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Keine Ausgleichszulage für „Sozialtouristen“

MARTINATHOMASBERGER (WIEN)
§ 292 Abs 1 ASVG; Art 4 VO (EU) 883/2004; Art 7 und 24 RL 38/2004/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Unionsbürger-RL)
  1. Pensionisten mit Unionsbürgerschaft, die über keine ausreichenden Existenzmittel verfügen, haben keinen Anspruch auf Ausgleichszulage.

  2. Die Gerichte können die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts iSd § 292 Abs 1 ASVG unabhängig vom Vorliegen einer Anmeldebescheinigung überprüfen.

[...]

3. In den Entscheidungen des EuGH vom 19.9.2012, C-140, Brey (ECLI:EU:C:2013:565), vom 11.11.2014, C-333/13, Dano (ECLI:EUC:2014:2358), vom 15.9.2015, C-67/14, Alimanovic (ECLI:EU:C:2015:597) und vom 25.2.2016, García-Nieto ua (ECLI:EU:C:2016:114) ging es jeweils um die Frage, ob EU-Ausländern existenzsichernde Sozialleistungen unter gleichen Voraussetzungen wie Inländern zu gewähren sind. Der EuGH hat in diesen Entscheidungen ausgesprochen, dass die Einstufung einer Leistung als „Beitragsunabhängige Sonderleistung“ iSd Art 70 Abs 2 lit c der VO (EU) 883/2004 angesichts des unterschiedlichen Regelungszwecks der Rechtsakte nicht ausschließt, dass die Leistung gleichzeitig auch unter den Begriff der Sozialleistungen iSd Unionsbürger-RL 2004/38 fallen kann und deshalb auch Art 25 der Unionsbürger-RL zur Anwendung kommt [...]. Die Unionsbürger-RL erlaubt es dem Aufnahmemitgliedstaat, wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.

Diese Möglichkeit zur Einschränkung gilt auch für die österreichischen Ausgleichszulage (EuGHC-140/12, Brey [Rz 62]). [...]

5. [...] (D)er EuGH (räumt) mit der E in der Rs Dano dem Aufnahmemitgliedstaat die Möglichkeit ein, im Rahmen der Prüfung des Sozialleistungsanspruchs die Erfüllung der Voraussetzungen der Unionsbürger-RL zu prüfen und auf ihrer Grundlage den Sozialleistungsanspruch zu versagen, ohne dass es einer vorherigen Beendigung des Aufenthalts bedürfte [...]. Fraglich blieb, ob ein pauschaler Ausschluss von bestimmten Sozialleistungen möglich ist oder ob eine Einzelfallprüfung stattzufinden hat [...].

Dabei ist bemerkenswert, dass der EuGH in der Dano-E von der Pflicht der Mitgliedstaaten, eine mögliche Belastung ihrer Sozialsysteme insgesamt zu prüfen [...], abgegangen ist und unter Bedachtnahme auf Erwägungsgrund 19 der Unionsbürger-RL vom wandernden Unionsbürger fordert, die Sozialsysteme des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen zu belasten (EuGHC-333/13, Dano [Rz 71]). Damit schwenkt der EuGH zu einer konkreten Prüfung der wirtschaftlichen Situation des einzelnen Betroffenen um [...].

In der darauf folgenden E in der Rs EuGHC-67/14, Alimanovic, ging der EuGH noch einen weiteren Schritt weiter: In Fallgestaltungen wie in der zu entscheidenden sei eine individuelle Prüfung gar nicht erforderlich, weil das in der Unionsbürger-RL vorgesehene abgestufte System selbst verschiedene Faktoren berücksichtigt, die ihrerseits die persönlichen Umstände der antragstellenden Person widerspiegeln. [...] Diese Linie wird im Urteil in der Rs C-299/14, Garcá-Nieto ua, das die Frage der Rechtmäßigkeit des Ausschlusses von Unionsbürgern von Leistungen nach SGB II für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts betrifft, explizit bestätigt. Sowohl in der Alimanovic-E als auch in der García-Nieto-E wird die in der Brey-E geforderte443 Rücksichtnahme auf die Belastung der Sozialsysteme ausdrücklich abgelehnt.

6. Im Ergebnis können EU-Bürger, die nicht erwerbstätig sind und nur zum Zweck eines Leistungsbezugs mobil sind, auf der Grundlage von Unionsrecht keine Ansprüche auf Sozialleistungen wie die Ausgleichszulage geltend machen [...].

7. Selbst eine Prüfung der besonderen Situation des Kl würde zu keinem anderen Schluss führen: [...] (Der) Kl (fällt) eindeutig in die Kategorie der Armutszuwanderung; ein Aufenthalt in Österreich ist nur denkbar, wenn er aus öffentlichen Kassen unterstützt wird. Ein Bezug zu einer Erwerbstätigkeit in Österreich fehlt.

8. Da sich eine Anmeldebescheinigung nur auf das Aufenthaltsrecht bezieht, hat ihre (im Übrigen nur deklarativ wirkende) Ausstellung keine Auswirkung auf den Sozialleistungsanspruch [...].

ANMERKUNG

Der OGH geht in dieser E von seiner bisherigen Rsp ab und spricht aus, dass ökonomisch inaktive EU-BürgerInnen, die ohne ausreichende Existenzsicherung nach Österreich zuwandern („Sozialtouristen“), keinen Anspruch auf die Ausgleichszulage haben. Im Sachverhalt ging es um einen pensionierten rumänischen Staatsbürger mit erheblichen Gesundheitsproblemen, der gemäß den Feststellungen wegen der besseren Gesundheitsleistungen zu einer bereits in Österreich lebenden Verwandten gezogen war. In der etwas späteren E vom 19.7.2016, 10 ObS 31/16f, bestätigte der OGH die neue Judikaturlinie im Fall einer pensionierten bulgarischen Staatsbürgerin, die zu ihrer engeren Familie nach Österreich gezogen ist.

In der Rs Brey (EuGHC-140/12, ECLI:EU:C:2013:565), die dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde, hatte dieser ua entschieden, dass der Aufenthaltsstatus sowie die generelle Belastung der Sozialsysteme durch Sozial(hilfe)leistungen für ökonomisch inaktive EU-BürgerInnen für die Frage zu berücksichtigen sind, ob eine „unangemessene Inanspruchnahme“ der Sozialsysteme des Aufnahmemitgliedstaates iSd Art 7 und des Erwägungsgrunds 10 der RL 2004/38/EG über das Recht der UnionsbürgerInnen und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Unionsbürger-RL), vorliegt.

In der Folgeentscheidung vom 17.12.2013, 10 ObS 152/13w, hatte der OGH daraufhin ausgesprochen, dass es vom (formellen) Aufenthaltsstatus von EU-BürgerInnen im Aufnahmemitgliedstaat abhängt, ob ihnen Sozialleistungen gewährt werden müssen, die der Lebenssicherung dienen. Solange die zuständigen Aufenthaltsbehörden über keine Entziehung des Aufenthaltstitels verfügen, ist der Aufenthalt als rechtmäßig anzusehen und daher die Sozialleistung weiter zu gewähren.

Diese Judikaturlinie lehnte sich eng an die Rs Brey an. Der EuGH hatte ua argumentiert, dass die Prüfung eines Anspruchs auf eine Leistung der Sozialhilfe iSd Art 7 Unionsbürger-RL auch berücksichtigen müsse, ob die Belastung des gesamten Sozialsystems von Aufnahmemitgliedstaaten durch die Gewährung solcher Leistungen „unangemessen“ belastet würde, ließ hier aber erkennen, dass die Bestandsfestigkeit des Gesamtsystems der wesentliche Gesichtspunkt sein solle.

Die Fälle der Zuwanderung von ökonomisch inaktiven EU-BürgerInnen, die ohne finanzielle Absicherung oder mit sehr geringen Pensionsansprüchen in andere Mitgliedstaaten zuwandern, haben in ganz Europa erhebliche politische und juristische Aufmerksamkeit ausgelöst. In Österreich wurde vor allem im Anschluss an die EuGH-E in der Rs Brey intensiv darüber diskutiert, ob EU-PensionistInnen mit kleinen Renten aus dem EU-Ausland die Ausgleichszulage zustehen soll. Es mag auch diesen politischen Debatten zu verdanken sein, dass der EuGH in den Folgeentscheidungen zum Urteil in der Rs Brey den Schwerpunkt seiner Argumentation weg von einer gesamthaften Betrachtung von Belastungen in nationalen Sozialsystemen (Rn 72, 72) zu einer individuellen Beurteilung der „Unangemessenheit“ von Ansprüchen auf soziale Unterstützung durch EU-BürgerInnen gelenkt hat.

Der EuGH setzte sich in den drei Nachfolgeentscheidungen zur Rs Brey, C-67/14, Dano (ECLI:EUC:2014:2358), C-67/14, Alimanovic (ECLI:EU:C:2015:597) und C-299/14, García-Nieto ua (ECLI:EU:C:2016:114), damit auseinander, wie der rechtmäßige Aufenthalt von UnionsbürgerInnen und der Begriff der Sozialhilfeleistungen iSd Art 7 Abs 1 lit c Unionsbürger-RL 2004/38/EG sich grundsätzlich zur Sozialrechtskoordinierung und im Besonderen zu den beitragsunabhängigen Sonderleistungen iSd Art 70 VO (EU) 883/2004 verhalten. Die neue, von der Rs Brey erheblich abweichende Rsp des EuGH legt im Ergebnis fest, dass beitragsunabhängige Sonderleistungen wie die Ausgleichszulage (vgl Rs Skalka, C-160/02, ECLI:EU:C:2004:269) zugleich Sozialhilfeleistungen iSd Art 7 Unionsbürger-RL sein können (Rs Brey, Rn 61und Rs Dano, Rn 63). Leistungen der Sozialhilfe können ökonomisch inaktiven EU-Zuwanderern („Sozialtouristen“) verweigert werden, wenn sie die Sozialsysteme des Aufnahmemitgliedstaats iSd Erwägungsgrundes 10 Unionsbürger-RL „unangemessen“ in Anspruch nehmen (Rs Dano, Rn 74) und gibt Hinweise, wie die nationalen Gerichte diese „Unangemessenheit“ auslegen sollten. Der EuGH entwickelte in den Folgeentscheidungen zur Rs Brey den Begriff der „unangemessenen Inanspruchnahme“ auf der individuellen Ebene der „Sozialtouristen“ weiter und kam unter Anwendung des Erwägungsgrundes 10 der Unionsbürger-RL 2004/38/EG zum Ergebnis, dass bei einer konkreten Prüfung von individuellen Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt iSd Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL jedenfalls auch darauf Bedacht zu nehmen ist, ob „Sozialtouristen“ über ausreichende Mittel für ihren Lebensunterhalt verfügen. Trifft dies nicht zu, kann das Aufenthaltsrecht von EU-BürgerInnen beschränkt oder aufgehoben werden. Unangemessenheit der Inanspruchnahme ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass die für den Lebensunterhalt ausreichenden Mittel iSd444 Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL nur mit Hilfe der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaates erreicht werden können (Rs Dano, Rn 71 bis 75). Mitgliedstaaten können auch durch die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote nicht dazu verpflichtet werden, ökonomisch inaktiven UnionsbürgerInnen durch Sozialhilfeleistungen zu den Mitteln für ihren ausreichenden Lebensunterhalt zu verhelfen (Rs Dano, Rn 65). Dies stellt keine Benachteiligung von UnionsbürgerInnen gegenüber Staatsangehörigen des Aufnahmestaates dar.

Das Verhältnis zwischen den Koordinierungsregeln der VO (EU) 883/2004 und den aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen der Unionsbürger-RL ist komplex und wurde durch die neue EuGH-Judikatur nicht einfacher. Erstaunlich ist, dass der EuGH zumindest implizit davon ausgehen dürfte, dass die Unionsbürger-RL Anwendungsvorrang vor der Koordinierungs-VO (EU) 883/2004 hat (Peyrl, Die Auswirkungen der Urteile des EuGH in den Rs Brey und Dano auf die österreichische Rechtslage, DRdA 2015, 310 mwN).

Der EuGH hält auch weiter an dieser Judikaturlinie fest. In der EuGH-E vom 14.6.2016, C-308/16, Kommission gegen Vereinigtes Königreich, lehnte er den Antrag der Kommission auf Feststellung einer Vertragsverletzung durch das Vereinigte Königreich durch Rechtsvorschriften ab, die für den Bezug einer Familienleistung in Form einer Steuergutschrift durch nicht erwerbstätige UnionsbürgerInnen das Recht auf Aufenthalt voraussetzen und sah diese als mit dem Unionsrecht vereinbar an. Die Kommission hatte geltend gemacht, dass die britischen Behörden bei der Prüfung des Anspruchs auf eine Familienleistung iSd Art 3 Abs 1 lit j VO (EU) 883/2004 in unzulässiger Weise auf den rechtmäßigen Aufenthalt abstellten, obwohl nur der gewöhnliche Aufenthaltsort zu prüfen gewesen sei; durch diese Vorgangsweise seien EU-BürgerInnen benachteiligt worden, da diese Maßnahme EU-BürgerInnen aus anderen Mitgliedstaaten in besonderer Weise und stärker benachteiligen würde als britische StaatsbürgerInnen. Der EuGH hielt daran fest, dass auch die genannten Leistungen als Familienleistungen unter die Sozialrechtskoordinierung der VO (EU) 883/2004 fallen. Auf der Grundlage der Unionsbürger-RL dürfen Mitgliedstaaten aber auch bei diesen Leistungen prüfen, ob die Voraussetzungen für den rechtmäßigen Aufenthalt erfüllt sind, solange sichergestellt ist, dass dies nicht bei jedem Antrag geschieht, sondern nur bei begründeten Zweifeln. Bei dieser Prüfung kann auf die in den Rs Dano, Alimanovic und García Nieto entwickelte Auslegung zurückgegriffen werden. Es ist ein legitimes Ziel, die Stabilität und Sicherheit der öffentlichen Finanzen zu sichern, und die gewählten Mittel gehen nicht über das erforderliche Maß hinaus (Berger/Pelzl in ÖJZ 14-16/2016, 701).

Die Frage, ob und wie Mitgliedstaaten der EU im Rahmen des Unionsrechts mit dem Phänomen der „Armutszuwanderung“ umgehen dürfen, ist damit entschieden, wenn auch stark abweichend von vorherigen Judikaturlinien des EuGH. Der EuGH hatte in füheren Entscheidungen (beginnend mit C-85/96, Martínez Sala) das Recht auf Gleichbehandlung von UnionsbürgerInnen und Staatsangehörigen der Aufnahmemitgliedstaaten unmittelbar mit der Unionsbürgerschaft begründet und zB in C-184/99, Grzelczyk, UnionsbürgerInnen, die im Verlauf eines Studiums im Aufnahmemitgliedsstaat sozialhilfebedürftig werden, trotzdem Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe gewährt – die Sozialhilfebedürftigkeit wurde hier nicht als ausreichender Grund für die Beendigung des zuvor erworbenen rechtmäßigen Aufenthalts angesehen, obwohl der Kl nicht (mehr) über ausreichende Mittel für den Lebensunterhalt verfügte. In C-20/96, Petrie, hielt der EuGH auch fest, dass Art 39 EG (jetzt: Art 45 AEUV) neben der Funktion als spezielle Ausprägung des Diskriminierungsverbots auch den Zweck hat, Benachteiligungen von UnionsbürgerInnen bei der Ausübung der Freizügigkeit zu verhindern. Art 45 (bzw Art 39 EG) diente damit in der Rsp des EuGH als Grundlage für unmittelbare Rechte, sekundärrechtliche Bestimmungen waren in der Folge „häufig nur noch relevant ..., soweit sie über das Primärrecht hinausgehen“ (Langer in

Fuchs
[Hrsg], Europäisches Sozialrecht5, Teil 1 Vorbem zu Art 45, 48, Rz 6). Der EuGH ist in den Rs Dano, Alimanovic und García Nieto sowie in der E Kommission gegen Vereinigtes Königreich für einen Teil der UnionsbürgerInnen, nämlich für alle, die als „ökonomisch inaktive Zuwanderer“ angesehen werden, von diesen Grundsätzen abgegangen. Die primärrechtlichen Garantien der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit gelten in vollem Umfang nur für UnionsbürgerInnen, die es schaffen, jenes Ausmaß an „wirtschaftlicher Aktivität“ zu erreichen, das ihren Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat nicht zu einer unangemessenen Belastung der Sozialsysteme macht. Dies führt zu einer Zwei-Klassen-Unionsbürgerschaft, die es Mitgliedstaaten ermöglicht, ihre Sozialhilfeleistungen Zuwanderern vorzuenthalten, die – auch aus Gründen sozialer Inklusion – besonders darauf angewiesen wären.445