Glanninger(Hrsg)Unaufhaltsam geht es vorwärts! Texte aus der Frühzeit der Arbeiterbewegung
Edition MoKKa, Wien 2014, 350 Seiten, broschiert, € 22,50
Glanninger(Hrsg)Unaufhaltsam geht es vorwärts! Texte aus der Frühzeit der Arbeiterbewegung
Am 5.10.1886 brachten die liberalen Abgeordneten Plener, Exner und Wrabetz einen Antrag auf Errichtung von Arbeiterkammern in den Reichsrat ein, was in der Folge zu heftigen Diskussionen in Arbeiterversammlungen führte. Auch Victor Adler, der spätere „Einigungsvater“ der Sozialdemokratie, nahm dazu Stellung und demaskierte die vorgesehene Gesetzesmaterie als „Linsengericht“. Die Arbeiterklasse wünsche sich Arbeiterkammern – führte Adler in einer späteren Rede aus –, jedoch solche, die keine „Scheininstitutionen“ seien, die AN werden deshalb keinesfalls ihre berechtigten Ansprüche auf ein volles „Maß von politischen Rechten“ aufgeben.
Der Herausgeber des vorliegenden Bandes stellt einen Artikel, in dem sich Adler kritisch mit der Haltung der tschechischen Sozialdemokraten zur „Arbeiterkammerfrage“ auseinandersetzt, weitgehend unkommentiert an den Beginn der vorliegenden Sammlung von zentraler Veröffentlichungen Victor Adlers. Infolge der fehlendenden Kommentierung erfährt man zB nichts über die historisch bedeutsame spätere Resolution über die Arbeiterkammern vom Hainfelder Parteitag oder über die „Arbeiterkammerenquete“ des Reichsrates 1889, womit der Erkenntniswert des Reprints geschmälert wird.
Ebenso unkommentiert wie dieser Artikel sind auch die folgenden in dem Bändchen abgedruckten Veröffentlichungen Victor Adlers aus der Zeit 1887 bis 1915, die überwiegend aus der „Gleichheit“ und der „Arbeiter-Zeitung“ stammen. Der Herausgeber versammelt in dem Band für die Geschichte und das Verständnis der österreichischen Sozialdemokratie so ganz entscheidende Aufsätze von Victor Adler, wie etwa jene – immer wieder nachgefragten – über die soziale Lage der Baumwollarbeiter, über die Ziegelarbeiter vom Wienerberg, den Streik der Wiener Tramwaykutscher, den unter der Arbeiterschaft weit verbreiteten Alkoholismus, den Ausnahmezustand oder über die Haltung der österreichischen, deutschen und französischen Sozialdemokratie zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Doch leider erschließt sich für den/die unbedarfte/n, in der Historie wenig bewanderte/n LeserIn dieser eindrucksvollen Dokumente kaum die Intention, die politische Zielsetzung und die Vor- und Nachgeschichte. Schmerzlich vermisst der/die LeserIn eine aufschlussreiche Kommentierung sowohl in den wenigen Anmerkungen (in welchen nur Fremdwörter übersetzt oder Namen genannt werden) wie auch in der allzu knappen Einleitung des Herausgebers. Nachdem Victor Adler in seinen Artikeln jeweils ganz konkret auf die politische Situation, auf einzelne Maßnahmen der Regierung, auf den Diskurs der Bourgeoise und innerhalb der Arbeiterbewegung Bezug nimmt, bleibt das lohnenswerte Unterfangen des Herausgebers ein Torso. Darin sehe ich den großen Nachteil dieser (zugegeben) einzigartigen Auswahl zentraler und lesenswerter Veröffentlichungen Victor Adlers.
Victor Adler schreibt in einem 1898 erschienenen Rückblick auf die Geschichte der Arbeiterbewegung („Vor zehn Jahren“, im Band auf den S 253-267 abgedruckt) die auch heute noch aktuellen und auch mahnenden Worte: „Die Erkenntnis der Vergangenheit lehrt uns die Gegenwart verstehen, das gilt auch für die Parteigeschichte, und aus dem Verständnis lässt sich manche Hoffnung, vielleicht auch Warnung gewinnen.
“ In diesem Sinne kann die Textsammlung – allerdings leider nur mit den genannten Einschränkungen und für historisch Interessierte – durchaus als „spannende Lektüre“ empfohlen werden.