenthalten des Entgelts (Stichwort LSDB-G), die Bekämpfung von Sozialdumping durch Entsendungen, allgemeiner durch die liberale Deutung der Dienstleistungsfreiheit und die seit längerem beobachtbare Vergrößerung des sogenannten Niedriglohnsektors. Neuerdings verstärkt sich auch wieder die Debatte um Dumpingwirkungen von Lohnsubventionen (1-EURO-Jobs). Diese Schwerpunktsetzungen sind wichtig, aber letztlich zu eng angelegt. Die Kontroll- und Vollzugsdefizite sind nur die Spitze des Eisbergs. Sozialdumping durch Entsendungen ist ein Randphänomen im Vergleich zB zu Dumpingeffekten beim Einsatz von atypischer Arbeit, der Nichtgeltendmachung von Ansprüchen außerhalb des Entgelts oder der Umgehung des Mitbestimmungsregimes der Betriebsverfassung durch Verhinderung von Betriebsratswahlen.* Das Dumpingproblem im Arbeitsrecht ist gewaltiger, breiter, tiefer und bedrohlicher als es in den vorrangig diskutierten Problemfeldern zum Ausdruck kommt.

Dumping ist zum Kampfbegriff geworden. Hört man den kritischen Stimmen zu, dann hat man den Eindruck, es gehe um fast alles, nämlich um nicht weniger als um die Rettung des Arbeitsrechts. Dabei wird oft nicht beachtet, dass es eines fundierten theoretischen Rahmens bedarf, um dem Phänomen in einer Weise beizukommen, die zum einen den Lebensnerv der Kapitalrenditen und Standortoptimierungszwänge nicht zerschneidet, andererseits aber eine Rückkehr zu einem halbwegs sozialverträglichen Kapitalismus ermöglicht. In dieser Kampfzone wäre eine Besinnung auf allgemein konsensfähige Ziele und Werte wohl hilfreich.

Man könnte diese mit dem etwas konturlosen, aber die Zielsetzung recht gut charakterisierenden Begriff des „Europäischen Sozialmodells“ umschreiben. Trotz einiger Unklarheiten am Gehalt dieses Begriffs ist er insofern brauchbar, als er grundlegende Ansprüche an die sozialen Qualitäten einer Rechtsordnung formuliert. Er ist etwa in Art 151 AEUV, in der Europäischen Sozialcharta, ansatzweise im Kapitel „Solidarität“ der GRC, in der unverbindlichen Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte 1989 oder auch in einem Dokument der Europäischen Kommission als Beitrag zur Tagung der Staats- und Regierungschefs 2005 umrissen.* Aus diesen normativ eher schwachen Ansätzen lässt sich letztlich doch so etwas wie ein Leitmodell destillieren, dessen Kernelemente angemessene Arbeitsbedingungen, Entwicklung im Wege des Fortschritts und Teilhabe der AN am Produktivitätsfortschritt sind.

Die hier beabsichtigte rechtssystematisch-funktionale Analyse von Dumpingprozessen bietet keine dogmatische Auslegungsarbeit. Dennoch geht es um eine unentbehrliche Aufgabe der Rechtswissenschaft: Es ist die Rechtsordnung, die das „Betriebssystem“ der Gesellschaft bereitstellt. In dieser Normenfabrik werden jene treibenden Kräfte generiert, aus denen sich dann Phänomene wie das Sozialdumping ergeben. Und hier sind auch die Lösungen zu entdecken, die über Symptombekämpfung hinausgehen. Erforderlich ist dafür ein gutes Verständnis des Ineinandergreifens und der Funktionsweise der maßgebenden steuernden Normen. Dumping ist, gemessen am europäischen Wertekanon eines domestizierten Kapitalismus „mit menschlichem Antlitz“, Ausdruck einer zweckverfehlenden Rechtsgestaltung. Wir bewegen uns auf eine Situation zu, in der die europäischen Staaten zu sozial- und arbeitspolitischen „failed states“ degenerieren könnten. Noch sind wir, jedenfalls in Österreich, Deutschland oder den skandinavischen Staaten, relativ weit davon entfernt, aber das Donnergrollen einer totalitären Herrschaft der Vertragsfreiheit in den Arbeitsbeziehungen ist bereits deutlich zu vernehmen. Ab einem gewissen Punkt384 der Talfahrt wird der Prozess, schon alleine wegen der Sogwirkungen der Standortkonkurrenz, irreversibel.

Soll man, was derzeit in Stein gemeißelt scheint, die Funktionsweise einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung respektieren, so geht es um eine Balance zwischen Dumpingbekämpfung und Wettbewerb. Dumping ist ja nur die hässliche Kehrseite von Wettbewerb und Marktprozessen. Natürlich ist das ein reformistischer Ansatz. Es steht hier aber nicht zur Debatte, über diesen engen Horizont hinauszudenken.

2.
Grundlagen einer Theorie des Dumping im Arbeitsrecht
2.1.
Das Arbeitsrecht als Antidumpingveranstaltung

Das gesamte Arbeitsrecht ist als Antidumpingveranstaltung zu begreifen. Die Bekämpfung von Dumpingentwicklungen ist Existenzgrundlage und maßgeblicher Grundpfeiler jedes entwickelten Arbeitsrechts. Das leuchtet nicht unmittelbar ein, wenn man nicht erkennt, dass das Arbeitsrecht einen doppelten Boden hat: Die eine Seite ist die Zuerkennung von Ansprüchen der AN, die andere Seite ist der Schutz des Normengefüges vor Dumpingwirkungen. Funktional geht es dabei um die Verhinderung einer Erosion des Arbeitsrechts insgesamt durch Marktprozesse oder Entscheidungen (auch kollektiver Akteure) in wirtschaftlicher Abhängigkeit, die eine Unterbietung des jeweiligen Schutzniveaus ermöglichen.

Arbeitsrechtliche Regelungen sind einer latenten Gefahr der Destabilisierung ausgesetzt, die aus der banalen Tatsache entsteht, dass das Arbeitsrecht den AG (erhebliche) Kosten, Regeln, Standards und Grenzen auferlegt, deren Vermeidung ein Wettbewerbsvorteil ist bzw den Profit erhöht. Antidumpingrechtliche Vorkehrungen bestehen darin, die Wirkungen des Wettbewerbs – zwischen AN um Arbeitsplätze, zwischen den AG um für sie vorteilhafte Entgelte und Arbeitsbedingungen – einzuschränken. Dumping ist ein Strukturmerkmal kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Eine Moralisierung von Dumpingstrategien der AG ist unangebracht. Dumping ist unter den gegebenen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, dh in einer Profitwirtschaft mit Wettbewerb und Akteuren, die ihren Nutzen maximieren wollen und müssen, eine Normalität, es ist Alltag, die ganz normale banale Nutzung wirtschaftlicher Vorteile. Die Nutznießer des Dumpings gehen nur ihren Geschäften nach. Der Begriff des „race to the bottom“* bezeichnet diese Gefahr wohl am treffendsten, nützlich sind auch die Stichworte „Verdrängungswettbewerb“ und „Unterbietungswettbewerb“.

2.2.
Dumping – ein Rechtsbegriff?

Dumping ist kein Rechtsbegriff, aber ein funktionales Phänomen im Recht, auf das sich viele Normen beziehen.* Dumpingprozesse sind Gegenstand einer Vielzahl von Regelungen, auch wenn der Begriff selbst dabei keine Verwendung findet. Es gibt keine allgemeine Definition von Dumping im Arbeitsrecht.* Im Welthandelsrecht versteht man darunter den Verkauf von Waren „unter Preis“, dh unter einem Referenzpreis. Diese Definition ist für das Arbeitsrecht ungeeignet. Die Materialien zum Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz (LSDB-G)* kennzeichnen das Lohn- und Sozialdumping als eine sozialpolitisch unerwünschte Erscheinung, die nicht nur AN das ihnen zustehende Entgelt vorenthält, sondern auch einen fairen Wettbewerb zwischen den Unternehmen untergräbt. Konsens herrscht darüber, dass Dumping ein Unterbietungswettbewerb ist. Es kann insofern als unfaires und wettbewerbsverzerrendes Verhalten angesehen werden, als bestehende Standards dadurch unterlaufen werden und in der Folge eine massive Sogwirkung auf andere AG und AN ausgelöst wird. Dumping ist nicht nur unsozial für jene, deren garantiertes Schutzniveau unterboten wird, sondern auch für alle anderen vergleichbaren Marktteilnehmer. Wenn von „Unterbieten“ gesprochen wird, erfordert dies ein „Referenzniveau“, das durch Dumping gefährdet wird. Die Frage ist, ob unter Dumping auch Vorgänge zu subsumieren sind, bei denen ein „Referenzniveau“ gar nicht besteht.* Dumping ist zumeist eben gerade nicht illegal. Illegales Dumping, wie es vom LSDB-G ins Visier genommen wird, ist bei der Bekämpfung vergleichsweise unkompliziert zu handhaben. Das eigentliche Problem sind die zahllosen und sich ausweitenden legalen Dumpingmöglichkeiten.

2.3.
Kartellierung als Antwort

Ein Unterbietungs- und Verdrängungswettbewerb kann durch Kartellierung der Arbeits- und Entgeltbedingungen unterbunden werden. Der Kernbegriff von Antidumpingregulierungen im Arbeitsrecht ist somit der des Kartells. Das ist nur scheinbar paradox, steht doch der Kartellbegriff gerade für eine verpönte Unterbindung von Wettbewerb. Kartelle werden normalerweise als negative Erscheinung aufgefasst, für das Arbeitsrecht ist das Kartell aber Funktionsgrundlage, Instrument, einen fairen Ausgleich der Interessen abzusichern. Das Arbeitsrecht lebt von einer möglichst breiten, tiefen und wirksamen Kartellierung. IdS ist es nur folgerichtig, wenn für den Bereich der abhängigen Lohnarbeit eine Ausnahme vom Kartellverbot besteht. Das gilt auch für das Unionsrecht.* Von Generalanwalt385Jacobs wird idS in den Schlussanträgen* in der Rs Albany* betont, dass die Teilnahme der AN an einem „Rennen abwärts“ verhindert werden soll und durch Tarifverträge das öffentliche Interesse gefördert wird.* Der EuGH hat sich dieser Sichtweise angeschlossen, indem er betont, dass mit Tarifverträgen zwischen Organisationen von AG und AN zwangsläufig den Wettbewerb beschränkende Wirkungen verbunden sind.* Die Erreichung der mit derartigen Verträgen angestrebten sozialpolitischen Ziele sei ernsthaft gefährdet, wenn für die Sozialpartner bei der gemeinsamen Suche nach Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen [das in] Art 85 Abs 1 EG (jetzt: Art 101 Abs 1 AEUV) geregelte Kartellverbot Geltung hätte.

3.
Österreichs vorbildliches Antidumpingsystem

Sehen wir uns nun am Beispiel des österreichischen Arbeitsrechts an, mit welchen Mitteln, Maßnahmen, Regelungstechniken etc Dumping verhindert wird. Generell lässt sich sagen, dass sich das österreichische Arbeitsrecht in herausragender Weise der Notwendigkeit von Kartellierung stellt, um sein hoch reguliertes System vor Erosionen durch Dumping abzusichern. Das betrifft insb auch den „Zentralisierungsaspekt“ (dh die Verhinderung von Dumping auf jeweils dezentralen Regelungsebenen) und nunmehr mit dem LSDB-G auch die Frage einer wirkungsvollen öffentlich-rechtlichen Absicherung der vorhandenen Entgeltniveaus. Man kann Österreich diesbezüglich fast als leuchtendes Beispiel ansehen. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die AG-Seite dem Interesse an gleichen Wettbewerbsbedingungen den Vorrang vor einem Sozialkostenwettbewerb zwischen den Unternehmen einräumt und Lohnkostenvorteile von „Außenseitern“ verhindern will.

An Hand des geltenden österreichischen arbeitsrechtlichen Antidumpingrechts lassen sich die verschiedenen Methoden der Bekämpfung von Sozialdumping entsprechend gut systematisieren.

3.1.
Gleichstellungsnormen

Für diesen Typus von Antidumpingregelungen sind etwa die folgenden Regelungen charakteristisch:

  • In § 2 Abs 2 AÜG wird ausdrücklich normiert, das Gesetz bezwecke, dass durch den Einsatz überlassener Arbeitskräfte für die AN im Beschäftigerbetrieb keine Beeinträchtigung der Lohn- und Arbeitsbedingungen und keine Gefährdung der Arbeitsplätze bewirkt werden darf.

  • Nach § 8 Abs 1 AuslBG ist die Beschäftigungsbewilligung mit der Auflage zu verbinden, dass der ausländische AN nicht zu schlechteren Lohn- und Arbeitsbedingungen beschäftigt wird als sie für die Mehrzahl der bezüglich der Leistung und Qualifikation vergleichbaren inländischen AN des Betriebes gelten.

  • Unbedingt sind hier auch die Antidumpingvorkehrungen der §§ 7 ff AVRAG zu nennen: Sie garantieren gegenüber ausländischen AG ohne Sitz in Österreich (§ 7), ausländischen AG ohne Sitz in einem EU- oder EWR-Mitgliedstaat (§ 7a) und gegenüber AG mit Sitz in einem EU- oder EWR-Mitgliedstaat (§ 7b) zwingend einen Anspruch zumindest auf das gesetzliche, durch Verordnung festgelegte oder kollektivvertragliche Entgelt, das am Arbeitsort vergleichbaren AN von vergleichbaren AG gebührt.

  • Auch die Regelung zur Teilzeitarbeit in § 19d Abs 6 AZG kann hier zugeordnet werden, ebenso wie zB das Verbot der geschlechtsspezifischen Entgeltdiskriminierung. Generell gilt, dass auch Gleichbehandlungsgebote einen Dumpingschutz vermitteln, insb weil gerade diskriminierungsanfällige Gruppen am Arbeitsmarkt gerne als „pflegeleichte“ Dumpingreserve herangezogen werden.

3.2.
Zwingendes Recht als klassische Kartellwirkung

Die bei weitem bedeutendste und umfassendste Kartellierungswirkung wird durch die (einseitig) zwingenden Wirkungen erzeugt, die praktisch allen arbeitsrechtlichen Normen zuerkannt wurde. Die wenigen dispositiven Normen, wie zB § 1155 ABGB, sind eine seltene Ausnahme geblieben. Zweck dieser Wirkung ist nicht nur ein Schutz für den einzelnen AN, sondern auch ein Schutz aller anderen jeweils Berechtigten vor einer unfairen Konkurrenzierung.

Systemwidrig ist, dass kein zwingender gesetzlicher Anspruch auf ein angemessenes Entgelt besteht, sondern die zwingende unterste Grenze bei Nichtvorhandensein von gesetzlichen oder durch Normen der kollektiven Rechtsgestaltung festgelegten Entgelten die Sittenwidrigkeitsgrenze ist. Das ermöglicht außerhalb zwingender Entgeltregelungen Dumpingspiralen.* Noch problematischer ist, dass eine Nichtgeltendmachung von Ansprüchen im Bereich des Arbeitsvertragsrechts mit den damit verbundenen Dumpingeffekten ohne weiteres möglich ist. Diesen Prozessen schiebt nunmehr das LSDB-G zumindest im Entgeltbereich einen Riegel vor.

Durchaus kartellierungsaffin ist die herrschende Auslegung zum Günstigkeitsvergleich, die sich streng am sozialpolitischen Schutzzweck orientiert und einer breiten Gruppenbildung in Zusammenhang mit dem gem § 3 Abs 2 ArbVG gebotenen Gruppenvergleich reserviert gegenübersteht.* Zu wenig Augenmerk wird mE der Durchführungspflicht bei Regelungen der kollektiven Rechtsgestaltung gewidmet. Hier wäre ein Ersatzinstrument nutzbar, um bei Dumping durch Nichtgeltendma-386chung von Ansprüchen die AG schuldrechtlich zur Einhaltung der kollektiv vereinbarten Schutzniveaus zu zwingen. Schließlich steht auch noch die Möglichkeit kollektiver Klagen zur Verfügung (vgl § 54 ASGG), um das Schutzniveau vor einem faktischen Dumping wegen „Abhängigkeit“ zur Geltung zu bringen.

3.3.
Absicherung von Kartellen durch „Zentralisierung“ der Regelungsebene

Die Dumpingproblematik weist insofern eine „vertikale Dimension“ auf, als Schutzniveaus auf den jeweils in der Hierarchie der arbeitsrechtlichen Rechtsquellen „unteren“ Ebenen unterlaufen werden können. Bei schwieriger Beschäftigungslage liegt es zB nahe, dass in Betrieben die Standards abgesenkt werden, um den Standort zu sichern. Eine zwingende branchenweite („zentralere“) Regelung kann dies verhindern. Die Frage der Regelungsebene steht für eine Kernanforderung an erfolgreiche Kartellierung.

Hinsichtlich dieser Problematik sind die Vorkehrungen im österreichischen Arbeitsrecht besonders stringent ausgestaltet. Damit werden Spannungsverhältnisse zur Koalitionsfreiheit eröffnet, schützt doch dieses Grundrecht auch Vereinigungen, die als kleine und uU dezentral agierende Interessenvertretungen Dumpingeffekte auslösen können. Ich würde meinen, dass hier das österreichische Recht wohl bis an die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen gegangen ist, vielleicht sogar darüber hinaus.*

Die im Rechtsvergleich ungewöhnlich starke Zentralisierung und die damit verbundene Breite der Kartellierung der österreichischen Arbeitsverfassung muss hier nicht näher dargestellt werden. Erwähnt seien nur die Kollektivvertragsfähigkeit gesetzlicher Interessenvertretungen mit Pflichtmitgliedschaft von AG, die Außenseiterwirkung, die hohen Hürden für die Erlangung der Kollektivvertragsfähigkeit (insb nach § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG), die Möglichkeit der Satzung von Kollektivverträgen und nicht zuletzt auch die restriktive Zuerkennung von Regelungskompetenzen der BV gerade im Bereich der dumpinganfälligen materiellen Arbeitsbedingungen, insb im Kernbereich der Entgelte. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die strenge Bindung von Flexibilisierungsmöglichkeiten im Arbeitszeitrecht an kollektivvertragliche Zulassungsnormen. Der BV kommen hier zumeist nur subsidiäre Befugnisse zu, auf arbeitsvertraglicher Ebene bestehen praktisch keine zulässigen Flexibilisierungsoptionen.

3.4.
Kollektivvertragsdispositives oder betriebsvereinbarungsdispositives Recht als Ausnahme

Diesem Leitprinzip der Zentralisierung entspricht es auch, dass es das österreichische Arbeitsrecht nur selten ermöglicht, gesetzliche oder kollektivvertragliche Standards des Arbeitsrechts dezentral aufzuweichen. Eine Ausnahme ist das DHG gegenüber dem KollV. Insb ist es nicht gestattet, bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten den gesetzlichen Schutz zu relativieren. Das Arbeitsruhegesetz etwa bindet die Ausnahmen von der Wochen-(end-) und der Feiertagsruhe ausschließlich an Gesetz oder VO. Die in § 12a gewährte Ausnahme ist ein systemwidriger Fehltritt, der sich seither nicht mehr wiederholt hat. Nach dieser Regelung kann der KollV Ausnahmen von der Wochenend- und Feiertagsruhe zulassen, wenn dies zur Verhinderung eines wirtschaftlichen Nachteils sowie zur Sicherung der Beschäftigung erforderlich ist. Das ist eine klassische Dumpingbefugnis, denn auf diese Weise können bei wirtschaftlichen Problemen Schutzniveaus abgesenkt werden, was die erwähnten Sogwirkungen nach sich ziehen kann.

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz wurde aber durch die Rsp geschaffen, die dispositive Kollektivvertragsnormen zulässt.* Hier haben sich die Judikatur und deren nicht gerade kleine Anhängerschaft nicht ausreichend mit den Dumpingwirkungen beschäftigt, die das ArbVG durch die ausdrückliche Beschränkung der Wirkungen des KollV auf einseitig oder zweiseitig zwingende vermeiden wollte.

Inkonsequent unter Dumpingaspekten sind auch einige Sichtweisen des Verzichts auf zwingende Ansprüche. Das Verzichtsverbot soll auch Standards generell absichern und dient auch der Absicherung der Kartellwirkung der zwingenden Normen. Die sogenannte Drucktheorie nimmt darauf nicht Bedacht und greift daher zu kurz.*

4.
Das klassische Antidumpingsystem erodiert

Neue und aggressivere Formen des Dumpings breiten sich seit der „marktradikal-hayekianischen“ Wende* geradezu seuchenartig aus. Im Zuge dieser Entwicklungen schlagen bisher wenig genutzte Lücken im System der Kartellierung des Arbeitsrechts breite Schneisen in dessen Schutzgewährleistungen. Im Folgenden wird die Frage gestellt, ob das geltende System an Antidumpingregelungen den neuen Entwicklungen gewachsen ist. Meine These ist, dass die jedenfalls in Österreich dichte und hochgradig zentralisierte Kartellordnung zunehmend erodiert, ausfranst und unterlaufen wird. Gleichzeitig scheinen Reformen, die diesem Trend Einhalt gebieten könnten, kaum mehr durchsetzbar.

Auf einen allgemeinen Nenner gebracht liegt dies daran, dass die Dumpingchancen der AG massiv gewachsen sind, fatalerweise vor dem Hintergrund eines verschärften Wettbewerbs und einer stärke-387ren Ausrichtung der Unternehmensentscheidungen an den kurzatmigen Anforderungen des Finanzkapitals, das die Nutzung von Dumpingmaßnahmen zum Zwecke der Renditemaximierung vehement einfordert. Das Grundmuster ist immer das gleiche, die Wege sind verschieden: Ausweichen ins arbeitsrechtlich billigere Ausland, etwa durch Produktionsverlagerungen, Verhinderung der Geltendmachung von Ansprüchen, Flucht aus teureren in billigere Kollektivverträge, Flucht in atypische Arbeitsverhältnisse oder Beschäftigungen, Verhinderung von Betriebsräten zur Vermeidung der Belastungen, die sich aus starken Mitbestimmungsrechten ergeben, Entsendungen, Leiharbeit, Verlagerung von Betriebsrisiken auf AN, illegale Beschäftigung, Nutzung von Kontrolldefiziten, Einsatz von Randgruppen, die einer unmäßigen Ausbeutung ihrer Arbeitskraft wehrlos gegenüberstehen,* Unterlaufen des Arbeitsrechts durch die Anforderung unbedingter Loyalität.

Das ist zumeist nur banale, alltägliche Geschäftspraxis. Die meisten dieser Möglichkeiten bestanden schon immer, nun aber werden durch Veränderungen der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, durch Internationalisierung und Globalisierung, durch neue Technologien, durch die Entstehung eines prekären Arbeitsmarktes, durch Nachlassen sozialer Absicherungen, die eine gewisse Stärke in der Verhandlungsposition der AN gewährleisten, durch neue Bewusstseinsformen weg vom überkommenen „Klassenbewusstsein“, im Zuge dessen durch Schwächung solidarischer Haltungen der AN, durch neue Betriebs- und Personalmanagement-Konzepte und die Auflösung von örtlichen und zeitlichen Strukturen, vor allem aber wegen der enorm gestiegenen geographischen Mobilität des Kapitals, schließlich auch durch eine marktradikal-hayekianisch ausgerichtete Wirtschaftspolitik* die Dumpingchancen massiv erweitert. Fazit ist, dass die Abhängigkeiten und damit die Vertragsimparität der AN erheblich gestiegen sind, gleichzeitig aber die Beweglichkeit des Kapitals mit der Möglichkeit eines Ausweichens in niedrigere Standards stark angewachsen ist. Technische Möglichkeiten und neue Unternehmensstrukturen ermöglichen eine weit effizientere Nutzung von Fluchtoptionen als früher. Parallel haben sich die ökonomischen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen für Kartellierungspolitik verschlechtert. Ein ohne Zweifel giftiger Cocktail für das Arbeitsrecht.

5.
Aktuelle Herausforderungen und Aufgaben für eine konsistente Antidumpingpolitik
5.1.
Wegbrechen kartellierungsfreundlicher Rahmenbedingungen

Die Dämme der arbeitsrechtlichen Kartellierung funktionieren nur unter bestimmten Rahmenbedingungen. Die Organisationen der AN haben schlechte Karten, wenn diese Rahmenbedingungen zerbrechen. Genau das ist heute der Fall. Antidumpingpolitik gegen die Folgen der Internationalisierung des Wettbewerbs, der zunehmenden atypischen Beschäftigung und gegen die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen durch neue Formen der intensiven und extensiven Nutzung der Arbeit findet keine geeigneten Rahmenbedingungen mehr vor. Solche wären starke Staatsfunktionen, finanzpolitische Spielräume, eine offensive Beschäftigungspolitik, sozialpolitische Vorkehrungen gegen den Druck am Arbeitsmarkt, paritätische Machtausübung für die kollektiven Akteure, supranationale Kartellierungen, eine transnationale Sozialpartnerschaft und transnationale kollektive Rechtsgestaltung, aber auch glaubwürdige Visionen und eine Stabilisierung von Solidaritätserwartungen. An alldem fehlt es zunehmend.

5.2.
Internationalisierung der Kapitalbewegungen und Standortkonkurrenz

Die internationale Flexibilität des Kapitals, allgemeiner die Internationalisierung der wirtschaftlichen Verflechtungen und die Entstehung eines Standortwettbewerbs, der nicht zuletzt auch auf politischen Entscheidungen zur Etablierung einer einseitig auf das Wirken von Marktkräften bauenden globalen und europäischen Wirtschaftsverfassung beruht, wirft mit aller Dramatik den Bedarf nach einer rechtlichen Kontrolle der Unterbietungsstrategien auf, vor allem jener, die unterschiedliche nationale Standards nutzen. Die Frage der Zentralisierung von kartellierenden Regelungen wird dadurch um eine Stufe (Europäische Union) oder zwei Stufen (globale Ebene) nach oben geschoben. Die Harmonisierung von Arbeitsrecht auf europäischer Ebene ist zur Beibehaltung des Europäischen Sozialmodells das rechtspolitisch logische Ziel, und zwar überall, wo sich Dumpingeffekte zeigen. Das müsste auch die Entgelte erfassen.*

5.3.
Atypische Arbeit

Die atypischen, in aller Regel „prekären“ Arbeitsformen sind arbeitsrechtlich nur zum Teil oder gar nicht erfasst. Die Angleichung der Schutzstandards bei atypischen Arbeitsverhältnissen würde die Anreize zur Beschäftigung mit solchen Arbeitsformen mindern. Die Kartellwirkungen müssten auf „arbeitnehmerähnliche Personen“, vielleicht sogar abhängige kleine Selbständige (Ein-Personen-Unternehmen [EPUs] ua), ausgeweitet werden. Die Bemühungen der EU um eine Erweiterung des AN-Begriffs sind gescheitert. Es ist nicht gelungen, nicht einmal für den Bereich der atypischen Arbeitsverhältnisse, die Dumpingeffekte, die durch schlecht geschützte Arbeitsformen entstehen, in388 den Griff zu bekommen. Die unionsrechtlichen Richtlinien (Teilzeit, Befristung, Leiharbeit) sind dazu kein ausreichend wirksamer Beitrag.

5.4.
Dumping ohne Referenzniveau

Weithin unbeachtet ist ein Dumpingtypus, der sich als besonders heimtückisch erweist. Die Raffinesse dieser Dumpingform besteht darin, dass ein Referenzniveau fehlt. Es stellt sich somit die Vorfrage, ob solche Entwicklungen überhaupt als Sozialdumping bezeichnet werden können. ME ist dies der Fall, weil sonst ein ganz wesentlicher Teil der beobachtbaren Abwärtsspiralen nicht erfasst werden kann. Untypisch ist, dass zum einen diese Prekarisierungen „legal“ sind, zum anderen nicht in einem „Unterbieten“ von (konkreten rechtlich verfestigten) Referenzniveaus bestehen. ME ist aber auch dann von Dumping zu sprechen, wenn es AG gelingt, hinsichtlich bestehender Leistungs- und Belastungsniveaus eine Entwicklung nach unten durchzusetzen. Ökonomisch ist die Folge ein höherer Ausbeutungsgrad der Arbeit, der die berüchtigten Sogwirkungen nach unten erzeugt.

Was ist damit konkret gemeint: Derzeit verschlechtern sich zumindest im Durchschnitt die Tauschrelationen zwischen Arbeit und Kapital. Steigende Leistungen und steigende Belastungen werden nicht mehr, wie es einem fairen Interessenausgleich entspräche, durch adäquate Entgelte abgegolten. Die AG vereinnahmen pro Zeiteinheit immer mehr, sie zahlen für diese Mehrleistungen und Mehrbelastungen aber nichts. Das bezahlte Entgelt wird damit zu einer Art All-inclusive-Entlohnung,* in der alle Zusatzleistungen (zB Kompetenzerwerb), Belastungen (zB Stress), Flexibilisierungsanforderungen (Bereitschaft zu einer umfassenden Verfügbarkeit in zeitlicher und örtlicher Hinsicht), Persönlichkeitseingriffe (umfassende Kontrollen), Gesundheitsrisiken (Burnout, Depressionen), Identifikationsleistungen (unternehmerisches Denken), Loyalitätsanforderungen (Einhaltung von Compliance-Regeln), Unsicherheiten (hire and fire), Qualifizierungsleistungen (Weiterbildung) nicht gesondert abgegolten sind. Neben der Arbeitskraft ieS werden auf diese Weise Zeit, Leben, Psyche, Gesundheit, Familienleben, Hoffnungen, Widerstandsgeist ua vom AG verbraucht, benutzt, aufgezehrt und einverleibt. Die „Freizeit“ wird zunehmend beeinträchtigt, durch Dauererreichbarkeit, flexible Arbeitszeiten, Unplanbarkeit der Lebensvorgänge, aber auch durch Auslaugung und Erschöpfung. Die AN geraten auf diese Weise zunehmend von Anbietern abgrenzbarer Leistungen in den Sumpf einer neofeudalistischen Arbeitswelt, in der sie mit „Haut und Haar“ und vor allem auch psychisch umfassend zur Verfügung stehen. Neue Personalmanagement-Methoden erfassen die Person des AN in toto: Haltungen, Motivationen, Identifikationen, Loyalitäten, Sinngebungen.

Gemessen am Stand der Produktivkräfte und der möglichen Steigerung der regulatorischen Systemintelligenz kann man diese Entwicklung nur fassungslos zur Kenntnis nehmen. Zieht man die Maßstäbe eines fairen Interessenausgleichs, einer Teilhabe an der Produktivität und angemessenen Arbeitsbedingungen als Referenzniveau heran, dann wird deutlich, dass es sich auch hier um einen Unterbietungswettlauf mit Sogwirkungen, in diesem Fall gegenüber den „angemessenen Niveaus“, handelt. Die Frage der Bekämpfung von Dumping wird hier zu einer Frage der vorhandenen Gestaltungspotenziale, wobei die jeweils „wirksamste“ Regelungsebene eine ausschlaggebende Rolle für arbeitspolitische Erfolge spielt. Hier geht es um die Fähigkeit der arbeitspolitischen Akteure, Kartellierungen erst einmal durchzusetzen und Standards, die dem Prinzip des fairen Interessenausgleichs entsprechen, zu etablieren und zu stabilisieren.

5.5.
Zwischenthese

Zusammenfassend ist für Österreich festzustellen, dass die „alte“ Kartellordnung in den soeben dargestellten Bereichen ausfranst und Dämme brechen, die einen „race to the bottom“ auslösen. Die Verbreiterung des Niedriglohnsektors, die Stagnation der Lohnentwicklung trotz steigender Produktivität, die Zugeständnisse der AN-Seite zur Vermeidung von Beschäftigungsrisiken, die zunehmende atypische Arbeit und die umfassende Verschlechterung von Indikatoren für „gute Arbeit“ belegen dies.* Es gibt daher einen massiven rechtspolitischen Anpassungsbedarf, um Kartellwirkungen zu verdichten, Lücken zu schließen und zwingende Mindestniveaus auf neue Regulierungsebenen zu verlagern.

6.
Unionsrechtliche Aspekte
6.1.
Einleitende Bemerkungen

Das größte Problem in Bezug auf Dumping im Arbeitsrecht ist die Internationalisierung der Ökonomie und die damit verbundenen Möglichkeiten einer Nutzung von Kosten-, Flexibilitäts- und Deregulierungsvorteilen. Das Problem gibt es aber mit oder ohne EU. Die Fixierung auf die Union ist ein Denkfehler. Im Zuge der immer intensiveren wirtschaftlichen Realintegration* müssen sich Staatsfunktionen und Regulierungsaufgaben iS einer optimalen Funktionsteilung zwischen Staat und Markt in einen höher gelagerten Rechtsraum verlagern, um auf diese Weise Ausweichstrategien der Unternehmen gegengewichtig zu kontern. Völkerrechtliche Koordinierung ist zu schwach, zum einen von den Wirkungen her, aber vor allem, weil die unangetastete Souveränität der Staaten zu Regelungen am kleinsten gemeinsamen Nenner führt. Nur staatsähnliche Strukturen iS von Supranationalität führen hier zum Ziel.389 Die EU hat dieser für die Entfaltung von Staatsfunktionen oder kollektiver Gegenmacht problematischen Konfiguration Facetten hinzugefügt, die grundsätzlich gegenläufig sind: Zum einen bietet sie Chancen für supranationale Regulierung und damit für die Bewältigung jener Probleme, für die der einzelne Staat nicht mehr die passende (optimale) Regelungsebene ist. Zum anderen hat die EU mit ihrer Wirtschaftsverfassung und insb mit den Grundfreiheiten die Dumpingmöglichkeiten massiv erweitert und die Handlungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten zur Bewältigung der daraus resultierenden Probleme (Lohnkostenwettlauf, Entsendungen, Steuerdumping, Erosion der Staatsfunktionen, Begrenzung des deficit-spending etc) erheblich eingeschränkt. Überdies verfolgt die EU wirtschaftspolitisch eine Austeritätspolitik wie aus dem Bilderbuch (Maastricht-Kriterien, Schuldenbremse, Fiskalpakt, Vorrang der Geldstabilität, Öffnung gegenüber den Weltmärkten usw). Regulierungen auf Unionsebene haben hohe Hürden zu nehmen, auch dort, wo eine qualifizierte Mehrheit genügt. Das ist nicht so sehr eine Frage der Kompetenzausstattung, sondern vor allem eine Frage der aktuellen Organisierung der Gesetzgebungsprozesse. Soziale Ziele kommen nicht zur Umsetzung, weil die Entscheidungsprozesse entlang nationaler Interessen organisiert sind. Der integrationspolitische Unsinn des Subsidiaritätsprinzips ist Gift für eine machtvolle demokratische Gesetzgebung zugunsten sozialer und ökologischer Ziele. Eine klassische Gegenmacht-Entfaltung durch Koalitionen, Kollektivverträge, Kampfaktionen etc ist in diesem heterogenen Rechtsraum fast unmöglich. Die notwendige Weiterentwicklung der Union zu einem handlungsfähigen Bundestaat ist durch das Einstimmigkeitsprinzip bei Vertragsänderungen de facto blockiert.

Die Union bietet somit optimale Rahmenbedingungen für Sozialdumping. Im Arbeitsrecht haben wir 28 Rechtsordnungen äußerst unterschiedlicher Niveaus. Nur kleine Bereiche des Arbeitsrechts sind unionsrechtlich harmonisiert. Massive Unterschiede bestehen nicht nur im materiellen Arbeitsrecht und hinsichtlich der Systeme der kollektiven Rechtsgestaltung und des Arbeitskampfes, sondern gerade auch bei den Löhnen und in Bezug auf die allgemeinen sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen für Kartellierung, nicht zuletzt aber auch bei den Philosophien betreffend die Stellung der Arbeit und die grundlegende Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen.

Die Problematik des arbeitsrechtlichen Dumpings begleitet die Union schon lange. Ihr Umgang damit bietet ein höchst instruktives Anschauungsmaterial dafür, wie unterschiedlich „Dumping“ gedeutet werden kann. Die Union hat sich von einer ursprünglich eher sozial geprägten Sicht von Dumping hin zu einer wirtschaftsliberalen, marktradikalen Deutung bewegt. Damit gefährdet sie massiv das, was man als „Europäisches Sozialmodell“ bezeichnet und damit ist die Frage auf der Tagesordnung, ob man nicht auf Renationalisierung und die Wiedergewinnung nationaler Handlungsspielräume setzen soll. Rechtsradikale Parteien treiben die ehedem gemäßigt integrationsfreundlichen sozialdemokratischen und christlich-sozialen Kräfte vor sich her.

Gegenmodell wäre eine EU-weite zentralisierte Kartellierung, verbunden mit einer Änderung der Grundausrichtung der europäischen Wirtschaftsverfassung. Diese Grundentscheidung hat für die AN in der Union eine geradezu schicksalhafte Bedeutung. Derzeit neigt sich die Stimmung bedenklich in Richtung von Desintegration – durch einen neuen „Sozial-Nationalismus“, der sich leider auch in Gewerkschaften breit macht, ebenso wie durch die Unfähigkeit, eine handlungsfähige Sozialunion zu schaffen.

Dumping ist europarechtlich nicht einheitlich definiert. Es gibt zwei völlig entgegengesetzte Deutungen, von denen keine rechtlich verbindlich ist. Die sozial freundlichere Auslegung hat an Boden aber massiv verloren.

6.2.
Wirtschaftsmodell der Union und Sozialdumping – negative statt positive Integration

Die Union ist derzeit Prototyp einer negativen („marktgetriebenen“) Integration. „Negative Integration“ heißt, dass den Deregulierungsmotoren des Binnenmarkts, der Subventionsverbote, der Kartellregeln und der Austeritätspolitik keine ausreichende Entfaltung von Staatsfunktionen, die sich in europäischer Gesetzgebung „positiv“ manifestieren, gegenübersteht. Das Gesamtmodell der „negativen Integration“* besteht aus Bestandteilen wie Binnenmarkt, Maastricht-Kriterien, Fiskalpakt, Währungsunion, Öffnung gegenüber den Weltmärkten, Kartellverbot, Subventionsverbot ua. Dadurch entsteht eine Art politikfreie Zone. Wesentliche Staatsfunktionen werden dadurch demontiert. Während der Binnenmarkt die Beweglichkeit des Kapitals beschleunigt hat und viele Politikfelder einem Standortwettbewerb ausgesetzt sind, fehlen die kompetenzrechtlichen, aber vor allem auch die institutionellen Voraussetzungen für eine europaweit wirksame Regulierung, zB des Steuerrechts, des Gesundheitsrechts oder des Umweltrechts. Der Nationalstaat ist in seinen Regulierungsmöglichkeiten geschwächt, die höhere Ebene, die auf Grund der realen Integrationsdichte „optimaler Regulator“ wäre, kann dieses Manko nicht kompensieren. Europaweite Kartellierung zur Bekämpfung eines Unterbietungswettbewerbs ist unter diesen Bedingungen äußert schwierig.

Die Binnenmarktfreiheiten eröffnen dem Kapital ein Paradies an Optionen, sich dem Zugriff von organisierter Gegenmacht der Arbeit zu entziehen. Im Wettlauf der Standorte ziehen damit viele AG Nutzen aus einem niedrigeren Niveau der arbeits- und sozialrechtlichen Standards. Einzelne Mitgliedstaaten profitieren von ihren niedrigen Standards und verhindern folgerichtig die erforderlichen Mehrheiten für eine Harmonisierung auf hohem390 Niveau. Zunehmend dürften auch die Unionsorgane der marktfixierten Deutung zuneigen, dass niedrige Standards schwachen Standorten im Wettbewerb helfen und insgesamt positiv zu bewerten sind. Die neuen Möglichkeiten der Ausbeutung der AN, wie atypische Arbeit, Überwachung und Flexibilisierung können sich damit relativ ungehindert entfalten. Nationalstaatliche Alleingänge bei Regulierungen bergen erhebliche Risiken für den betreffenden Wirtschaftsraum.

6.3.
Harmonisierung im Wege des Fortschritts versus Wettbewerb der Standorte

Mit dieser Entwicklung korrespondiert eine Wende in der Beurteilung des Arbeits- und Sozialdumpings durch die EU-Gesetzgebung. Die Binnenmarkt-Wirtschaftsverfassung entfesselt gezielt einen Wettbewerb der Standorte. Die „Theorie“ der optimalen Faktorallokation, die durch die Grundfreiheiten gewährleistet wird, soll die Produktionsfaktoren dorthin lenken, wo sie am effizientesten eingesetzt werden. Niedrigere Standards zu nutzen, ist gemäß dieser theoretischen Sichtweise und den Binnenmarktregeln eine Tugend und kein Missstand.

Konträr zu diesem Ansatz sieht Art 151 AEUV ein Modell vor, das die Union vor die Aufgabe stellt, Sozialdumping insb durch harmonisierende Richtlinien zu bekämpfen. Das ist auch unter Wettbewerbsgesichtspunkten gar nicht unlogisch, kann man doch Sozialdumping auch als unfaire Wettbewerbsverzerrung deuten. Art 151 nennt ausdrücklich die Ziele der Förderung der Beschäftigung und der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen. Als Instrumente der Erreichung dieser Ziele werden die in den Verträgen vorgesehenen Verfahren und die Angleichung ihrer Rechts- und Verwaltungsvorschriften genannt (Hervorhebung K. Firlei).

Nun ist dieser Art 151, der heute wie ein Überbleibsel aus einer fernen Epoche wirkt, hinsichtlich seiner juristischen Wirkungsmächtigkeit ziemlich schlapp und eher als Programmsatz denn als Verpflichtung anzusehen. Skizziert wird zwar ein „Modell“ bzw „Leitbild“, aber Umsetzungsmöglichkeiten, durchsetzbare Ansprüche oder Messlatten für das Handeln der Mitgliedstaaten oder der Unionsorgane stehen nicht zur Verfügung. Das wäre auch eine äußerst schwierige Aufgabe, die mE mit der heutigen Konstruktion eines so starken Gewichts der Nationalstaaten kaum verwirklichbar ist. Die Wettbewerbs- und Freiheitsverbürgungen (dh das rechtliche Fundament eines radikalisierten Kapitalismus) sind ja schon – eine schlimme List der Geschichte – geltender Rechtsbestand, während arbeitsrechtliche Regelungen einen politischen Konsens der Mitgliedstaaten erfordern. Somit unterscheidet sich die dünne Suppe von Art 151 AEUV signifikant von der bulligen, imperialen und giftigen Wirkungsweise der Binnenmarktfreiheiten.

Die Bestimmung des Art 151 ist aber nicht bedeutungslos. Sie könnte zumindest als Wegweiser anzusehen sein, wie die Frage des Dumpings unionsrechtlich zu beurteilen ist. Verstärkt würde eine solche Sichtweise durch andere Dokumente, auf die sich Art 151 AEUV ja explizit bezieht.* Die GRC ist allerdings nicht sehr hilfreich, doch auch sie hat eine soziale Union im Auge, die einen Ausgleich zwischen Markt und sozialer Regulierung gewährleistet. Damit kommt man aber definitiv nicht zu einer Verpflichtung der Unionsorgane, gegebenenfalls auch des Rates als dem Vollstrecker der nationalen Egoismen, eine positive Integration umzusetzen, wenn der Wettbewerb in Dumpingwirkungen ausartet. Dogmatisch meine ich aber mit aller Vorsicht, dass das in Art 1 Abs 3 EUV verankerte „Vertiefungsgebot“* angesichts der nunmehr fast perfekten Vollendung der marktliberalökonomischen Integration nur bedeuten kann, Harmonisierungen (durch eine politisch vertiefte) Union voranzutreiben.

6.4.
Harmonisierung von Arbeitsrecht als notwendige Reaktion auf Dumpingprozesse?

Hintergrund einiger wichtiger Richtlinien war es, ein einheitliches Schutzniveau im Wege des Fortschritts (unter Bezugnahme auf Art 151 AEUV und seine Vorgänger) durchzusetzen. Als Paradefall gilt dazu die Massenentlassungs-RL: Der deutschniederländische AKZO-Konzern wählte für die geplante Entlassung von mehr als 5.000 AN jene Standorte aus, in denen die Risiken und Kosten der Kündigung am geringsten waren. Reaktion darauf war die Überlegung, dass ein Schutzstandard im Bereich der Massenentlassungen nicht zum Wettbewerbsfaktor werden dürfe. Das führte dann zur Harmonisierung des Rechts der „Massenentlassung“ durch eine RL.

Auch bei anderen Richtlinien wurde in den Begründungserwägungen auf Art 151 AEUV (bzw die Vorgängerregelungen) Bezug genommen und auf das Ziel einer Entwicklung im Wege des Fortschritts verwiesen.* Man kann feststellen, dass in dieser Phase der Rechtsentwicklung der EU niedrige Standards als unerwünschte Wettbewerbsverzerrungen angesehen wurden und damit ein Harmonisierungsbedarf (damit ein Kartell) begründet wurde. Von der ursprünglich verfolgten Idee, durch Harmonisierung des Arbeitsrechts einen Unterbietungswettbewerb zu verhindern, hat sich die Union391 verabschiedet. Die der Binnenmarktphilosophie entsprechende Deutung von Dumping als einer Form erwünschten Wettbewerbs hat sich durchgesetzt. Diese Sichtweise stellt einen Wechsel von einer sozialstaatlich geprägten Deutung von Dumping zu einer paläoliberalen Deutung dar. Zum nächsten Schritt einer Verschärfung dieser Denkweise ist es dann nicht weit: Nationale Kartellierungsbemühungen stehen unter dem Verdacht von Wettbewerbsbeschränkungen, da sie ja Binnenmarktfreiheiten einschränken könnten und dann rechtfertigungsbedürftig sind. Die Verteidigung der Binnenmarkt-Mechanismen ist ein dogmatisch außerordentlich aufwendig durchargumentiertes Gedankengebäude des EuGH. Damit sitzt aber das Arbeitsrecht in der Falle: Seine Funktionalität wird oben wie unten in die Zange genommen. Die arbeitsrechtliche Politiklücke ist damit perfekt. Die Falle schnappt zu.

6.5.
Binnenmarkt, kollektive Autonomie und Sozialdumping

In diesem Abschnitt ist darzustellen, inwieweit durch die Rsp des EuGH die Kartellierungs-(Antidumping-)Möglichkeiten der Mitgliedstaaten eingeschränkt werden. An diesen Urteilen wurde massive Kritik geübt. Die Schlussfolgerungen aus der Kritik münden nicht selten in ein Plädoyer für eine Renationalisierung der Arbeits- und Sozialpolitik. Eine nähere Darstellung und dogmatische Kritik dieser Entscheidungen ist hier nicht erforderlich. Dazu gibt es eine überbordende Fülle an Literatur. Hier sollen vielmehr die bekannten Leitentscheidungen funktional in die Dumpingproblematik eingeordnet werden. Es überrascht nicht, wenn hier die Urteile Viking, Laval, Rüffert und Kommission gegen Luxemburg im Mittelpunkt stehen. Ich möchte daher kurz auf deren dumpingrelevante Essenz eingehen.

Die dumpingrechtliche Essenz der Entscheidungen Kommission gegen Luxemburg* und Rüffert* ist, dass gegenüber arbeitsrechtlichen Standards, die in den Mitgliedstaaten für dort niedergelassene AG gelten, bei Entsendungen die Dienstleistungsfreiheit nur eine eingeschränkte Anwendung des sogenannten Arbeitsort-Prinzips zulässt. In der Rs Rüffert wurde es für unzulässig gehalten, bei Ausschreibungen die Einhaltung des lokalen Tarifniveaus vorzuschreiben. Der Kompromiss der Entsende-RL, nur die Anordnung von gesetzlichen oder allgemeinverbindlich erklärten Entgelten zuzulassen, ist durch den EuGH primärrechtlich legitimiert. Allerdings: Wenn bei der Warenverkehrsfreiheit niedrigere Standards nicht als Wettbewerbsverzerrung und unzulässiges Sozialdumping anzusehen sind, dann ist es nur konsequent, Dumpingmöglichkeiten auch in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit zuzulassen und als erwünschtes Wettbewerbselement anzusehen. Insofern kann die Rsp des EuGH dogmatisch mE nicht schlüssig kritisiert werden.* Es zeigt sich daran schlicht der Vorrang der Grundfreiheiten vor den Zielen des Europäischen Sozialmodells (ESM). Eine solche Deutung der Dienstleistungsfreiheit fügt sich harmonisch in das strukturelle Gefüge der Binnenmarkfreiheiten ein. Das war auch vom EuGH zu respektieren.

Das Verbot, günstigere Bedingungen für die auf dem eigenen Territorium tätigen AN vorzusehen, erlaubt tatsächlich eine unmittelbare Lohnkonkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten. Das ist entgegen der daran vorgebrachten Kritik aber gerade keine fundamentale Wende. Es bestand zwar Konsens darüber, dass soziale Absicherungen im nationalen Rahmen zu gewährleisten sind und das Ziel des gemeinsamen Wirtschaftsraums eine Angleichung der Lebensstandards nach oben sein sollte, nur leider hat der europäische Gesetzgeber die sozialen Ziele eben nicht ausreichend wirkungsstark ausgestaltet.* Das Ergebnis ist nichts anderes als die rechtlich verfestigte Europapolitik gerade auch von Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen. Sie haben schlicht die Logik eines transnational agierenden Kapitalismus theoretisch nicht bewältigt. Dementsprechend nervig sind das ständige Jammern und das Abputzen beim EuGH.

Viking* und Laval* treffen die grundlegenden Autonomieansprüche der organisierten Arbeit ins Herz.* Diesen Urteilen fehlt es auch an dogmatischer Stringenz. Diese Autonomieansprüche sind essenzieller Bestandteil kollektivrechtlicher Kartellierung, die ohne Machteinsatz, also ohne die Option eines Arbeitskampfes zumindest im Hintergrund, nicht gelingen kann. Das machtpolitische Herz des Arbeitsrechts an den Binnenmarktfreiheiten zu messen, ist eine Wende von geradezu historischer Tragweite. Die Arbeit und die organisierten Aktionen der AN wurden bisher als ein Bereich verstanden, der in gewisser Weise außerhalb des Regelungszugriffs des „bürgerlichen Staates“ lag. Das ist auch ohne Rekurs auf Gerechtigkeitsvorstellungen, ich würde fast meinen „eigentumsrechtlich“, gut begründbar. Es geht hier primär nicht um politische Macht außerhalb demokratisch legitimierter Entscheidungsprozesse, sondern die kollektiven Aktionen der AN müssen funktional als Ausfluss einer (eigentumsähnlichen) freien Verfügungsmacht über die eigene Arbeitskraft angesehen werden. Schon deswegen ist diese Rsp gesellschafts- wie machtpolitisch ein absoluter Tabubruch. Zu erinnern ist an die beifallswerte Position des ÖGB, hinsichtlich des Arbeitskampfes keine staatlichen Regulierungen des Arbeitskampfrechts zu dulden. Auf dieser Linie liegt an sich auch die nach der Kompetenzverteilung in Art 153 Abs 5 AEUV und dessen Vorgängerbestimmungen bestehende Regelungssperre betreffend Arbeitskampfrecht und Koalitionsfreiheit. Zudem gewährleistet die EMRK, die auch für die Auslegung392 von Art 28 GRC maßgeblich ist (Art 52 Abs 3 GRC), den Arbeitskampf in einer doch sehr kraftvollen Weise, trotz der ebenfalls eher systemwidrigen Gesetzesvorbehalte.

Die (auch kampfweise) Organisierung zur Herstellung von Marktfähigkeit des Faktors Arbeit ist mithin als staatsfreie Zone anzusehen. Sie kann nicht an das Funktionieren von Kapitalverwertungsprozessen gebunden werden. Die Arbeitskampffreiheit ist äquivalent zu den freien Kapitalanlagemöglichkeiten und Standort- und Investitionsfreiheit der AG. Es ist nicht bekannt, dass Kapitaltransfers, Standortverlagerungen oder Investitionsstreiks Beschränkungen unterworfen werden. Nichts anderes kann mE für den Arbeitskampf und generell für kollektive Aktionen gelten. Die Bindung von Handlungsoptionen der organisierten Arbeit an die europäische Wirtschaftsverfassung ist so gesehen hart an der Grenze zu einem konterrevolutionären Akt.

Die Arbeitskampf-Entscheidungen des EuGH sind aber auch ieS juristisch falsch. Sie treffen den Kern prozeduraler Antidumpingstrategien und unterbinden die Herstellung von Parität zwischen Arbeit und Kapital, die nichts anderes ist als die Rekonstruktion von Vertragsfreiheit in einer der Ware Arbeitskraft gemäßen Form und die Respektierung der umfassenden Handlungsfreiheit der AN, mit ihrer Arbeitskraft zu verfügen, wie sie wollen. Mit diesen Entscheidungen hat der EuGH die unionsrechtliches Primärrecht bildende Regelungssperre im Arbeitskampf missachtet.

6.6.
Kartellverbot für arbeitnehmerähnliche Personen

Ähnlich brisant und von maßgeblicher macht- und regulierungspolitischer Bedeutung ist die Frage, ob Kartellierung im Bereich der arbeitnehmerähnlichen Personen unionsrechtlich zulässig ist. Wie dargelegt ist atypische Beschäftigung heute und künftig eine mächtige, ja für das Arbeitsrecht uU existenzgefährdende Dumpinggefahr. Es geht um die Frage der Reichweite der „labour exemption“ im Kartellrecht.

Noch in der Rs Albany hat der EuGH für arbeitsrechtliche Kollektivmaßnahmen eine Bereichsausnahme vom Kartellverbot zur Erreichung sozialpolitischer Ziele iSd Art 151 AEUV anerkannt. Mit arbeitsrechtlichen Regelungen seien nach Auffassung des Gerichts zwangsläufig den Wettbewerb beschränkende Wirkungen verbunden. Die Erreichung der mit solchen Verträgen angestrebten sozialpolitischen Ziele werde „ernsthaft gefährdet“, wenn die Sozialpartner bei der gemeinsamen Suche nach Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen Art 101 Abs 1 AEUV unterliegen. So weit so richtig.

In der Rs FNV Kunsten Informatie en Media* ging es um selbständige Aushilfsmusiker, für die ein Tarifvertrag galt. Nach dem EuGH sollen diese nur dann vom Anwendungsbereich des Art 101 Abs 1 AEUV (Kartellverbot) ausgenommen werden, wenn die Leistungserbringer „Scheinselbständige“ sind. Der EuGH hat die Aushilfsmusiker aber als Unternehmen iSd Art 101 Abs 1 AEUV angesehen, für die daher das Kartellverbot anzuwenden sei.*Grillberger hat diese E schlüssig kritisiert.* Es geht um die Kernfrage, inwieweit zur Abwehr von Sozialdumping für arbeitnehmerähnliche Personen ein Kartellregime (Kollektivverträge, Arbeitskampf, sonstige Vereinbarungen etc) errichtet werden kann.

In der Rs Albany* hat schon Generalanwalt Jacobs in anerkennenswerter Deutlichkeit mit der Dumpinggefahr argumentiert:* Eine Teilnahme der AN an einem „Rennen abwärts“ soll verhindert werden. Durch Tarifverträge werde daher das öffentliche Interesse gefördert. Diese Unterbietungs- und Verdrängungswirkungen sind wegen deren wirtschaftlicher Abhängigkeit auch bei arbeitnehmerähnlichen Personen zu befürchten. Daher muss die Kartellausnahme auch für arbeitnehmerähnliche Beschäftigte gelten.*

Die E des EuGH ist aus mehreren Gründen brandgefährlich. Sie schneidet nicht nur einen Personenkreis, der zu einer beliebten Zielgruppe von Sozialdumping geworden ist, von den Möglichkeiten kollektiver Vereinbarungen ab. Es stellt sich weiters die – in der deutschen Literatur umfassend diskutierte – Frage, ob die Kartellausnahme für kollektive Regelungen und Maßnahmen bei AN auch gilt, wenn die Regelungen oder Arbeitskämpfe nicht den „Kernbereich der Arbeits- und Entgeltbedingungen“ betreffen, sondern zB wirtschaftliche Entscheidungen.*

Im Anschluss an die Denkweise, die in diesem Urteil zum Ausdruck kommt, ist zu befürchten, dass der EuGH den gesamten Bereich der sozialen Kämpfe und daraus entstehender Vereinbarungen, in welcher Form immer, unter Kuratel der Wirtschaftsverfassung der Union stellt. Wie man sieht, sind Demokratie, Zivilgesellschaft und Sozialstaat durch die radikal-liberale Doktrin, die der EuGH aber nur exekutiert, massiv gefährdet.393

7.
Schlussfolgerungen und Handlungsmöglichkeiten
7.1.
Handlungsmöglichkeiten auf Unionsebene

Es hat sich gezeigt, dass die Union in Bezug auf gestaltende Potenziale, die auch Kartellierungsstrategien im Bereich der Arbeit umfassen, fehlerhaft konzipiert ist. Sie hat bewusst eine Abkehr vom regulatorischen Konzept einer „gemischten Wirtschaft“, eines starken „Tripartismus“ und einem Gleichgewicht von Arbeit und Kapital auf der Ebene kollektiver Rechtsgestaltung vollzogen, gleichzeitig aber die rechtspolitischen Möglichkeiten der Mitgliedstaaten rechtlich und de facto teilweise nicht unerheblich eingeschränkt und schließlich einen Wirtschaftsraum geschaffen, in dem die Kräfte der Vermarktlichung der Arbeit und der Prekarisierung traditioneller arbeitsrechtlicher Regulierung massiv gestärkt wurden.

Zur Frage der künftigen Handhabung des sich unionsweit ausbreitenden Sozialdumpings sind vier grundlegend unterschiedliche Positionen zu erkennen.

1. Die einer Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Dynamik. Sie führt längerfristig zu einer weitgehenden Zerstörung des „Europäischen Sozialmodells“ nach dem bisherigen Verständnis. Es handelt sich um die Restaurierung einer umfassend marktregulierten hochflexiblen Arbeitswelt. Vermutlich wird die „soziale Frage“ dann durch ein System von Mindestsicherungen oder Grundeinkommen auf niedrigem Niveau zu lösen sein.

2. Die Forderung nach einer Renationalisierung der Arbeitspolitik und einer Rücknahme von Bindungen nationalstaatlicher Schutzgarantien durch die Binnenmarktregeln. So vertritt etwa Höpner,* die oben dargestellten Urteile seien keine Fehlentscheidungen oder Anomalien, sondern ein weiterer Schritt der „Usurpation von Zuständigkeiten“.* Sie zielten auf Fortentwicklung der Integration, seien aber faktisch eine Kampfansage an die Existenz autonomer nationalstaatlicher Arbeits- und Sozialverfassungen, deren Regulierungsniveau über ein vom EuGH definiertes Mindestmaß hinausgeht. Er plädiert in der Folge für eine politisch überwachte und kontrollierte, die Autonomie der mitgliedstaatlichen Arbeits- und Sozialverfassungen schonenden Selbstzurückhaltung des EuGH vor Überinterpretationen der in den Römischen Verträgen von 1957 verankerten Marktfreiheiten und nimmt dezidiert gegen die Forderung nach der Verankerung sozialer Grundrechte in den europäischen Verträgen, verbunden mit einer Höhergewichtung gegenüber den europäischen Marktfreiheiten, Stellung. So wie auch bei Streek wird die Option einer Vertiefung hin zur Sozialunion verworfen.*

Das Problem daran ist, dass die Forderung nach Gestaltungsmacht für die nationalen Arbeitsrechtsordnungen die Dynamik internationalisierter Kapitalverwertungsstrategien und des sowieso vorhandenen Wettbewerbs der Staaten völlig unterschätzt. Nur auf EU-Ebene können dieser Dynamik Schranken gesetzt werden.

3. Ein wachsender Teil der kritischen Stimmen plädiert, ausgehend von der These, dass die „alten“ Instrumente der Aufrechterhaltung von sozialen Gewährleistungen nicht mehr funktionieren können, für ein völlig neues Modell von Arbeit und Wirtschaft. Es besteht etwa aus den Elementen eines bedingungslosen Grundeinkommens, einer Befreiung der Arbeit von „Arbeitszwängen“, einer Postwachstumsökonomie, einer weitgehenden Regionalisierung und der Herauslösung der Wirtschaft aus dem Netzwerken der Globalisierung und Internationalisierung. Damit würde der Abschied von einer Gesellschaft vollzogen, in der die Arbeit im Zentrum steht, wirtschaftlicher Fortschritt erwünscht ist und in der Tradition der Aufklärung eine demokratische Gesellschaftsgestaltung einschließlich einer Wirtschaftsdemokratie als Grundwert angestrebt wird.

Alle drei Ansätze bieten keine Lösung. Will man ein System der Lohnarbeit unter kapitalistischen Bedingungen aufrechterhalten, müssen die Funktionen des Arbeitsrechts in der bisher bewährten, regulationstheoretisch gut abgesicherten Weise aufrechterhalten werden. Daher sind arbeitsrechtliche Kartellierungen in hohem Ausmaß auf die unionsrechtliche Ebene zu verlagern. Erforderlich ist also das genaue Gegenteil einer Renationalisierung, nämlich eine politische Integration im Bereich des Arbeitsrechts und wohl auch des Sozialrechts.

Das erfordert einen weitreichenden Umbau der heute von den Mitgliedstaaten beherrschten Union in einen europäischen Bundesstaat, in dem auch Steuerpolitik, Beschäftigungspolitik und Sozialrecht harmonisiert sind. Die durch die Peitsche des Binnenmarkts angetriebene Marktdynamik wäre durch mächtige, intelligent eingesetzte Staatsfunktionen mit einer hohen langfristigen Planungskapazität zu ergänzen. Unvermeidbar wäre eine weitgehende Autonomie gegenüber dem sich abzeichnenden globalen Binnenmarkt. Ziel wäre das brillante und hochaktuelle Projekt einer Wirtschaftsdemokratie, in der AN, Konsumenten und andere Betroffene an der konkreten Gestaltung wirtschaftlicher Prozesse mitwirken. Ein solches Projekt ist auf nationaler Ebene nunmehr chancenlos. Renationalisierungen, die an einer Domestizierung der Binnenmarktfreiheiten anknüpfen, sind nicht dazu in der Lage, die Gesamtdynamik im Bereich der Arbeitswelt zu beeinflussen. Es handelt sich um einen defensiven Ansatz, der dem krakenartig-fluiden Charakter, der Hydra der heutigen Dumpingprozesse, nur wenig entgegensetzen kann.394

Die EU hat den „compromesso storico“ einer Synthese von Kapitalismus und einem starken Interventionsstaat, der über ein leistungsfähiges Korrekturpotenzial gegenüber den Ergebnissen der Marktprozesse verfügt, mit einem Verbot belegt. Diese Fehlentwicklung kann auf der Grundlage der derzeit geltenden Vertragsänderungsverfahren nicht beseitigt werden. Insofern fällt der Frage nach den künftigen Regeln für eine Änderung der Unionsverfassung eine zentrale Rolle zu.* Wer wenn nicht die europäische Arbeitnehmerschaft und die auf Sozialleistungen angewiesenen Bürger sollten dieses Projekt tragen und vorantreiben?

Dieses Projekt ist nüchtern betrachtet eine Herkulesaufgabe, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass visionäre Gegenentwürfe zum Bestehenden eine historische Chance haben. Denkbar sind vorerst aber auch einige Reformschritte, deren Durchsetzbarkeit im Falle einer gemeinsamen Option der AN-Organisationen gegen eine Renationalisierung und für eine Vertiefung der europäischen Arbeitspolitik auch kurzfristig Erfolg haben könnte: So etwa

  • die Einfügung einer sozialen Fortschrittsklausel in den EU-Vertrag,

  • eine koordinierte europäische Mindestlohnpolitik,

  • eine Ausdehnung des AN-Begriffs auf arbeitnehmerähnliche Personen und

  • eine allgemeine Rechtfertigungspflicht für den Einsatz von atypischer Arbeit (wobei Kostenelemente keine Rechtfertigung darstellen, sondern nur betriebliche und organisatorische Gründe).

  • Geringe Chancen hat wohl eine europäische Betriebsverfassung nach österreichischem oder deutschem Muster, die nicht nur transnationale Unternehmensaktivitäten erfasst.

7.2.
Und Österreich?

Österreich ist ein Spezialfall: Eine extrem hochregulierte Antidumpingordnung trifft auf die volle Wucht der Tendenzen in Richtung einer Auflösung der alten „fordistischen“ Arbeitswelt. Noch bestehen vergleichsweise gut entwickelte sozialpartnerschaftliche und tripartistische Strukturen. Sie reichen aber offenbar nicht mehr aus, um die Problematik der Internationalisierung des Dumpings, der Atypisierung der Beschäftigungsformen und der Angriffe auf „gute Arbeit“ durch neuen Exploitationsmethoden in den Betrieben zu bewältigen. Zu erwarten ist daher nicht mehr als ein „muddling through“, kleine Schritte, die aber die Abwärtsspiralen nicht stoppen können. Das LSDB-G war ein Meilenstein, trotz berechtigter Kritik an der Ausgestaltung im Einzelnen.* Ob das auf die Entsendungen abzielende Herzstück der §§ 7, 7a und 7b AVRAG unionsrechtlich hält, wird abzuwarten sein. Es mehren sich Stimmen, dass sich Österreich durch Deregulierungen auf den Dumpingwettbewerb einlassen soll. Zudem ist die Gefahr eines Abrutschens in Positionen der Renationalisierung der Arbeitspolitik unübersehbar. Wer aber das Projekt einer Sozialunion nicht weiterverfolgt, wirkt mit, einen desintegrierten Haufen europäischer Kleinstaaten schutzlos den zerstörerischen Kräften einer marktgetriebenen Globalisierung auszuliefern. Österreich war immer ein Vorreiter einer „zentralisierten Kartellierung“ der Arbeitsbeziehungen. Warum sollte dieses Konzept auf Unionsebene nicht weiterverfolgt werden?395